TEXT + KRITIK 232 - Wolfgang Welt

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TEXT + KRITIK 232 - Wolfgang Welt
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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-96707-544-1

E-ISBN 978-3-96707-546-5

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Andreas Böttcher

sowie die Fotostrecken (S. 13–17 und S. 83–87)

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Wolfgang Welt

Jukebox Baby

Sascha Seiler

»Die grüne Welle reiten«. Gespräch mit Phillip Goodhand-Tait

Rolf Parr Im Stakkato pop-kultureller Bewegungszyklen. Wolfgang Welts autofiktionales Schreibprojekt

Sascha Seiler Der raue Ton der Achtzigerjahre. Wolfgang Welt als Musikjournalist

Thomas Ernst Pop und Komik, Wahn und ›Männlichkeit‹. Wolfgang Welt als Autor der Subversion?

André Menke »Er wollte wissen, in welcher Tradition ich mich sähe, und ich antwortete, in keiner«. Über einige Einbettungen und literarische Nachbarschaften von Wolfgang Welts Werk

Innokentij Kreknin »Ob das alles autobiographisch sei? Ja sicher.« Autofiktion bei Wolfgang Welt

Jan Süselbeck Einfach kompliziert. Über Wolfgang Welts Verhältnis zur Literaturkritik

Martin Willems »Ich besitze immerhin ca. 2000 Bücher …«. Wolfgang Welts Nachlass

Martin Willems Auswahlbibliografie Wolfgang Welt

Notizen

Wolfgang Welt

Jukebox Baby

Ich war auf nichts Besonderes aus, auch nicht auf irgendeine Frau. Es schien, dass ich mich wieder volllaufen lassen würde, wie an den vergangenen vier Wochenenden seit meinem Autounfall. Ich überlegte nicht lange, ob ich meine weißen Roots oder meine blauen Wildlederschuhe anziehen sollte. Was ich trug, spielte beim Saufen keine Rolle. Beim Dellmann klopfte ich zuerst auf den Stammtisch, um so die Klammerrunde zu grüßen. Alles alte Kartenhaie, die ich kannte, solange ich hier in unserem Vereinslokal verkehrte. Ich ging an den Tresen zu Erwin Patzke, dem bärtigen Haudegen, der mit seinen bald vierzig Jahren immer noch glaubte, als Libero in die Erste zu gehören, den man aber nur noch in den Alten Herren prockeln und die Mädchenmannschaft trainieren ließ. Das hatte er gerade gemacht. Seine Haare, die er nie föhnte, waren noch nass, wie an dem vergangenen Freitag, als ich hier meine Sauftour anfing. Da hatten Erwin und ich von gemeinsamen alten Zeiten geschwärmt, vor allem von dem Spiel in Eppendorf, das noch gar nicht so lange her war, als wir bei denen 3:0 in der Halbzeit führten und die dringend die Punkte gegen den Abstieg brauchten. Irgendeiner gab dann die Parole aus: »Jungs, verliert, die tun ein paar hundert Mark raus.« Und Erwin schaukelte das Ding mit unserem Torwart. Eppendorf gewann tatsächlich 4:3. Nur bekamen wir nicht die Blauen in die Hand gedrückt, die taten bloß einen Kasten Bier und ’ne Flasche Jägermeister raus, die dann Erwin und ich alleine leer machten, weil die andern den Likör nicht wollten. Bei Erwin stand einer, von dem ich nur wusste, dass er Ötte hieß. Ich hatte ihn schon öfter hier in der Kneipe gesehen, aber die meiste Zeit hatte er für sich gestanden. Jetzt unterhielt er sich mit Erwin. Ich stellte mich zu den beiden, ohne dass ich aufdringlich wirken wollte. Ich bekam mit, dass Erwin und Ötte mal zusammen gearbeitet hatten, nicht auf dem Pütt und auch nicht auf dem Bau, wo Erwin jetzt Estrich legte, sondern bei irgendeiner Klitsche in Werne. Ich hörte nur zu und trank sehr schnell mein Bier. Neben uns an der Theke lungerte ein Besoffener rum, den ich noch nie gesehen hatte. Am andern Ende des Tresens knobelte die Wirtin mit zwei Stammgästen. Immer wenn ihr ein Schock gelungen war, schräpte sie. Zum Glück schien sie eine Pechsträhne zu haben und blieb meist stumm. Erwin fing an, von dem Attentat in Lütgendortmund zu erzählen, bei dem sich im Amtshaus der Bombenleger selbst in die Luft gesprengt hatte. Erwin, ganz Fachmann, meinte, er hätte Diesel genommen, der brennt nicht so schnell. Und ich meinte, der hätte wohl erst das Benzin verteilt und sich dann eine angesteckt. Der Besoffene hatte das mitgekriegt und sagte »Ihr seid doch alle Terroristen.