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Sebastian Ingenhoff

Roman


Sebastian Ingenhoff, Jahrgang 1978, hat als Kulturjournalist gearbeitet und für Zeitschriften wie Intro, Spex, Groove und das Missy Magazin geschrieben. Zudem ist er Mitbetreiber des Kölner Labels baumusik und eine Hälfte des Elektronikduos Camp Inc. Im Ventil Verlag hat Sebastian Ingenhoff 2006 den Kurzroman »Rubikon« veröffentlicht.

1. Auflage Mai 2021

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2021

Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher

Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95575-144-9

eISBN 978-3-95575-614-7

Covermotiv: Katharina Schmidt

Satz: Oliver Schmitt

Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

All that I wanted from you was to give me

Something that I never had

Something that you’ve never seen

Something that you’ve never been!

Rihanna, Work

To me a dancer was a man from nowhere,

without a nation or people,

without obligations of any kind,

and this was exactly the quality I loved.

Zadie Smith, Swing Time

Inhalt

Intro

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

ZWEITER TEIL

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Outro

Intro

Mir scheint, ich sollte mich doch kurz vorstellen. Damit ihr euch nicht wundert, wenn ich zwischendrin mal was sage. Weitgehend bleibe ich unsichtbar. Wie das bei uns halt so ist. Es kann aber sein, dass mir mal die eine oder andere Anmerkung rausrutscht. Nicht dass ihr dann denkt: Was geistert der jetzt hier rum? Das wird auch nicht oft passieren. Die Geschichte spricht im Prinzip für sich. Es gibt eine Heldin, und die geht auf Reisen, und ihre Reise führt um die ganze Welt. Es gibt sogar ganz klassisch ein Amulett. Viel mehr will ich nicht spoilern. Ihr denkt sicher eh schon: Hat der Hustensaft getrunken? Aus welcher Parallelwelt kommt der denn? Das ist nicht so wichtig. Sagen wir: Es ist eine von vielen. Wichtig ist, dass ich die Geschichte kenne, und wenn irgendwas ist, ich bin da. Alles klar? Na dann, Cheetos raus und los jetzt. Ihr solltet unbedingt Cheetos essen. Ihr werdet später verstehen warum.

ERSTER TEIL

1

Vom achtunddreißigsten Stock aus betrachtet, wirkt Tokio wie eine surrealistische Tiefseelandschaft, in der sich leuchtende Fische, funkelnde Korallen und fluoreszierende Quallen zu einem überwältigenden Neonspektakel verbunden haben. Solana hatte kürzlich erst eine Doku gesehen, in der es um die Farbenpracht in der Unterwasserwelt ging, darum, dass die Fische, wie wir Menschen, durchaus modische Gelüste hätten. Über körpereigene Proteine nähmen die Tiere Licht auf, wandelten die Strahlung um und könnten die totale Lightshow abziehen. Giftgrün, knallrot, yveskleinblau – in den Tiefen des Meeres ginge es zu wie auf einem Catwalk!

Welchen Zweck das Ganze hat, darüber sind sich die Forscher uneins. Manche glauben an Paarungsrituale, andere wiederum behaupten, die Inszenierung habe irgendwas mit den Mechanismen von Angriff und Verteidigung zu tun. Wieder andere gehen davon aus, dass die Fische sich einfach nur schönmachen wollen.

Auch Tokio strahlt in allen Farben. Würde Solana die Jalousie hochziehen, könnte sie die Lichtshow sehen. Sie aber will die Jalousie nicht hochziehen, weil es vier Uhr morgens ist und man um vier Uhr morgens eigentlich schlafen sollte.

Was sie im Sekundentakt hochzieht, sind die Kurzhanteln aus Vinyl, die sie immer dabeihat, um ihre Oberarme in Form zu halten. Solana mag es, wenn man den Trizeps sieht. Sie ist hundemüde, aber der Körper wehrt sich gegen den Schlaf. Siebzehn, achtzehn, neunzehn …

Sie wechselt die Position.

Das Phänomen des Jetlags hat sie noch nicht ganz ergründen können. Es ergibt biologisch gesehen überhaupt keinen Sinn. Zumindest nicht in dem Maße, wie die fluoreszierenden Fische Sinn ergeben, denn die wollen sich halt paaren oder Nahrung anziehen oder einfach nur modisch sein.

