Stoner McTavish - Schatten

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Stoner McTavish - Schatten
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Sarah Dreher

Stoner McTavish

Schatten

Stoners 2. Fall

Deutsch von

Else Laudan und Martin Grundmann

Ariadne Krimi 1023

Argument Verlag

Ariadne Krimis

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Something Shady

© 1987 by Sarah Dreher

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 1991, 2017

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040 / 4018000 – Fax 040 / 40180020

www.argument.de

Titelgrafik: Johannes Nawrath

ISBN Buch: 978-3-88619-523-7

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN EPUB: 978-3-86754-880-9

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapiel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Fußnoten

Für Nancy,

eine geliebte und liebende Freundin

Kapitel 1

Sie kamen näher.

Krallige Klauen knirschten im Kies. Hielten inne. Das Geräusch von Schnüffeln. Wispern. Schweigen. Schnüffeln. Wispern. Schweigen. Schnüffeln. Schweigen.

Nebel verdichteten sich zu ungestalten Formen, verwandelten sich zurück in Nebel.

Weit unten gischtete das Meer gegen zerklüftete Felsen.

Horch. Horch auf das Meer.

Irgendetwas kroch über ihren nackten Fuß. Sie sah hinunter. Ein Skorpion, rot wie frisches Blut. Er schmeckte prüfend die Luft.

Nicht bewegen.

Nicht atmen.

Ihre Haut war klamm von Salz und Angst.

Das Insekt kroch ein paar Millimeter vorwärts.

Hielt inne. Sein Schwanz vibrierte.

Kältewellen liefen ihr das Rückgrat hinauf. Ihre Lippen waren taub.

Ich muss schreien.

Sie werden mich entdecken, wenn ich schreie.

Sie erschauerte.

Der Skorpion erstarrte.

Nimm ihn weg. Nimm ihn weg. Oh Göttin, nimm ihn WEG!

Wenn ich nicht schreie, werde ich verrückt.

Wenn ich mich bewege, sterbe ich.

Sie schloss die Augen …

… und fühlte seine kleinen Füße wie weiche Haare über ihre Haut streichen.

Panisch griff sie nach ihm. Er stach sie in den Fuß, in die Finger. Sie riss ihn heraus. Es zerfetzte ihr die Haut. Sie schleuderte seinen Körper in den Nebel.

Das Wispern kehrte zurück, legte sich um sie. Das unendlich leise Zischeln von Regen auf trockenem Laub. Sie strengte sich an, Worte zu verstehen.

»Sieh, sieh, sieh, sieh.«

Das ist ein Traum. Ich kann aufwachen.

Aufwachen.

Sie schloss die Augen und zwang ihr Bewusstsein in die Wirklichkeit.

Ihr Schlafzimmer war dunkel. Regen lief am Fenster hinab. Hinter der Glasscheibe das gedämpfte blaue Licht der schlafenden Stadt. Boston.

Ich bin wach.

Ihr Herzschlag beruhigte sich.

Steh auf. Mach Licht an.

Sie konnte sich nicht bewegen.

Irgendwo über ihrem Kopf ertönte das gehässige Kichern eines Kindes. Der Nebel umschloss sie dichter, umschmeichelte ihr Gesicht wie ölige Ranken.

Knistern von trockenem Gras.

Schritte?

Wind?

Die Luft war ruhig wie im August.

Kalt.

Nur der Nebel bewegte sich … und irgendetwas im Nebel.

Eine Mauer in ihrem Rücken. Ein Haus. Grobe Mauerschindeln. Abblätternde Farbe. Finde die Hausecke.

Taste dich zur Hausecke vor. Schleich dich hinters Haus.

Uralte Planken von der Sonne gewärmt.

Aber da war keine Sonne. Nur der Nebel, der kalte Nebel.

Das Holz begann sich unter ihrer Hand auszudehnen.

Und zusammenzuziehen.

Das Haus atmete.

Sie stieß sich ab und blickte an ihm hoch. Monströses, zerfallenes Relikt. Ein Fensterladen hing an einem einzelnen Scharnier. Weiße Säulen, rissig und geborsten. Blinde Fensterscheiben mit spinnwebartigen Sprüngen. Der aufsteigende Geruch von Thymian.

Ein langsames rhythmisches Beben ließ den Boden erzittern. Sie lauschte nach dem Ursprung. Es kam vom Haus.

Maschinen. Schiffsmaschinen.

Keine Maschinen. Herzschläge.