« »Halt die Klappe«, sagten wir oder so was. Wir ließen uns nicht von ihm stören. Erwin kam auf einen neuen Energiedeal mit den Russen zu sprechen und schwärmte von den riesigen Rohstoffvorhaben, die die hätten. Auch das hatte der Besoffene, der so an die fuffzig war, mitgekriegt. »Ihr seid doch Kommunisten.« Er ging um den Tresen rum und verlangte vom Dellmann das Telefon. Bereitwillig gab ihm der Wirt den Hörer. Dann wollte der Besoffene die Nummer der Polizei wissen. Die anzurufen, konnte ihm der Wirt ausreden. Ich dachte, eigentlich müsste der den rausschmeißen, da der doch Stammgäste belästigte. Doch der Dellmann tat nichts dergleichen, er war eben kein Gerd Neemann. Stattdessen servierte er ihm noch Pommes frites mit Mayonnaise. Ich ging schiffen. Kaum hatte ich den Dödel in der Hand, ging hinter mir die Tür auf. Eh ich mich versah, hatte mir der Besoffene über meine Schulter drei Stück ins Gesicht geknallt und dabei geschrien »Du machst mir Deutschland nicht kaputt.« Ich tickte mit dem Kopf gegen die Fliesen. Erst da wusste ich, was eigentlich los war. Ich drehte mich um und nahm den Schläger in den Schwitzkasten. Ich rief nach Hilfe, aber keiner kam. Er wehrte sich heftig. Wir landeten in der Pissrinne, doch ich ließ ihn nicht los. Langsam zog ich ihn vom Scheißhaus runter, rein in die Kneipe. Erst da ließ ich ihn laufen. Ich forderte den Wirt auf, die Polizei zu rufen, das machte der aber nicht, obwohl ich ihm die Male in meinem Gesicht zeigen konnte. Stattdessen ließ er den Besoffenen zahlen und gehen. Als der weg war, drang ich noch mal auf den Dellmann ein, er sollte die Polizei anrufen. Als der sich wieder nicht rührte, verlangte ich das Telefon, das konnte er mir nicht verwehren. So rief ich die Bullen an. Nicht dass ich ein besonderer Polizistenfreund war, aber schon der Krankenkasse wegen musste der Täter dingfest gemacht werden. Unter Garantie würden die mich von der Barmer Ersatzkasse anrufen, wenn sie die Diagnose kannten und mich nach dem Vorgang befragen. Keine fünf Minuten später kamen zwei Mann in Uniform an. Ich stellte mich vor und schilderte die Tat. Als ich fertig war, kamen noch zwei Zivile rein. Ich dachte mir, die sind vom BKA, wegen des Attentats. Ein Uniformierter sagte denen, es sei nichts Besonderes und ich dachte, hat nichts mit dem Attentat zu tun. Da hauten die Zivilen wieder ab. Ich wurde gefragt, ob ich den Täter kenne. Ich sagte nein und dann in vollem Ernst: »Hier an der Gabel sind seine Fingerabdrücke.« Aber der Polizist winkte ab. Dann fragte er die andern Gäste, ob die den Schläger kannten. Keiner antwortete. Ich hatte zumindest den David Hoffmann in Verdacht, dass der wusste, wer das war. Der kannte doch jeden auf der Wilhelmshöhe. Aber er ließ sich nicht mit den andern beim Klammern unterbrechen. »Sie wollen eine Strafanzeige machen? Dann kommen Sie mal mit in den Wagen.« Ich war schon halb draußen, als mir der Piff Temma nachrief: »Bei Arthur Wagner um die Ecke, erstes Haus, erste Tür.« Ich sagte den Schackos, was ich gehört hatte. Sie fuhren auch mit mir zu dem Haus hin. Es wohnten zwei Parteien darin. Die Polizisten meinten, da könnten sie nicht stören, wenn ich nicht wüsste, wie der hieß. Schließlich sei schon nach zehn. Dann fragten sie mich, ob ich einen Krankenwagen haben wollte. Ja, sicher. Ich will das hier nicht bestreiten, von Anfang an dachte ich an Schmerzensgeld, so viel wie bei dem Autounfall, so an die 400 Mark. Die Sau würde ich noch fertigmachen. Die Ambulanz brachte mich ins Knappschaftskrankenhaus. Der behandelnde Arzt sah mich unfreundlich an, als ich ihm den Vorgang erklärte. Ich bekam eine Tetanusspritze, weil ich Schrammen am Arm hatte, der verbunden wurde. Aber zu meiner Überraschung wurde mein Kopf nicht geröntgt und ich konnte gehen. Ich fuhr mit dem 78er nach Hause und weckte meine Eltern. »Regt euch nicht auf.