Aber dass man nachts nicht schlafen kann, obwohl man hundemüde ist und morgen wieder topfit sein muss, da spätestens ab neun wieder alle an einem rumzerren und auf einen einreden, das ergibt überhaupt keinen Sinn. Offenbar hat das was mit den Nervenzellen zu tun, die durch die Zeitumstellung überlistet wurden und jetzt denken, es sei schon wieder Tag, obwohl draußen Nacht ist, wie jeder Trottel sehen kann. Da kann die Stadt noch so sehr fluoreszieren, funkeln und in allen Neonfarben leuchten.

Solana dachte, man könne die Nervenzellen vielleicht durch gezieltes Hanteltraining überlisten, aber keine Chance. Die Nervenzellen nerven und Solana kann einfach nicht schlafen.

Sie muss an den Film denken, den sie mit Ana gesehen hatte, der auch in Tokio spielt und in dem Bill Murray das gleiche Problem hat und nicht schlafen kann und mit Scarlett Johansson an der Bar abhängt. Sie fand ihn ganz gut, aber Ana meinte, der Film sei mega-rassistisch und die Art, wie die Japaner dargestellt würden, sei eine Frechheit.

Solana fand den Film gar nicht so rassistisch, so schlecht kämen die Chinesen doch gar nicht weg und das Szenario sei einfach nur realistisch. Für sie ist Bill Murray der coolste Schauspieler, den es gibt. Also für ein altes, männliches Weißbrot zumindest.

Ana entgegnete, dass sie Solana gleich einen Gong geben würde, wenn sie noch einmal Chinesen sagte, und dass Bill Murray natürlich ein cooler Schauspieler sei, aber in anderen Filmen sei er eben viel cooler gewesen. Zum Beispiel in Groundhog Day oder Ghostbusters oder The Royal Tenenbaums, nicht zu vergessen der Cameo-Auftritt in Zombieland, aber in dem Film hätte er einfach nicht mitspielen dürfen, auch wenn er dafür eine Oscar-Nominierung bekommen hatte, und daraufhin meinte Solana: »Halt doch einmal die Fresse mit deiner bekackten Klugscheißerei.«

Und Ana entgegnete: »Genau, wenn man keine Argumente hat, dann sagt man: Halt doch die Fresse. Bloß nicht diskutieren.«

Und Solana dachte: Diskutier doch mit meinem Arsch.

Natürlich nur im Spaß, weil sie Ana liebt wie fast niemanden sonst auf der Welt, weil Ana ihre beste Freundin ist, auch wenn Ana immer diskutieren will. Da kann sie ja nichts für. Dass sie eine Klugscheißerin ist. Ana ist nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch ihre persönliche Assistentin. Außerdem konnte Solana dafür sorgen, dass Fanta und Ninja als Tänzerinnen eingestellt wurden, und so sind auch ihre zweit- und drittbesten Freundinnen auf Tour immer dabei. Ana kümmert sich um alles und soll sich jetzt gefälligst auch um ein bisschen Schlaf kümmern.

Sie legt die Hanteln beiseite und greift zu ihrem Handy.

Solana

Könnt ihr pennen?

Kaum eine Minute später vibriert es. Dann noch mal und schließlich ein drittes Mal.

Fanta

Voll im Arsch und hellwach

Ninja


Solana

Lounge in 10 Minuten?

Ana


Ninja

 

Solana streift sich den kurz geschnittenen, fast bauchfreien Hoodie mit der übergroßen Kapuze, dem kleinen Skorpion an der Seite und der Aufschrift scorpio by solana über, der perfekt auf die schwarze Trainingshose aus derselben Kollektion abgestimmt ist. Jene, die sie vor kurzem für einen bekannten Sportartikelhersteller gestaltet hat. Sie zieht sich die psychedelisch gemusterten Socken, die ein befreundeter Rapper für einen bekannten Sockenhersteller entworfen hat, über die Füße und schlüpft in ihre flachen, kirschblütenfarbenen Sneakers.

Eigentlich läuft sie nicht in aller Öffentlichkeit in der eigenen Kollektion durch die Gegend, andererseits ist es um die Uhrzeit mit der Öffentlichkeit noch weit hin, und außerdem ist Solana auch ein bisschen stolz auf ihre Kollektion. Schließlich hat nicht jeder eine eigene Jogginghosenkollektion, und wer eine eigene Jogginghosenkollektion hat, der hat auch die volle Kontrolle über sein Leben gewonnen, findet sie.