Der Herzschlag des Hauses.

Sie wich zurück und wollte schreien. Nebel rollte sich über ihre Zunge, glitt in ihren Rachen. Ihre Füße berührten den Kies. Über ihr begann das Dach aus Schieferschindeln zu schmelzen.

Sie machte einen Schritt …

… und fiel!

»Stoner, Liebes, du hast einen Alptraum.«

»Was?«

»Wach auf, Stoner.«

Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Tante Hermione?«

Die ältere Frau thronte auf der Bettkante und trank Tee. Ihr Pfauenkimono glänzte im grauen Licht. »Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

»Sekunde.« Sie blickte sich im Zimmer um und machte Inventur. Eichenschreibtisch, Lesepult, Bücherregal, Stehlampe, Hocker, Fenstersessel, altweiße Wände, burgunderfarbene Vorhänge, gerahmtes Foto der Tetons. Alles am richtigen Platz.

»Was hältst du davon, nach Maine zu fahren?«

»Ich kann nicht nach Maine fahren. Ich muss arbeiten.« Sie nahm die Teetasse ihrer Tante, nippte daran und schüttelte sich. »Mate.«

»Die Indianer Südamerikas haben ihn jahrhundertelang getrunken.«

»Ich brauch was Stärkeres.«

»Auf deinem kleinen Tischchen steht Kaffee, Liebes.«

Kalt. Na gut. Sie kippte ihn runter. »Wie lange sitzt du hier schon?«

»Ein paar Minuten.«

»Und beobachtest mich beim Schlafen

Ihre Tante wurde steif. »Natürlich nicht. Sich in die Privatsphäre anderer einzuschleichen ist eine Sünde, die das Karma belastet, Stoner.«

»Gott sei Dank!«

»Der«, schnaufte Tante Hermione, »der würde doch als Erster in unseren Herzen herumschnüffeln, der alte Wichtigtuer.«

»Bestimmt hast du recht«, murmelte Stoner und schob die Bettdecke zurück. Der Alptraum ging ihr wie eine Schuld nach. Kalter Kaffee hatte nicht geholfen, vielleicht kaltes Wasser … Sie stolperte ins Badezimmer.

»Soll ich für dich packen, Liebes?«

»Was packen?«

»Was immer du willst.« Tante Hermione rückte eine weiße Haarlocke zurecht. »Und wenn du meinen Rat hören möchtest …«

Stoner sackte gegen den Schreibtisch.

»… du solltest dich warm anziehen. Maine ist ekelhaft im März.«

»Alles ist ekelhaft im März. Ich kann nicht nach Maine fahren.«

Ihre Tante seufzte schwer. »Es gibt eine hauchdünne Grenze zwischen Hartnäckigkeit und Sturheit, Stoner. Ich wünschte, du würdest sie nicht so oft überschreiten.«

»März bedeutet Frühjahrsferien. Frühjahrsferien bedeuten Kreuzfahrten und Charterflüge in die Karibik. Kreuzfahrten und Charterflüge in die Karibik bedeuten Arbeit. Stornierungen. Verwicklungen. Verlorenes Gepäck. Chaos, Tante Hermione, totales Chaos.«

Die ältere Frau setzte sich die Brille auf und prüfte Stoners Bücherschrank. »Fahr in die Karibik, wenn dir danach ist, aber es würde unser Problem nicht lösen. Hast du Agatha Christie ausgelesen?«

Stoner sah alarmiert auf. »Welches Problem? Haben wir ein Problem?«

»Ich verstehe einfach nicht, wie du es fertigbringst, May Sarton zu lesen. Sie ist so kopflastig.«

»Es war eine Liebesgabe.« Sie ballte die Fäuste. »Tante Hermione, was für ein Problem?«

»Eine Gabe«, sagte Tante Hermione, die eine misshandelte Nancy Drew-Originalausgabe aus der ›Blauen Reihe‹ inspizierte. »Wunderbar. Ich kann meinen Freundinnen erzählen, ich habe eine Nichte mit Gaben.«

In höchstens siebenunddreißig Sekunden wirst du eine Nichte mit Psychosen haben. »Tante Hermione …«

Tante Hermione drehte sich um und spähte über ihren Brillenrand. »Claire Rasmussen.«

 

»Wer ist Claire Rasmussen?«

»Die Schwester von Nancy Rasmussen. Ich wusste nicht, dass du einen Urlaub in die Karibik geplant hattest. Fährt Gwen auch mit?«