« Aber natürlich regten sie sich auf. Nicht so sehr wegen der Verletzung, sondern weil ich mal wieder blau war, obwohl es so schlimm gar nicht war. Ich hatte in den zwei Stunden vielleicht zehn Pils getrunken, war also noch lange nicht besoffen. Doch meine Eltern dachten da anders. Samstags blieb ich zu Hause und ging erst Sonntagabend wieder raus, ins Rotthaus. Ich traf keinen Bekannten, stellte mich an den Tresen. Werner bediente. Was hast du denn gemacht? »Ja, das war so …« Und so was war mir in meiner langjährigen Stammkneipe passiert. So was würde mir hier im Rotthaus nicht geschehen. Ich trank Kaffee, bekam auf einmal Angstzustände. Ich stieg um auf Mineralwasser. Zwei Typen mit Ring im Ohr unterhielten sich am anderen Ende des Tresens. Allmählich wuchs der Verdacht in mir, dass es sich dabei um Polizisten handelte, die mich im Auge zu behalten hatten. Das erste Mal in meinem Leben spürte ich so was wie Verfolgungswahn. Als ich endlich zahlte, kriegte ich keinen Ton raus. Auf dem Heimweg sah ich mich immer wieder um. Doch obwohl mir niemand folgte, wurde ich immer unruhiger. Ein paar Tage später. Zu Hause rief Monika Littau an. Sie wollte sich mit mir treffen, um alles klar zu machen für unsere gemeinsame Lesung. Wir verabredeten uns. Ne Stunde später saß ich mit ihr in einem Dortmunder Café. Unsere Texte ließen sich kaum auf einen Nenner bringen. Sie wollte Gedichte über Sri Lanka lesen, wo sie im Urlaub gewesen war, und ich wollte »Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe« vortragen. Schon das Suchen eines geeigneten Vortragsraumes war uns schwergefallen. Sie hatte sich dann von der Idee, in ein Café zu gehen, abbringen lassen und wir landeten in der Zeche, deren Eröffnung ich ein paar Wochen vorher fast von Anfang an mitgemacht hatte. Die Betreiber des neuen Veranstaltungszentrums hatten jede Menge Freikarten verteilt und alles drängte sich an die paar Zapfhähne, während auf das Programm niemand zu achten schien, auch ich nicht. Ich traf jede Menge Leute. Omo war da, Jochen vom DGB, der mich in meinem Prozess vertreten hatte. Aus Köln waren June Miller und Barbara Wolf angereist. Ich konnte mich kaum mit ihnen unterhalten. Dann stand ich neben Herbert Grönemeyer. Er erkannte mich wieder. »Tut mir leid, dass ich dich damals verreißen musste, aber die beiden Platten waren echt scheiße.« Er stand neben einem älteren Herrn, offensichtlich seinem Vater. »Jaja«, meinte er, »die Scheiben waren auch nicht besonders.« In seinem »Boot«-Film hatte ich ihn nicht gesehen. Außerdem lebte er nicht mehr in Bochum. Im Grunde interessierte ich mich nicht für ihn und ging auch bald zu jemand anderem hin. Bernd, der einer der Macher der Zeche war und zuständig für die Buchung der Veranstaltungen, hatte sich sofort bereit erklärt, uns einen Raum zur Verfügung zu stellen. Am 8. Dezember, das wäre John Lennons erster Todestag. So schlug ich Monika vor, die Sache unter dem Motto »Give Peace A Chance« laufen zu lassen. Auch wenn mein Text nichts mit Frieden zu tun hatte und ich weit entfernt war von der Friedensbewegung, die sich in Bonn und anderswo breitmachte. Wir versuchten im Chat Noir, ein Flugblatt zu entwerfen. Wir schusterten was zusammen und fuhren zu Bernd, der bei RIMPO neben der Zeche als Prokurist arbeitete. Er war ein sympathischer Kapitalist. Er war einverstanden mit unseren Vorschlägen und brauchte nur noch ein Bild. Das würde ich ihm vorbeibringen. Die Flugblätter sollten nicht nur in der Zeche ausliegen, sondern auch an der Uni verteilt werden. Dann werden viele kommen, war ich mir sicher. Auch die von der »Bewegung«, die ich im Sommer publizistisch unterstützt hatte. »Und was ist, wenn 500 Mann kommen«, fragte ich im Ernst. »Dann gehen wir in die Halle«, wo ich sowieso eine Beatles-Disco nach der Lesung machen wollte. »Karl-Heinz«, fragte ich, »was können wir machen?