Sie war mehrfach gefragt worden, ob sie nicht eine Modelinie oder ein Parfüm oder wenigstens eine Unterhose auf den Markt bringen wolle und hatte immer abgelehnt. Das mit der Trainingshosen- und Schlabberpulli-Kollektion machte endlich Sinn, denn Solana liebt Trainingshosen und Schlabberpullis. Und wenn Trainingshosen und Schlabberpullis noch den eigenen Namen tragen und nach was aussehen dürfen, dann umso besser.

Hätte Solana die Jalousie nach oben gezogen, dann hätte sie in der Leuchtreklame schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite, ca. fünfzig Meter Luftlinie, ihr eigenes Gesicht sehen können, glamourös und schwarzweiß in Szene gesetzt vom berühmten Fotokünstler Wolfgang Tillmans.

Es handelt sich um das Cover ihres aktuellen Albums Multiverse, mit dem sie seit vier Wochen auf Tour ist. Das heißt: seit vier Wochen Jetlag. Mal mehr, mal weniger. Erst Nord- und Südamerika, das ging noch. Dann nach Asien.

Am Schlimmsten ist es, wenn man längere Zeit von Westen nach Osten fliegt, da sich der Tag dann verkürzt und die Hormone komplett verrücktspielen. In der letzten Woche ging es von Manila über Singapur nach Delhi und von da aus wieder ostwärts zurück nach Japan. Das heißt: Mega-Jetlag.

Morgen das Konzert in Tokio. Dann zwei Tage Los Angeles und von da aus weiter nach Europa. Das ist ziemlich weit östlich von Los Angeles gelegen. Manchmal hilft Kiffen gegen Jetlag, aber bei so vielen Zeitzonen macht das Kiffen den Kopf auch nicht mehr müde.

Solana mag Kiffen ganz gerne, vor allem gegen Jetlag, aber sie ist nichts im Vergleich zu Ana. Denn wenn eine den Kiffer-Nobelpreis bekommen müsste, dann Ana.

Sie nimmt sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Glastisch, macht das Licht im Schlafzimmer aus, kramt ihre kleine, kastanienbraune Louis-Vuitton-Tasche beisammen und verlässt die Suite. Roger, ihr Personenschützer, pennt im Sitzen. Er schreckt auf, als Solana die Tür schließt.

»Geh mir mal kurz die Beine vertreten.«

»Soll ich mitkommen?«

»Brauchst du nicht.«

»Wirklich nicht?«, fragt Roger. Denn wenn Solana etwas zustößt, ist er der Erste, dem der Kopf abgerissen wird. Aber sie ist eben ein Dickkopf. Das hat er mittlerweile kapiert.

»Wirklich nicht«, entgegnet Solana und macht sich Richtung Fahrstuhl auf.

Das Hotel ist für ihren Geschmack ein bisschen arg esoterisch eingerichtet, so wie es seit einigen Jahren Trend geworden ist, dass Luxushotels nicht mehr vulgär glit zerndglamourös daherkommen, sondern Naturverbundenheit vermitteln, indem exotisches Grünzeug, Wasserkaskaden, Bambus- und Teakholzspielereien, ja teilweise ganze Wälder in die Lobby und auf die Etagen verfrachtet werden.

Auch in diesem Hotel wechseln sich Design und Naturkitsch ab. Der halbtransparente Glasaufzug hat einen weichen, rasenartigen Fußboden und erstrahlt, sobald man ihn betritt, in warmen, organischen Farben, die wahrscheinlich auch aus den Tiefen des Ozeans stammen. Solana drückt den Knopf Richtung Lounge. Unten trifft sie auf Fanta, die ihre Haare unter einer schwarzen Wollmütze versteckt hat und müde vor sich hin schlurft.

Die Lounge ist in elegantes Schwarz getaucht, um jeden der kleinen Tische sind vier Sessel aus mattem Leder gruppiert. Sie ist glücklicherweise die ganze Nacht geöffnet, im Gegensatz zur molekularen Tapas-Bar, in der einem kleine Snacks aus allerlei obskuren Gemüsesorten, Tieren und Pflanzen vor den eigenen Augen zubereitet werden. Die anderen Bars und Restaurants sind bereits geschlossen.