Stoner raufte sich wild mit beiden Händen die Haare. »Gwen muss unterrichten.«

»In den Frühjahrsferien? Kein Wunder, wenn der Lehrerverband den Aufstand probt.«

Irgendetwas rastete aus. »Ich fahre nicht in die Karibik! Andere Leute fahren in die Karibik. Und ich muss sie dahin bringen.«

»Stoner, wenn diese Leute meinen, sie müssten unbedingt in die Karibik, dann werden sie schon irgendwie hinkommen.«

»Genau, und deshalb wäre es mir lieb, sie würden mit Kesselbaum & McTavish hinkommen und nicht mit TUI.« Sie angelte frische Unterwäsche aus einer Schublade.

»Ich habe dir schon tausendmal gesagt«, beharrte ihre Tante, »Kesselbaum & McTavish ist dazu ausersehen, erfolgreich zu sein. Nicht rasend erfolgreich, aber erfolgreich.«

»Wir müssen nur noch entsprechend arbeiten.«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Tante Hermione ließ sich mit Agatha Christie auf dem Rand der Badewanne nieder. »Man muss sich wohl gelegentlich blicken lassen, nicht wahr?«

»Genau. Und zwar muss man sich pünktlich blicken lassen, also wenn es dir nichts ausmacht …« Stoner deutete zur Tür.

»Angenehmes Duschen, Liebes«, sagte Tante Hermione freundlich. »Wenn sich deine Laune etwas gebessert hat, können wir ein nettes kleines Gespräch über Claire Rasmussen führen.«

»Ich kenne niemanden namens …«

Sie stellte fest, dass sie mit der Badezimmertür sprach.

***

»Claire Rasmussen?«

Tante Hermione schenkte sich eine weitere Tasse Matetee ein. »Sie ist verschwunden. Wir sprechen darüber, wenn du etwas gegessen hast. Du bist immer ausgesprochen unausstehlich vor dem Frühstück.«

»Immer?«

»Jeden Morgen, seit sechzehn Jahren, bist du unausstehlich. Warst du schon so unausstehlich, bevor du dein Elternhaus verlassen hast?«

»Vermutlich.« Sie bestrich ein Milchbrötchen mit Butter. »Oh Göttin, muss ich langweilig sein.«

»Findest du? Ich fand es immer sehr angenehm. Soll da wirklich die ganze Butter draufbleiben, Stoner? Sie ist so fett.«

»Ich brauch das, um den Tag durchzustehen.«

»Du isst nicht genug.« Tante Hermione nahm ihren eigenen Teller in Augenschein, kaum noch zu sehen unter einem Berg Rührei, Toast mit Marmelade und sechs Scheiben Schinkenspeck. Daneben stand ein Schälchen mit Krautsalat, übrig vom Vorabend. »Ich allerdings futtere wie ein Fernfahrer.«

»Ohne jemals ein Gramm zuzunehmen. Wie machst du das bloß?«

»Das ist die Arbeit. Manchmal saugen die Sitzungen an meinen Energievorräten wie ein Elektrolux. Vielleicht sollte ich mir doch lieber ein Haustier als Medium zulegen, aber das kommt mir irgendwie so unpersönlich vor.«

»Warum grübeln, solange dir das Essen Freude macht.«

»Das war sehr inspiriert«, sagte ihre Tante strahlend. »Du bist immer so gut im Finden von Entschuldigungen.«

»Mutter behauptet, es ist das, was ich am besten kann.«

»Meine Schwester ist eine dumme Frau. Sie war auch ein dummes Kind, schon damals. Wenn ich nur daran denke, wie sie erst als Mutter gewesen sein muss … mir wird ganz anders.«

»Oh ja«, sagte Stoner. »Allerdings.«

Tante Hermione sah sich in der Küche um. »Wir brauchen einfach mehr Chrom.«

»Ich kann nachher auf dem Nachhauseweg welches aus der Apotheke mitbringen, oder brauchst du es jetzt sofort?«

»Verzeihung, was meinst du?«

»Wenn sie es in reiner Form nicht dahaben, soll ich dann so eine Tablettenmischung nehmen?«

»Stoner, um alles in der Welt, wovon sprichst du?«

»Na, von Chrom. Spurenelementen …«

Ihre Tante brach in schallendes Gelächter aus. »Doch nicht solches Chrom. Chrom, wie in Handtuchhaltern, Zuckerdosen, Radkappen. Fernfahrerkneipenchrom.«

»Wenn ich vorhätte, nach Maine zu fahren«, spöttelte Stoner, »könnte ich dir irgendeinen Kram von einem Flohmarkt mitbringen.«

Tante Hermione zuckte mit den Achseln. »Ich wünsche dir viel Spaß. In Maine finden, besonders in der Zwischensaison, hemmungslose Volksfeste statt.« Sie musterte den Raum. »Es wäre nett, die Küche im Fernfahrerdesign zu erneuern. Wir könnten das kleine Brokatsofa durch Barhocker ersetzen …«

»Ja, mit zerrissenen roten Plastikbezügen.« Sie schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein.