« Ich hatte zwei Kassetten bei. Auf der einen hatte ich aufgenommen, wie mal vor einiger Zeit John Peel meinen Namen durchgegeben hatte. Auf der anderen C90er hatte ich das »European Music Game« aufgezeichnet, an das ich hier vielleicht erinnern sollte. Das war ein paar Jahre her. Ich hatte das internationale Ratequiz Weihnachten im Radio gehört. Am Ende sagte der deutsche Moderator »Buddha« Krämer, wer Lust hätte, sich zu bewerben, sollte sich an den WDR wenden. Ich wendete mich und erhielt nach ein paar Wochen Bescheid. Ich sollte ihnen die Telefonnummer schicken, dann würde ich fernmündlich geprüft. Ich hatte auch dabei schreiben müssen, wann ich zu erreichen war. Es dauerte noch einige Tage, an denen ich meine Rock-Lexika gebüffelt hatte. Ich war nicht besonders aufgeregt, als Krämer anrief. Die Befragung war eigentlich Blödsinn. Er stellte mir etwa zehn Fragen, die schon während der letzten Sendung Gegenstand des Quiz gewesen waren. Da fiel es mir nicht schwer, fast alle richtig zu beantworten. Dass die Sache in Englisch ablief, machte mir auch keine Schwierigkeiten. Als er fertig war, meinte Krämer, ich sei wohl der Gesuchte. Das nächste Game würde im Mai in Amsterdam beziehungsweise in Hilversum stattfinden. Eine Sekretärin würde alles Nötige mit mir besprechen. Ich bekam einen Vorschuss. Intensiv studierte ich die Fachliteratur und überflog die zehn Jahrgänge »NME«, die im Keller verstaubten. Der Zeitraum, über den ich Bescheid wissen musste, zog sich von 1955 bis zur Gegenwart. Am Tag bevor ich Erster Klasse nach Amsterdam fuhr, guckte ich noch bei meiner Oma vorbei. Sie gab mir 20 Mark. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Eine Woche später war sie tot. In Amsterdam hatte ich mich im Hotel American einzufinden. Ich hatte auf dem Stadtplan herausgefunden, dass ich mein Quartier zu Fuß erreichen konnte. Es war ein gediegenes Hotel. Kostenpunkt: 90 Gulden die Nacht. Ich war aufgeregt. Als ich oben vor meinem Zimmer stand, stellte ich fest, dass ich den Schlüssel an der Rezeption liegen gelassen hatte. Es kam gerade ein Zimmermädchen vorbei, dem ich mein Missgeschick erklärte. Sie ließ mich rein, damit ich schon mal mein Gepäck abstellen konnte, bevor ich wieder runter ging. Ich wusste nicht, ob ich ihr ein Trinkgeld geben sollte. Ich gab ihr keins. Später am Nachmittag, nach einem kurzen Stadtbummel, traf ich Krämer im Hotel, der tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Buddha hatte. Wir redeten nicht viel. Er sagte mir nur, was anlag: abends ’ne Grachtenrundfahrt, anschließend Essen. Am nächsten Tag Fahrt nach Hilversum, Probe und Quiz. Fünfzehn Jahre war meine letzte Bootsfahrt in Amsterdam her. Damals, als wir von unserem Sportverein in Holland gewesen waren. War ganz nett die Tour in der Dämmerung. Dann ging die ganze Mannschaft aus insgesamt acht Ländern zum Chinesen. Oder war’s ein Indonesier? Ich glaube, ich aß damals zum ersten Mal so ein Zeug – widerwillig. Ich saß neben dem belgischen Kandidaten. Nachdem wir uns ein wenig abgetastet hatten, stellten wir uns Probefragen. Nachts ging ich noch mit ihm saufen, und die ganze Zeit horchten wir uns aus. Ich war ganz schön blau gewesen, aber nicht so schlimm, dass ich an einem Kater schwer litt. Morgens war frei und ich ging spazieren. Bei McDonald’s machte