Ana und Ninja haben sich in die Sessel gefläzt. Ansonsten ist die Lounge bis auf einen europäisch aussehenden Geschäftsmann, der in sein Tablet vertieft ist, leer.

»Fuck, ich habe noch nicht eine Minute gepennt«, schimpft Ana und putzt genervt ihre Brille.

»Ich lern schon Japanisch. Kein Scheiß, ich habe so einen japanischen Horrorfilm angefangen mit Untertiteln. Ich weiß schon, was Folter heißt, nämlich gōmon suru«, sagt Fanta. »Komm, sagt mal: gōmon suru!«

»Alter, ich folter dich gleich«, entgegnet Ninja und lässt etwas unmotiviert, da gleichfalls übermüdet, ihre Faust knacken.

»Haben wir wirklich nichts zum Rauchen da? Ich dreh durch«, sagt Solana.

»Wo willst du denn hier was herkriegen?«, fragt Ninja.

»Irgendwer von den Chinesen wird doch was haben«, antwortet Solana.

»Japaner. Wir sind in Japan und hier leben Japaner. Und die Japaner kiffen offenbar nicht. Sei nicht so scheißrassistisch«, sagt Ana, wird in ihren Ausführungen jedoch von dem schwarz livrierten Kellner unterbrochen, der gerade an ihren Tisch tritt.

»Darf ich Ihnen etwas bringen?«

»Äh, ja, auf jeden Fall!«, sagt Ana und blättert hektisch in der Getränkekarte. Sie sucht nach der englischen Version.

»Einen riesengroßen Blunt, bitte«, feixt Solana.

»Entschuldigung, einen Blend? Wir haben nur Single Malts«, antwortet der Kellner.

»Solana!«, schimpft Ana.

»Vier Vodka Tonic, bitte«, unterbricht Ninja und nimmt den anderen die Entscheidung ab.

»Für mich bitte auch vier Vodka Tonic«, sagt Solana, was wiederum einen bösen Blick von Ana und noch mehr irritierte Blicke des Kellners hervorruft.

»Also … acht Vodka Tonic und einen Whiskey?«, fragt der Mann mit ernsthaftem Stirnrunzeln.

»Haha, du bist so scheißwitzig«, meckert Ana in Solanas Richtung, ehe sie sich entschuldigend an den Kellner wendet:

»Sorry, meine Freundin macht blöde Witze. Vier Vodka Tonic, bitte. Für jeden einen. Und keinen Whiskey, bitte.«

Der Kellner nickt verständnisvoll und verschwindet Richtung Bar.

»Der Witz ist übrigens von Asterix & Obelix geklaut«, sagt Ana.

»Du bist selbst von Asterix & Obelix geklaut, du bist voll Humornix. Das war gar kein Witz. Ich brauch mindestens vier Vodka Tonic, um schlafen zu können. Oder einen dicken Blunt«, seufzt Solana und checkt ihr Handy. Auch die anderen tippen lustlos auf ihren Handys herum.

In der New York Times sollte heute eine Lobhudelei einer berühmten Schriftstellerin auf Solana erscheinen. Aber sie weiß schon gar nicht mehr, wann heute anfängt und gestern aufgehört hat.

Solana hatte letzte Woche mit der Schriftstellerin geskypt. Sie kannte sie nur vom Namen her. Die Schriftstellerin war um die dreißig und sehr sympathisch. Am Ende des Gesprächs sagte sie, sie sei auf dem Konzert in New York gewesen und so sehr berührt, dass sie noch Tage danach ihre Freunde genervt habe. Multiverse sei für sie das wichtigste Album unserer Tage, weil es einerseits ein so großartiges, zeitgemäß produziertes R&B-Album sei, sich andererseits aber nicht an den Mainstream anbiedere und Solana eine Edgyness verleihe, die ihr gutstünde. Dass sich eine so große Künstlerin so etwas traue, sei außerordentlich. Als Solana auf die Bühne gekommen sei und die ersten Takte von I started walking erklangen, jener ultraminimalistischen, ganz ohne Beat auskommenden, lediglich auf dunklen Bässen, schlangenartig zischelnden Hi-Hats und ihrer voluminösen Stimme basierenden Ballade, die auch nur als Bonus Track auf der Deluxe-Version des Albums enthalten war, da habe sie eine zentimeterdicke Gänsehaut bekommen. Die Schriftstellerin war offenbar wirklich sehr gerührt.