»Und die Wände rosa streichen. Unser ganzes Essbesteck hat ein einheitliches Design. Dagegen müssen wir unbedingt etwas tun.«

»Bunte Karovorhänge statt weidengeflochtener Vogelkäfige an den Fenstern«, sagte Stoner, die begann, Gefallen an der Sache zu finden.

»Wir brauchen ein Hinterzimmer. Vollkommen dunkel, nur mit einem roten Lämpchen für ungewöhnliche Zwecke. Und Herrenmagazine.«

»Herrenmagazine!« Sie verschluckte sich an ihrem Kaffee. »Heutzutage nennt man das Pornos, Tante Hermione.«

Die Augen der älteren Frau gerieten ins Träumen. »Ich hab mal in der größten Fernfahrerkneipe der Welt gegessen. Das war in Xenia, Ohio. 1956. Ich war unterwegs zu einem Psychologinnenkongress am Barea College. Ethel Morrissey war bei mir. Sie entmaterialisierte sich 1963.«

»Hörst du noch manchmal von ihr?« fragte Stoner.

»Nicht oft. Sie interessierte sich nicht sonderlich für die materielle Ebene. Außer für die Xenia-Fernfahrerkneipe.«

»Vielleicht schaut sie ja mal vorbei, wenn wir die Küche renoviert haben.«

»Was denn, Stoner«, sagte Tante Hermione, »ich dachte, du glaubst nicht an Geister.«

»Tu ich auch nicht, aber ich bin zu müde zum Diskutieren.«

»Denk an meine Worte, irgendwann dieser Tage wirst du eine Offenbarung haben …«

»Nicht im März.«

Tante Hermione aß das Rührei auf. »Wenn wir ins Fernfahrermilieu wechseln, meinst du, dass ich mich dann von meinem Aschenbecher trennen muss?«

Der Aschenbecher war fest in die Mitte des Tisches eingelassen und wirkte dadurch ein bisschen wie der Mittelpunkt des Universums. Er war alt und rissig, teilweise abgesplittert und mit dem goldenen Schriftzug ›Asch gefälligst hier rein‹ geschmückt.

»Ich finde«, sagte Stoner, »er ist so protzig, er passt zu allem.«

»Ich habe diesen Aschenbecher gewonnen«, verkündete Tante Hermione stolz. »1947 bei der Penny-Tombola unter den Arkaden von Old Orchard Beach.«

Stoner stand auf und durchforstete den Brotkasten auf der Suche nach weiteren Milchbrötchen.

»Marylou wäre schockiert«, fuhr ihre Tante fort, »aber ihre Mutter wäre bestimmt ganz wild darauf, einmal dorthin zu kommen. Da du gerade stehst, gib mir doch bitte noch etwas von dem Krautsalat.«

»Es ist mir ein Rätsel, wie du dieses Zeug schon morgens essen kannst«, sagte Stoner, hob ein paar Löffelvoll auf den Teller und versuchte, dabei nicht zu atmen.

»Koste doch mal davon, sehr erfrischend.«

»Nein, besten Dank.« Sie gab die Suche nach den Milchbrötchen auf, entdeckte einen halben Kirschkuchen im Kühlschrank und schnitt sich davon ein Stück ab.

»Vielleicht solltest du lieber alleine frühstücken?«

»Dann würde ich dich so gut wie nie zu Gesicht bekommen.« Sie nahm ihren Kaffee und kauerte sich wieder auf das Plaudersofa.