ich Station und in einer kleinen Pinte, wo ich, obwohl es noch früh am Tag war, Bier und Genever soff. Am Nachmittag fuhren wir alle in einem Omnibus nach Hilversum. Zuerst machten wir eine Probe. Quizmaster war der bekannte Musicalautor Tim Rice (»Jesus Christ Superstar«). Uns wurden Fragen gestellt, deren Schwierigkeitsgrad wir selber bestimmen konnten. Danach richtete sich auch die Punktzahl. Bei der Probe bekam jeder drei Fragen gestellt. Ich wusste alle drei Antworten und wurde Zweiter. Ich war zuversichtlich. Ich würde zwar nicht unbedingt gewinnen, aber einen vorderen Platz würde ich einnehmen. Da war ich mir sicher und soff nach der Probe in einer Kneipe weiter, in die wir eingeladen wurden. Ich war guter Stimmung. Vor dem eigentlichen Wettbewerb mussten wir alle ein einheitliches T-Shirt anziehen, dann wurden wir auf die Bühne gerufen. Ich bekam Pfiffe. Weiß auch nicht, warum. Als wir alle saßen, ging’s rund. Erste Frage an Dänemark. Wie viel points? 30 – schwierigster Grad. »Wer war Buddy Hollys erster musikalischer Partner?« Ich hätte nicht lange zu überlegen gebraucht, aber der Däne kam nicht drauf und sagte: Jerry Allison. Der zwar auch früh mit Holly zusammengearbeitet hatte und im Übrigen später mit Peggy Sue verheiratet gewesen war, aber Hollys erster Partner war Bob Montgomery. So bekam er keinen Punkt. Dann war ich dran. Vorgespielt wurde »You Never Can Tell«, gesungen von Emmylou Harris. »Wer sang das Original?« Einer der Kings des Rock ’n’ Roll. Natürlich Chuck Berry. Dafür bekam ich 20 Punkte und so ging es weiter. Manche wussten ihre Fragen und manche nicht. Ich will jetzt nicht das ganze Quiz durchgehen. Jedenfalls musste ich bei der zweiten Frage passen. Dann wusste ich wieder, erneut für 20 Punkte, dass Jerry Lee Lewis das Original von »It’ll Be Me« gesungen hatte. Das war aber auch schon die letzte der sieben Fragen, die mir gestellt wurden, die ich beantworten konnte. »Wer sang ›Sea Cruise‹ als Erster?« Der Belgier hatte es mir noch tags zuvor verraten. Frankie Ford. Es ging also in die Hose. Ich wurde Sechster. Der Belgier gewann einen Kassettenrekorder mit einem großen Mikrofon. Ich war sauer. Hatte ich doch die ganze Zeit daran gedacht – ich war kurz davor, mein Studium abzubrechen –, vielleicht beim WDR einsteigen zu können. Als Nachwuchs-DJ. Ich traute mich erst gar nicht, mich an den Tisch von »Buddha« und dem mitgereisten Abteilungsleiter zu setzen, als wir nach dem Quiz erneut eingeladen waren. Diesmal zu einem kalten Büfett. Stattdessen nahm ich neben Tim Rice Platz, der gerade in den Vorbereitungen für die »Evita«-Premiere steckte. Ich war schnell blau und weiß nicht mehr, was ich mit ihm laberte. Ich hatte wohl im Hinterkopf die Frage, ob ich nicht seine »Evita« ins Deutsche übersetzen könnte, aber ich stellte diese Frage nicht. Also abgefüllt ging’s ins Hotel zurück. Ich ging mit dem Belgier und seinen Betreuern in die Bar und soff und soff. Selbst als die Bar schloss, hatte ich noch nicht genug. Ich kaufte noch eine Flasche Wodka und ging mit ihr und dem Belgier auf sein Zimmer. Ich erinnere mich nur noch, dass ich plötzlich elendig zu schwitzen anfing und mich am Oberkörper frei machte. Es muss so sechs gewesen sein, als ich irgendwie in mein Zimmer getorkelt bin. Ich war so doof gewesen, beim Portier zu bestellen, dass ich um zehn Uhr geweckt werden wollte. Das machte der dann auch. Doch ich war noch so groggy, so besoffen, dass ich mich umdrehte und weiterpennte. Irgendwann wachte ich noch mal auf und dachte, jetzt wird es Zeit. Ich ging runter zum Frühstück, ohne eine Ahnung, wie spät es war. Als ich in den Saal reinkam, war nichts mehr von einem Büfett zu sehen. Ich erkundigte mich nach der Zeit. Halb zwei. Ach du Scheiße. Ich ging, immer noch benebelt, schnell auf mein Zimmer und packte meine paar Brocken zusammen. Eilig ging ich zur Rezeption und zahlte für die beiden Nächte. Von da aus lief ich zum Bahnhof und fuhr heim, wo ich heulte, weil ich so versagt hatte. Endlich erschien der »Musikexpress« mit meiner Kevin-Coyne-Kritik. Brachte zwar nur fuffzig Mark, aber ich war einen Schritt weiter in Richtung Erste Bundesliga. Ich rief Gockel an. »Was kann ich jetzt für dich tun?