Solana fand das süß und schämte sich ein bisschen, noch nie ein Buch von ihr gelesen zu haben. Sie beschloss aber, das nachzuholen, und lud sich noch am selben Abend die letzten beiden Romane der Schriftstellerin, von denen einer sogar mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden war, auf ihren Reader. Der Text der New York Times ist aber noch nicht online.

»Scheiße, in nicht mal vier Stunden müssen wir aufstehen …«, setzt sie zum erneuten Klagelied an, wird jedoch durch den Kellner unterbrochen, der die Getränke auf einem Tablett herbei balanciert.

»Vier Vodka Tonic, bitte.«

»Ich mach das schon«, sagt Ana und zeichnet die Bestellung gegen. »Könnten wir vielleicht auch was zu essen bekommen?«

»Entschuldigung, aber die Frühstückslounge öffnet leider erst um sechs und alles andere hat schon geschlossen«, entgegnet der Mann höflich.

»Aber wir haben solchen Hunger, ohne Scheiß, und wir können nicht schlafen. Ich könnte einen Elefanten verputzen! Wir sind echt gefoltert, gōmon suru, verstehen Sie?«, quengelt Fanta, woraufhin der Kellner noch irritierter wirkt. »Entschuldigung, go… wie?«

»Go…«

»Alter, reiß dich zusammen«, giftet Ana in Fantas Richtung und wendet sich an den Mann. »Entschuldigung, wir sind ein bisschen übernächtigt. Keine Umstände, wir warten oder gehen noch mal auf unsere Zimmer. Aber wir verhungern schon nicht.«

Ana ist der Meinung, man müsse das ja nicht überstrapazieren mit dem Rundumservice und den Extrawürsten.

»Wenn Sie wollen, kann ich in der Frühstückslounge aber mal anrufen. Manchmal sind um die Uhrzeit schon …«

»Echt? Das würden Sie tun? Das wäre absolute Weltspitzenklasse, wir würden Sie heiraten!«, sagt Fanta, die kurz davor ist, dem Mann um den Hals zu fallen.

»Müssen nicht gleich heiraten, aber ich kann ja mal fragen«, antwortet der Kellner schmunzelnd, als fürchte er tatsächlich, gleich vierfach geheiratet zu werden.

Dann verschwindet er Richtung Bar.

»Babes, lasst uns betrinken«, prostet Solana den anderen zu.

»Was anderes bleibt uns wohl auch nicht übrig«, seufzt Ana und nimmt einen großen Schluck.

Der Vodka Tonic ist köstlich. Auf Vodka Tonic ist fast so viel Verlass wie auf Pizza. Pizza ist für sie die mit Abstand beste Erfindung der Menschheit und auf jeden Fall besser als alle molekularen Feinkostspezialitäten, die sie in den Edelrestaurants weltweit schon probiert hatte, zusammengerechnet. Pizza ist immer für einen da.

Der Kellner kommt zurück an ihren Tisch.

»Ich habe gefragt in der Frühstückslounge und es ist schon möglich American Breakfast oder Continental Breakfast, wenn Sie wollen. Sie bringen hierhin.«

»Echt jetzt? Oh Mann, wissen Sie, wer der absolut weltspitzenmäßigste Typ im ganzen Universum ist?«, fragt Fanta mit einem Strahlen im Gesicht, als hätte sie gerade den Award für die beste internationale Tanzchoreografie gewonnen.

»Entschuldigung, der weltgespitzteste was …?«, fragt der Kellner mit erneuter Irritation.

»Sie! Der weltspitzenmäßigste Typ sind Sie!«, antwortet Fanta mit einem noch breiteren Grinsen, woraufhin sie von Ana unterm Tisch vors Schienbein getreten wird.

»Aua! Was ist los mit dir?«, giftet sie zurück.

»Ich würde sagen, wir nehmen dann viermal das American Breakfast, oder? Bitte mit Pancakes, Würstchen und doppelt Rührei für mich«, unterbricht Ninja.