Tante Hermione seufzte. »Weißt du, ich würde nicht nachts arbeiten, wenn es eine bessere Möglichkeit gäbe. Aber manche Leute glauben einfach nicht, dass Wahrsagen auch bei Tageslicht funktioniert. Sosehr ich es hasse, ich muss solch kleingeistigem Zweifel Sorge tragen.«

»Ich würde lieber nachts arbeiten, wenn es möglich wäre.«

»Wenn du nachts arbeiten würdest, wann kämst du jemals dazu, Gwen zu sehen?«

Stoner starrte finster in ihren Kaffee. »Wann komme ich denn jetzt dazu?«

»Armer Schatz«, murmelte Tante Hermione. »Kein Wunder, dass du so betrübter Stimmung bist.«

»Ich vermisse sie. Ich kann sie verstehen, aber ich vermisse sie.«

»Ja, das ist das Schlimmste, Verstehen. Es macht einen ganz hilflos.«

Sie verweilten einen Augenblick in kameradschaftlichem Brüten.

»Ich wünschte, ich wäre besser im Tarot«, sagte Tante Hermione schließlich. »Die gestrige Deutung war zwar positiv, aber bei meinem augenblicklichen Wissensstand ist es schwierig, sicher zu sein.«

»Was macht denn dein Unterricht?« fragte Stoner.

»Grace D’Addario ist eine sehr engagierte Lehrerin, aber ich habe noch nicht so den rechten Zugang dazu gefunden. Und ich bin noch so unsicher, was die Umkehrbedeutungen angeht.«

»Gibt es da keine Regeln?«

»Wie alles im Leben hat auch das Okkulte seine Grauzonen.«

Stoner lachte. »Für mich ist das insgesamt eine Grauzone.« Sie lehnte sich zurück in das Sofa. »Willst du mir jetzt von Claire Rasmussen erzählen?«

Tante Hermione schob ihre Serviette durch den silbernen Serviettenring. »Bist du sicher, dass du ganz bei dir bist?«

»So nah ich mir selbst überhaupt sein kann.«

»Claire Rasmussen wird vermisst.«

»Ja?«

»Ich habe ihrer Schwester gesagt, dass du vielleicht versuchen würdest, sie zu finden.«

»Tante Hermione«, sagte Stoner ruhig, »nimm es mir nicht übel, wenn ich kleinlich bin …«

»Du kannst nichts dafür. Ein Charakterzug des Steinbock.«

»… aber könntest du vielleicht von vorne beginnen?«

»Claire ist Nancys Schwester. Nancy ist eine meiner Klientinnen, eine Krankenschwester. Erzähle ich zu schnell?«

»Nein, nein, wunderbar so.«

»Claire, ebenfalls Krankenschwester, hat eine Stellung in einer Privatklinik für psychisch Kranke irgendwo im Norden von Portland angenommen. Vor zwei Wochen erhielt Nancy einen kurzen, ziemlich rätselhaften Anruf von Claire, und seitdem geschah nichts mehr. Wir haben versucht, Schwingungen von ihr zu empfangen, aber es herrscht nur Dunkelheit.«

»Ominös«, sagte Stoner.

»Allerdings. Zu allem Überfluss war gestern Nancys Geburtstag. Claire hat noch nie vergessen, sie an ihrem Geburtstag anzurufen, bis jetzt.«

»Ich verstehe.«

»Nancy ist Widder, und einen beunruhigten Widder stellt nichts zufrieden außer jede Menge hektischer Aktivitäten. Ich sagte ihr, du wärest vielleicht bereit, nach Castleton zu fahren und dich dort umzusehen.«

Stoner zögerte. »Maine.«

»Ich weiß, was du denkst, Liebes. Diese schrecklichen Alpträume. Zerklüftete Küsten, alte Seefahrerhäuser, die vor Geistern und Bösem zerbersten … Aber wie dem auch sei, ich denke, es ist an der Zeit, dem Horror die Stirn zu bieten.«

»Du willst, dass ich meine Stirn in etwas stecke, das vor Geistern und Bösem nur so strotzt?«

»Dieses Haus will dir etwas sagen, Stoner. Ich fürchte, es wird nicht damit aufhören, bevor es das nicht losgeworden ist.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich es hören will.«

Ihre Tante lächelte beruhigend. »Arme Stoner. Wenn es um psychische Phänomene geht, wird dir ganz anders, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht an sie«, beteuerte Stoner standhaft. »Für dich sind sie in Ordnung, aber nicht für mich.«

»Ich versuche sie zu integrieren. Meine erste Erfahrung erschütterte mich so sehr, dass ich sieben Komma sechs auf der Richter-Skala notierte.«