« »Chaz Jankel.« Kannte ich, hatte mal bei Ian Dury gespielt. Die Platte besorgte ich mir selber von der CBS in Köln. Von da erreichte mich ein Schreiben von June Miller. Nikolausfeier in der Stollwerck-Fabrik mit Alfred Biolek. Special Guest: das Penguin Cafe Orchestra. Die kannte ich nur vom Hörensagen. Eine obskure Gruppe aus dem Dunstkreis von Eno. Ich rief Diederichsen an. »Ist das was für ›Sounds‹?« Ja, das war was. Ich sollte ’ne Story machen. »Länge egal, schreib mal.« Ich teilte June mit, dass ich mit den Jungs – oder waren auch Girls dabei? – ein Interview machen wollte. Das würde sie am Nikolaustag mit mir vereinbaren. Vorher aber machte ich noch eine Stippvisite in der Zeche. Ich war mit Paul und Rainer im Roger-Chapman-Konzert. Nicht dass ich ein besonderer Fan von Chapman gewesen wäre, aber bei der Pressekonferenz anlässlich des letzten »Rockpalastes« war er ganz nett gewesen. Auch sein Saxofonist Nick Pentelow, dem ich die Lounge-Lizards-LP an jenem Tag besorgt hatte. Der Gig ist nicht weiter erwähnenswert. Vor dem Konzert verteilten die Propagandisten von Marlboro kleine Zigarettenpackungen und irgendwelchen Schnickschnack. Ich haute eine der Frauen an, die in einem Cowboy-Outfit erschienen war, ob’s Spaß machte. »Kaum.« Wir plauderten so ein bisschen, bis die Halle sich füllte. Sie war hübsch. Schließlich, bevor das Gedränge zu voll wurde, wollte sie wissen, ob ich ihr keine Wohnung besorgen könnte. Sie käme als Schauspielschülerin nach Bochum. Ich ließ mir ihre Adresse geben und vergaß sie sofort. Meckie. Nach dem Konzert gingen Paul, Rainer und ich noch nebenan in die Zechenkneipe. Chapman kam auch noch rein. Paul ging hin und besorgte sich ein Autogramm, auch eins für seine Mutter. Nach ein paar Bier hauten wir ab. Paul wollte mit seinem Peugeot zuerst den Rainer nach Hause fahren. Als wir bei Appel vorbeikamen, trat er leicht in die Bremse, um zu sehen, ob noch was los war. War nicht, aber plötzlich waren Bullen hinter uns. Paul hielt vor Rainers Wohnung an. Schon baten die Polizisten uns um unsere Papiere. Es dauerte nicht lange, und Paul und Rainer mussten aussteigen. Ich durfte sitzen bleiben. Wahrscheinlich, weil ich noch nichts auf dem Kerbholz hatte. Im Gegensatz zu den beiden andern, die zumindest registriert waren. Der Paul hatte mal so was angedeutet. Offensichtlich suchte die Polente nach Rauschgift. Während die beiden draußen, mittlerweile auf Socken, sich einen abfrieren mussten, suchte ein Polizist mit einer Taschenlampe im Handschuhfach nach. Ich war froh, dass ich einige Wochen vorher mein Briefchen Benzedrin in den Lokus gestreut hatte. Nach fünf Minuten kamen die Jungs wieder rein. »Arschlöcher.« Zum ersten Mal spürte ich so was wie Hass gegen die Polizei. Paul nahm’s gelassen hin und fuhr mich ruhig hoch zur Wilhelmshöhe. Ich hatte noch Durst, aber der Dellmann hatte schon zu. Wir wollten mit vier Mann nach Köln fahren. Christoph Biermann, der auch eine Einladung bekommen hatte, nahm den Omo mit. Ich hatte Andreas, den Fotografen, bestellt. Wir tankten noch und fuhren dann los. Das Geld für den Sprit müsste das »Marabo« bezahlen. Das würde Andreas schon regeln, der mittlerweile ein paar tausend Mark von den Verlegern zu kriegen hatte. Ohne große Umwege erreichten wir unser Ziel, die Stollwerck-Fabrik. Im Hof standen ein paar Mercedes, die da gar nicht hinpassten. Am Eingang stand June Miller. »Was, so viele?