»Für mich bitte lieber das Continental Breakfast. Gerne mit ein bisschen Kimchi, Algensuppe und dazu ein kleines Tamagoyaki-Omelett«, sagt Ana.

»Also dreimal American Breakfast und einmal Continental«, notiert der Kellner, verbeugt sich, bleibt aber noch kurz stehen, überlegt und grinst ein paar Sekunden vor sich hin, ehe er fast akzentfrei, jede Silbe betonend, hinzufügt: »Weltspitzenmäßigste Wahl, Alter.«

Die Mädchen spucken fast ihre Drinks auf den Tisch vor Lachen.

2

Die Musik von Nina Simone ist wie Balsam für Solana. Ihre tiefe Stimme hat etwas Beruhigendes, so wie Yogaübungen oder ein dicker Blunt etwas Beruhigendes haben. Der Motor des Wagens ist leise, man hört ihn kaum. So stört er auch nicht die Musik. Solana summt die Melodie von Don’t smoke in bed leise mit und starrt gedankenversunken aus dem Fenster. Die Bucht von Tokio wirkt wie eine von technokratischen Göttern errichtete Version des Bosporus. Alles ist vollkommen akkurat angeordnet, die kleinen grünen Inseln wie geometrische Figuren, das Silberweiß der Hängebrücke penibel abgestimmt auf die Farbe der Gebäude auf der anderen Seite. Abends erstrahlt die Brücke in allen Regenbogenfarben. Die ganze Stadt flimmert und flackert, dass es eine Warnung für Epileptiker bräuchte. Solana findet es immer wieder erstaunlich, wie sich diese Megacities auf bizarre Weise ähneln, auch wenn Istanbul und Tokio natürlich zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind, das eine mit Schmutzspuren und schon etwas ausgetreten, das andere blitzblank poliert und in grellem Design.

 

Don’t look for me / I’ll get ahead / Remember darling / Don’t smoke in bed.

Es gibt nur zwei Personen, die Solana unmittelbar vor der Show ertragen kann, und das sind Ana und Nina Simone. Also hat sie verfügt, dass sie immer gemeinsam mit Ana zur Arena gefahren wird und sie dabei Nina Simone hören, da es beruhigend ist, Ana dabei zu haben und Nina Simone zu hören. Sie liebt die Art, wie Nina singt und die Wörter dabei langzieht, die Vokale dehnt, weil jedes Wort zählt. Wie sie Klavier spielt, die kleinen kunstvollen Pausen zwischen den Tönen.

In einem Interview mit einem europäischen Magazin hatte Solana mal über Nina Simone gesprochen. Der Journalist fragte sie, warum sie denn nicht eine Coverversion von Nina Simone mache, da die doch ein modernes Update vertragen könne, und Solana widersprach und sagte, die Songs von Nina könne man mit einem modernen Update nur verhunzen, sie seien so perfekt komponiert und zeitlos, da gebe es nichts zu verbessern, und alle existierenden Coverversionen seien grottenschlecht. Man könne alles problemlos covern, aber nicht Nina Simone.

Nicht mal mitsingen würde sie ihre Songs, sondern lediglich summen. Nicht, dass sich Solana für eine schlechte Sängerin hielte. Im Gegenteil, sie bekommt ja auch ständig erzählt, sie sei eine der besten Gesangskünstlerinnen, die es derzeit gibt auf der Welt. Aber sie ist keine Meisterin im dunklen Bereich.

Der einzige Mensch, der Ninas Songs halbwegs adäquat singen kann, ist Solanas Mama, die eine ausgesprochen tiefe Stimme hat, die Ninas Songs immer gesungen hatte, ob beim Aufräumen, beim Solana-in-die-Schule- oder Solana- ins-Bett-bringen.

So hatte Solana schon in frühester Kindheit Nina Simones Lieder lieben gelernt, wie sie später die Songs von Aaliyah, Lauryn Hill oder Björk lieben lernte. Ninas Songs seien Balsam für die geschundenen Seelen einer geschundenen Welt, hatte ihre Mama immer gesagt, und das war der zweitbeste Satz, den Solana über Nina Simone kannte. Der Beste kam von Lauryn Hill und ging: So while you are imitating Al Capone, I’ll be Nina Simone, and defecating on your microphone.