Stoner lachte. »Na, das ist ja ausgesprochen erstrebenswert.«

»Also, was soll ich Nancy Rasmussen sagen?«

»Ich weiß nicht.« Sie betrachtete ihre Handflächen. »Ich würde gerne helfen, aber … wenn es doch nur nicht ausgerechnet Maine wäre.«

»Und wenn du jemanden mitnehmen würdest?«

Stoner schaute hoffnungsvoll hoch. »Dich?«

»Ich würde gerne mitkommen, aber die Anfängerinnen müssen auf Graces Übersinnlichem Wochenende arbeiten. Ich fürchte, ich werde die Tage mit Kochen und Koordinieren verbringen.«

»Marylou fällt aus. Sie hasst verreisen. Aszendent Krebs, du weißt doch.«

»Marylou hat ihre Bestimmung verfehlt«, sagte Tante Hermione. »Ein Skorpion mit Aszendent Krebs sollte ein Bordell leiten.« Sie blickte Stoner listig an. »Ich hatte eigentlich an Gwen gedacht.«

»Jetzt hab ich’s. Das ist einer deiner berüchtigten Manipulationsversuche.«

»Manipulation!«, schrie Tante Hermione auf. »Meine Liebe, ich würde niemals mit deinem Karma herumspielen.«

»Warum nicht? Könntest du davon blind werden?«

»Viel schlimmer. Ich könnte eine verhängnisvolle Leidenschaft für jemanden wie Uri Geller entwickeln. Der Kosmos ist bekannt dafür, mit schmutzigen Tricks zu arbeiten.« Sie spielte mit ihrer Gabel und räusperte sich. »Stoner, Liebes, während du in Maine bist … meinst du, du könntest … nach einem Kätzchen Ausschau halten? Nur nach einem ganz kleinen Kätzchen«, fügte sie schnell hinzu. »Ich weiß, du bist nicht besonders begeistert von Katzen, aber es müsste ja auch nicht so ein riesiges Monsterbiest wie Diablo sein. Ein niedliches, kleines, puschelig-kugeliges Kätzchen.« Sie schaute auf. »Vielleicht?«

 

Stoner grinste. »Jetzt kommen wir zum Kern der Wahrheit.«

»Ein süßes Kätzchen. Eines in der Farbe deines Haares, wenn du willst, obwohl ich noch nie ein kastanienbraunes Kätzchen gesehen habe.«

»Ist in Ordnung, Tante Hermione. Ich werd versuchen, ein Kätzchen für dich zu finden.« Sie streichelte die Hände ihrer Tante. »Du vermisst Diablo, nicht wahr?«

»Ich glaube schon. Tiere verbinden sich mit Teilen unserer Seele, wenn wir es zulassen. Und weil unsere Seelen immer noch miteinander verbunden sind, vermisse ich ihn natürlich manchmal – im materiellen Sinne. Er hatte so ein sinnliches Fell. Gerade gestern Morgen, kurz bevor ich richtig aufgewacht war, hätte ich schwören können, dass er zusammengerollt an meiner Schulter lag, so wie er es immer machte. Vielleicht war es sein Geist.« Sie lachte. »Deine Erfahrungen mit Diablo waren vollkommen anders, nicht wahr? Ihr hattet eine zänkische Beziehung.«

»Du schmeichelst der Wahrheit.«

»Aber du kannst ein Kätzchen an dich gewöhnen, solange es jung ist.«

Ich dachte da eigentlich eher an Erziehung als an Gewöhnung. Die Erziehung, sich nicht in meine Fersen zu krallen, keine toten Vögel ins Haus zu schleppen, nicht die Blauen McTavish-Fadenlos-Zwitter-Schnellwüchser-Springbohnen zu terrorisieren.

»Ich vermute, es gab eine geschwisterliche Rivalität zwischen dir und Diablo«, sagte ihre Tante. »Völlig normal unter den damaligen Umständen.«

»Er behandelte mich besser als die Blue Runners. Erinnerst du dich daran, wie er die gesamte Ernte auffraß und dir damit fast das Geschäft ruinierte?«

»Nicht nur meins. Denk nur an all die bohnenlosen Dachgärten in Back Bay. Wärest du nicht so schlau gewesen, noch ein paar Bohnen auf dem Boden meines Strickkorbes zu finden, wäre es das Ende einer Ära geworden.« Sie sah Stoner zärtlich an. »Manchmal weiß ich gar nicht, wie ich ohne dich zurechtkäme.«

»Es hätten sich schon noch mehr gefunden.« Vermutlich in der Kiste mit dem Familiensilber zwischen der Wäsche auf dem Dachboden, in der Erwartung, von wagemutigen Archäologinnen im Jahre dreitausend entdeckt zu werden. »Aber du, du bist wirklich einmalig, Tante Hermione.«

»Wofür die Welt vermutlich jeden Sonntagmorgen Dankeshymnen schmettert«, sagte Tante Hermione.