« Und fotografieren sollte der Andreas nur das Geschehen auf der Bühne, es wären einige sehr prominente Leute im Publikum. Als wir den eigentlichen Saal erreichten, sah ich Alfred Biolek, der alle Leute, die er kannte, mit einem Küsschen begrüßte. Ich bekam fast das Kotzen, als ich meine alte Feindin Helen Schneider hörte. Zum Glück würde die nicht auftreten. Der Bau war voll, ein paar hundert Leute waren erschienen. Ein paar auch von »Spex«, die Christoph kannte. Mir war nur mal vom Omo die Clara vorgestellt worden. Auf dem Scheißhaus pisste ich zuerst neben dem Zeltinger, dann stand Herbert Grönemeyer wieder neben mir. Wir redeten nicht großartig zusammen. Mittlerweile waren die illustren Gäste erschienen. Baum und Scheel samt Gattin. Auch ihre Tochter war da. Zu meinem Erstaunen paffte sie Selbstgedrehte, obwohl wir doch aus dem Munde ihrer Mutter wussten, wie schädlich das ist. Ich ging zu June. »Was ist mit dem Interview?« »Frag mal in der Garderobe nach Dave, dem Tourmanager.« Den fand ich auch. Er stellte mich Simon Jeffes vor, dem Chef des Orchesters. Sie würden noch ein paar Tage bleiben, um in »Bio’s Bahnhof« aufzutreten. »Wie wär’s mit Mittwoch, hier in Köln, Lasthaus, zehn Uhr?« War okay. Ich ging erst mal ein Würstchen essen und stellte mich an den Bühnenrand. Ein Engländer, älteres Semester, fragte mich nach Kokain, das ich natürlich nicht hatte. Ich sagte ihm, dass wohl auch zu viele Bullen hier wären. Er nickte und deutete auf die Politiker. »I know what happened in Stammheim.« Endlich trat die Kapelle auf, ein halbes Dutzend Leute. Sie klangen orientalisch. Auch ihre Version von »Walk, Don’t Run«, das ich von den Ventures her aus den 60er Jahren kannte. Das Publikum schien sich wenig um die Musik zu kümmern. Jedenfalls soffen die meisten ungeniert und laut weiter. Schickeria. Hier erlebte ich das zum ersten Mal direkt. Ich ging rum und versuchte festzustellen, wer wohl ein Polizist in Zivil war. Nicht rauszukriegen. Nach ’ner halben Stunde Konzert, während dem Andreas Fotos gemacht hatte, hatte ich endgültig die Schnauze voll. Ich animierte die andern zum Abhauen. Die hatten auch keine Lust mehr. Irgendwie passten wir alle nicht hierher. Ich ließ mich noch ins Rotthaus bringen und trank ein paar Bier. Ich wäre am liebsten noch länger geblieben, denn Heike, in die ich verliebt war, bediente. Einmal mit der ficken. Es war aber Polizeistunde und sie warf mich sanft raus. Am nächsten Tag war ich morgens in der Stadt, unter anderem im ALRO. Ich sagte dem Charly, dass ich einen Artikel über das Penguin Cafe Orchestra in der Mache hätte. Ob er mir vielleicht noch die erste LP von denen besorgen könnte, die war ja nun schon jahrelang aus dem Handel. Einen Moment. Dann zog er die schwarze Platte aus dem Regal. Ich hörte mir die Scheibe ein paar Mal an und wurde so zum Fan des Penguin Cafe Orchestras. Mein Vater fuhr mich und Karl-Heinz abends in die Zeche. Scheißwetter, da wird kaum einer kommen. Selbst Monika war noch nicht da. Ich sagte einem Zechenangestellten, er solle die Schallplattenanlange ins Café bringen. Machte er auch freundlich. Karl-Heinz ging schon mal hoch und machte eine Art Generalprobe. Ich wartete und wartete. Endlich kam Monika. Nicht ganz überraschend meinte sie: »das Wetter.