Draußen rauscht Tokio vorbei. Solana mag es, dass Ana nicht viel redet vor der Show, weil Ana noch aufgeregter ist. Obwohl sie selbst nicht viel machen muss, außer dafür sorgen, dass alles läuft, wobei sie hauptsächlich dafür sorgt, dass Solana in Ruhe gelassen wird, weil sie Ruhe braucht vor dem Orkan, dem Geschrei, dem Flackern und den Gesichtern.

Bei ihren Tänzern und Musikern ist das anders. Die pumpen Outkast oder Wu-Tang Clan in voller Lautstärke, um sich einzupeitschen, springen und tanzen und wirbeln wild durch den Backstage-Bereich, bis sich kein normaler Mensch mehr da rein traut. Solana liebt ihre Crew, aber kurz vor der Show sind Ruhe und Konzentration angesagt, weswegen sie oft erst in letzter Sekunde zu den anderen stößt, was das Tourmanagement manchmal wahnsinnig macht, weil ein Auftritt in einer so großen Arena nun mal sekundengenau getaktet ist und Verspätungen jeglicher Art einfach nicht vorgesehen sind.

Aber wenn Solana sagt, dass das so gemacht wird, dann wird das auch so gemacht, und meistens geht ja auch alles gut.

Der weiße SUV wird von den Securities am hinteren Bereich der Arena in die Unterführung gewunken, die zum Backstage-Bereich führt. Man hört schon die Bässe, und wenn man ganz genau hinhört, kann man auch die Stimme ihres Supports Young Moses hören, der gerade auf der Bühne steht. Der Wagen hält neben dem Eingang, an dem zwei stämmige Männer mit Funkgeräten postiert sind. Solana und Ana packen ihren Kram zusammen und steigen aus. Sie nicken den Männern kurz zu, die ehrfürchtig zur Seite treten. Eigentlich hätten Ana und Solana ordnungsgemäß ihren Zugangsberechtigungsausweis vorzeigen müssen, aber entweder haben die beiden Männer ihre Sprache verloren oder im Eifer der Aufregung einfach vergessen, danach zu fragen. Aber man sieht ja auch, wer da kommt.

Sie werden von der gleichen durchorganisierten Frau mit dem akkuraten Pagenschnitt in Empfang genommen, die sie gestern schon im Hotel begrüßt hatte. Solana hat den Namen vergessen, aber Ana weiß ihn noch, weil sie nie was vergisst, was gut ist, da die Frau die örtliche Ansprechpartnerin ist, die sich um alles kümmert und deren Namen man sich besser merken sollte und die ihnen nun auch den Weg zu Solanas Garderobe weist.

Solana hat sich die Kapuze ihres Hoodies tief ins Gesicht gezogen, da sie es nicht mag, von allen angestarrt zu werden, sobald sie einen Raum betritt. Aber natürlich wird sie auch hier von allen angestarrt, denn man erkennt sie auch unschwer mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze, weil sie eben Solana ist und nicht Anna Average oder deine Mutter.

Einige unterbrechen ihre Arbeit, manche bleiben andächtig stehen, lächeln unsicher oder verbeugen sich sogar. Einer der Techniker, ein sehr junger Junge mit verwuschelter Frisur, höchstens achtzehn, möchte ein Foto mit Solana machen, wird aber von der Pagenschnittfrau auf Japanisch zurechtgewiesen, was den armen Kerl erröten und beschämt zu Boden gucken lässt. Solana wirft ein, dass es schon okay sei, ein Foto zu machen, und zieht ihre Kapuze ab, was den Jungen noch mehr erröten lässt, der schüchtern seine Kabel auf den Boden legt, das Handy zückt und sich neben Solana aufstellt, ohne den Arm um sie zu legen, wie man es meistens macht. Dann fixiert er mit der Kamera ihre beiden Gesichter, betätigt den Auslöser, verbeugt sich etwas hektisch und huscht mit seinen Kabeln von dannen.

Wie auf Knopfdruck zücken plötzlich aber alle der anwesenden Techniker, Logistiker, Caterer und wer auch immer hier gerade durch die Katakomben wuselt, ihre Handys und machen Fotos von Solana, als sei die Entblößung des Kopfes das offizielle Signal dafür, dass man jetzt Fotos machen dürfe. Solana bemüht sich, möglichst galant zu lächeln, ehe die Frau mit dem Pagenschnitt wieder etwas auf Japanisch sagt, diesmal in noch resoluterem Ton, was einige, aber nicht alle der Anwesenden dazu bringt, die Handys wegzustecken und ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Dann bringt die Frau sie in die Garderobe und es herrscht endlich Ruhe. Ana und Solana sind allein.