»Und ich schmettere täglich Dankeshymnen, weil, wenn es denn nur eine Hermione Moore auf der Welt geben kann, sie es einrichtete, meine Tante zu werden.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie Tante Hermione erröten. »Du beeilst dich jetzt besser«, sagte die ältere Frau. »Ich möchte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass du zu spät zur Arbeit kommst.«

Stoner zog ihren Regenmantel vom Haken neben der Hintertür. »Tante Hermione, war Diablo dein Medium?«

»Aber, Liebes, nein! Er war viel zu aggressiv. Ich habe noch niemals eine so aggressive Katze erlebt.«

»Ich hab die Narben, um es zu bezeugen.«

»Ich werde niemals den Tag vergessen, als er in die Schublade mit deiner Unterwäsche stieg«, sagte Tante Hermione glücklich. »Er fraß dir aus allen deinen Slips den Schritt heraus.«

Stoner packte fest den Türgriff. »Falls ich dich nicht behalten kann, kann ich dann Gracie Allen bekommen?«

Ihre Tante runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich glaube nicht, Liebes. Sie ist in frühestens vierzig Jahren zur Reinkarnation fällig.«

***

Die Fäuste in den Jackentaschen stapfte Stoner durch den Schneematsch und starrte auf die wässrige Straße, auf die kahlen, schwärzlich schimmernden Bäume, in die verstopften Rinnsteine voller Eis, Streusand und zerbeulten Bierdosen. Der späte Winterhimmel hatte die Farbe von Schimmel angenommen.

Boston. Es hieß, die Stadt wäre auf Müll gebaut worden. Tonnen von Müll einst in einen Sumpf gekippt. Sie zweifelte keine Sekunde daran.

Sie suchte nach dem Licht auf der Spitze des Hancock-Wolkenkratzers, aber der Nebel hatte es ausradiert. Eine Taube kauerte hinter einer Parkbank, ein grauschwarzes Klümpchen Elend. Die Schaufenster eines Drugstore waren mit Plüschhasen, Plastikeiern und unerschwinglichen Chantilly-Chocoladen-Creationen dekoriert.

Fröhliche Ostern, dachte sie. Wer sich bei diesem Wetter wiederbeleben lässt, ist wirklich nicht mehr zu retten.

Die Tür des Reisebüros klemmte wie üblich. Als sie sie mit der Hüfte aufstieß, wäre sie dabei fast in den warmen, muffigen Raum gefallen. Marylou sah von ihren Papieren auf.

»Guten Morgen. Können wir Ihnen behilflich sein?«

»Ich brauche eine Fahrkarte in die Hölle. Nur Hinfahrt.«

»Sie haben Glück. Es sind in letzter Minute noch zwei Plätze für eine Charter-Maschine frei geworden. Reisen Sie allein oder nehmen Sie den Herrn Gemahl mit?«

»Allein.« Voll Widerwillen hängte sie ihren Schal und den durchnässten Mantel über einen Haken im Kleiderschrank. »Tut mir leid, ich bin zu spät.«

Marylou wedelte mit der Hand, begleitet vom Klingeln silberner Armbänder. »Mach dir nichts draus.«

»War irgendwas los?« Sie fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar, ohne sich darum zu kümmern, in welche Richtung es sich legte.

»Nicht viel. Ein Besuch von Boston sehren werten Ordnungshütern mit der Warnung, vor Ladendieben auf der Hut zu sein. Ein paar Kreuzfahrt-Reservierungen – sie liegen auf deinem Schreibtisch. Und ein Klassenausflug der katholischen Grundschule ›Mutter der unbefleckten Empfängnis‹.« Marylou zupfte ihren Rock zurecht. »Ist dir jemals aufgefallen, dass der Regen die Nonnen hervorlockt?«

Stoner stählte sich und warf einen zaghaften Blick auf das oberste Regalbrett. Da oben konnte irgendetwas sein. Gehackte Leber, griechischer Salat, Döner. Einmal hatte sie ein zehn Pfund schweres Rad extrastarken Vermont Cheddar-Käse gefunden. Heute waren es gefüllte Eier, Dutzende gefüllter Eier, einige gesprenkelt mit grünen Flecken, andere mit roten und wieder andere mit etwas, was sie gar nicht so genau wissen wollte. »Marylou, was ist mit diesen Eiern?«