« Sie würde um acht als Erste lesen. Danach käme ich dran und schließlich, da es sich um eine offene Lesung handelte, konnte, wer wollte, noch was zum Besten geben. Ein paar Leute, offensichtlich Bekannte von Monika, trudelten ein. Sie ging schon mal mit ihnen ins Café, während ich weiter unten warten wollte, auf das ein paar meiner Fans kommen würden. Immerhin erschien der treue Hiby und zu meiner großen Überraschung die Sabine, die mir noch einige Tage vorher im Rotthaus erklärt hatte, in die kommerzielle Zeche ginge sie nicht rein. Nun war sie also doch da. Ich fragte mich, wieso sie ihre Ansicht geändert hatte. Monika las ihre Sri-Lanka-Gedichte vor ungefähr zehn Männeken. Ich hörte ein bisschen zu. Nichts für mich. Ich ging wieder runter in die Kneipe. Man hatte mir versichert, ich hätte frei saufen. Das wollte ich ausnutzen. Ich war schon leicht schicker, als endlich eine Meute reinkam, mit der ich gar nicht gerechnet hatte. Mit Wilfried Glöck an der Spitze erschien ein Trupp von der Wilhelmshöhe, die ich nicht eingeladen hatte. Umso größer war meine Freude. Es waren so sechs, sieben Mann. Ich erklärte ihnen, dass ich noch nicht dran war und dass es noch ein bisschen dauern würde. Wilhelmshöher bei einer Dichterlesung – das war ein Dingen. Aber es würde ja keine dieser üblichen Veranstaltungen werden, dafür würde ich schon sorgen. Erst mal soff ich weiter und ging hoch. Monika war fertig und nun würde diskutiert. Ich mochte nicht zuhören und ging weiter mit den Kumpels saufen, die sich im Sputnik getroffen hatten. Der Kneipe, die ja in meinem Text eine besondere Rolle spielte. Bodo war da, der auch zeitweise mit meinem Bruder und den Jungs gekloppt hatte. Monika gab mir ein Zeichen. Sie war fertig. Ich sagte den Jungs Bescheid. »Kommt rauf.« Karl-Heinz legte eine Scheibe der Penguins auf, das war ja tatsächlich schöne Kaffeehausmusik. Als ich vermutete, dass alle da waren, sagte ich Karl-Heinz Bescheid. Er legte eine Kassette ein und schon ertönte die Stimme von Tim Rice. »And now from Germany«, und dann, mit viel Hall, »Wolfgang Welt«. Diese Einleitung war Karl-Heinz gelungen und kam auch beim Publikum gut an, das applaudierte. Dann las ich, wie ich es nannte, zwei Grußadressen vor. Von Müller-Schwefe und von Lodemann, die bedauerten, nicht kommen zu können. Bevor ich richtig loslegen konnte, kam einer von dem Veranstalter BO-LIT. Ich sollte bekannt geben, wann die nächste Lesung stattfinden würde. Dann konnte ich endlich anfangen. Ich war keinesfalls besonders aufgeregt, sondern in einer wunderbaren Stimmung, vielleicht hervorgerufen durchs Bier. Ich war gut drauf. Zuerst las ich den Kulturkalender der »WAZ« vor. Aller mögliche Scheiß war da angekündigt, nur unsere Lesung nicht. Auch war der Kulturredakteur nicht erschienen, obwohl er das der Monika versprochen hatte. Als ich fertig war, knüllte ich die Zeitung zusammen und das Publikum klatschte. Ich dachte an eine längere Sitzung. So las ich dann auch nicht sofort den Text vor, sondern ging auf die Widmungen ein. Ich redete frei. Über jeden der Genannten improvisierte ich ein bisschen und ließ Karl-Heinz zu manchem eine Platte vorspielen. Zum Beispiel zu Sheila vom Rotthaus den gleichnamigen Song von Tommy Roe. Es machte mir richtig Laune und dem Publikum schien es auch einigermaßen zu gefallen. Jedenfalls beschwerte sich keiner. Andreas und eine mir unbekannte Fotografin schossen Bilder. Endlich, ich machte keine Pause, kam ich zu »Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe«. Hier war ich nicht so in meinem Element. Vorlesen lag mir nicht. Aber ich zog die Sache durch, bis ich nach insgesamt zwei Stunden die Schnauze voll hatte. Petra Schmitz kam angelaufen. »Wieso hast du so lange gemacht? Da war noch ’ne Lehrerin, die auch lesen wollte.« »Warum hat sie sich nicht gemeldet? Ich hätte sofort aufgehört.« Ich trank mit Karl-Heinz und ein paar anderen noch ein Bier. Dem Glöck hat’s gefallen. Er würde beim nächsten Mal wiederkommen. Hiby brachte Karl-Heinz und mich nach Hause. Ich stellte mir den Wecker auf acht, weil ich ja um zehn in Köln sein musste. Ich hatte einen Kater, aber er war erträglich. Ich war mit dem Abend zufrieden. Endlich schickte ich den Text auch an Müller-Schwefe.