»Ich bin so scheißmüde«, seufzt Ana und hält sich die Hand vor die Stirn.

»Ich auch. Ich brauch was zu rauchen«, sagt Solana.

»Ich glaub, Rauchen wär nicht so die geilste Idee. Aber ich hab was von Moe gekriegt. Nur ein paar Krümel, doch der meinte, das sei megastark.«

»Rollst du uns einen?«

»Du musst gleich auf die Bühne. Lass lieber vorm Schlafengehen einen rauchen, dann sind wir morgen auch wiederhergestellt.«

»Komm schon. Nur zweimal ziehen, versprochen. Rest rauchen wir später«, widerspricht Solana.

Die Garderobe ist fast so groß wie eine Hotelsuite. Es gibt eine gemütliche Sitzecke. Eine lange Kleiderstange. Mehrere Spiegel mit unterschiedlich starker Beleuchtung. Einen Getränkekühlschrank. Einen Cateringtisch, der mit heißem Wasser, allerlei Teesorten, Nüssen, Früchten, rohem Fisch, Tapas und kleinen Salaten drapiert ist. So wie sie es in ihrem Rider stehen hat, der im internationalen Popstarvergleich jedoch nicht übermäßig exzentrisch daherkommt. Man muss sich klarmachen, dass es Künstler gibt, die sich Smarties nach Farben sortieren lassen. So etwas macht Solana nicht. Mehr als ein paar kleine Häppchen kann sie kurz vor der Show ohnehin nicht mehr essen. Kurz vor der Show kann Solana nicht mal mehr Pizza essen.

Vor der Show will sie einfach nur ihre Ruhe. Das ist der wichtigste Punkt in ihrem Rider. Die Künstlerin bitte nicht in der Garderobe stören steht dick oben geschrieben, noch vor Verpflegung, Transport, Produktionsablauf und dem ganzen anderen Pipapo. Es gibt auch keinen Grund, die Künstlerin in der Garderobe zu stören. Ihre Visagistin trifft sie im Hotel kurz vor der Abfahrt. Sound checkt die Crew. Orga macht das Tourmanagement. Umziehen kann sie sich alleine.

Nicht mal ihr Tourmanager Steve darf sie in der Garderobe stören. In die Garderobe darf nur Ana und sonst niemand.

Solanas Bühnenoutfits hängen fein säuberlich in der korrekten Reihenfolge an der Kleiderstange. Anfangs trägt sie ein weißes Tuch über dem Kopf, dazu eine lange Perlenkette, den halboffenen Blouson mit Skorpionmuster zur weit geschnittenen, auf den Schuhen liegenden, aber nicht an den Beinen flatternden Hose. Nach dem Opener I started walking zieht sie das Tuch ab und zeigt den kreischenden Fans ihr Gesicht.

Im weiteren Verlauf der Show wird sie den Blouson gegen eine elegante Anzugjacke austauschen und zu einer gleichfarbigen Hose wechseln mit einem Schnitt, der auch Marlene Dietrich gutgestanden hätte.

Die Anzugjacke wie auch die Hose stammen von ihrem Lieblingsdesigner Alexander von Traunstein und wurden eigens für sie kreiert. Im Gegenzug musste sie Alexander versprechen, nächste Woche bei einem Fotoshooting in Island dabei zu sein. Alexander ist Österreicher und kommt aus Wien. Seine Shootings und Modeschauen sind berühmt-berüchtigt. Angeblich sei er schon mehrfach von seinen Models verklagt worden, weil er sie hatte bluten lassen oder zu Tieren verarbeitet oder so ähnlich, hatte Solana gehört, das aber nie so recht glauben können. Zu ihr war er immer charmant und zuvorkommend. Doch Alexander hatte nie bestritten, dass er seinen Modellen einiges zumute. Dafür seien sie eben Teil einer Alexander-von-Traunstein-Show. Was er genau macht, nächste Woche in Island, das weiß Solana nicht genau. Langweilig wird es sicher nicht.