»Ostereier. Willst du eins?«

»Es ist zu früh am Morgen für Ostereier.« Sie streifte einen Stiefel ab, verlor das Gleichgewicht, fiel gegen die Wand und trat in eine Wasserlache. »Ich hasse mein Leben.«

»Schon wieder ’ne üble Nacht gehabt, hm?«

»Grausam. Tante Hermione möchte, dass ich nach Maine fahre.«

Marylou wählte drei Eier aus, legte sie ordentlich auf eine Papierserviette und trug sie zu ihrem Schreibtisch. »Um zwischen Moos und Blaubeeren herumzutollen?«

»Um jemanden zu suchen. Eine ihrer Klientinnen hat eine Schwester verloren.«

»Das klingt übertrieben sorglos.« Sie schnippte sich etwas Eigelb von ihrer Bluse.

»Ich denke, ich hab keine Lust auf Maine«, sagte Stoner und sammelte das Eigelb auf, um es in den Papierkorb zu werfen.

»Sag nein.«

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

»Nach allem, was sie für mich getan hat?«

»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Tante Hermione Punkte zählt, Schätzchen.«

Stoner blätterte die Post durch. »Das ist nicht die Frage.«

»Also, was gedenkst du zu tun?«

»Fahren, nehme ich an.«

»Allein?«

»Wenn du dich nicht anschließt.«

Marylou kreischte.

»Genau so hatte ich mir das vorgestellt.«

»Nimm die Witwe mit.«

Stoner schüttelte den Kopf. »Gwen würde nicht mitkommen.«

»Hast du sie gefragt?«

»Nein.«

»Woher willst du dann …«

»Ich weiß es eben, das reicht. Sie hat zu tun. Sie hat immer zu tun.«

Marylou zuckte mit den Schultern. »Du musst ja wissen, was du tust. Die Kreuzfahrt-Reservierungen, bitte.«

Sie ging an ihren Schreibtisch und nahm das erste Blatt vom Haufen. Anguilla, um Gottes willen. Sie griff den ›Dumont‹ und las die Beschreibung durch.

»57 Quadratkilometer unfruchtbares, aalförmiges Land, von Stränden gesäumt …« Unfruchtbar? Aalförmig? Wunderbar. »Schlängelt sich 25 Kilometer lang.« Gute Göttin. »Wer auch immer Ihnen gerade begegnet, wird Sie willkommen heißen und Ihnen das Gefühl geben, Sie seien zu Hause.« Robinson Crusoe, ohne Zweifel.

Fünf Hotels. Wir empfehlen das ›Hotel Spitzkehre‹ am Kap der Stürme. Das ist doch ein Name, der die Seele wärmt und die Sinne entzückt.

Die Leute, wer auch immer sie gerade sind, werden Anguilla hassen. Willkommen geheißen von Wer-auch-immer-ihnen-gerade-begegnet, gibt es zwölf Stunden nach ihrer Ankunft einen Militärputsch. Sie werden unter Hausarrest im charmanten ›Hotel Spitzkehre‹ gestellt, wo umgehend Sushi und Wein knapp werden. Drei Tage später schickt der Präsident ›Friedenstruppen‹, also finden sie sich in einem Militärjumbo eingepfercht wieder. Der wird leider von libyschen Terroristen entführt, die ihn nach Algier fliegen. Algier verweigert ihnen die Landeerlaubnis. Also versuchen sie es in Johannesburg, Athen, Frankfurt und Havanna, bevor sie schließlich auf den Falkland-Inseln aufsetzen, während die ganze Nation zur Geisel von Cable-News-TV geworden ist. Wenn dann alles überstanden ist, werden sie auf der Andrews-Luftwaffenbasis von einer Meute frisch rasierter Reagan-Fans, ›Born in the USA‹ grölend, in Empfang genommen. Sie (müde, zerzaust und unfotogen) werden von einem Bataillon Radio- und Fernsehreporter interviewt und dann zum Weißen Haus hinübergefahren, auf Straßen, die durch gelbe Bänder zwischen den Bäumen abgesperrt sind, während ihr Gepäck auf Nimmerwiedersehen in Richtung Guatemala entschwindet. Kesselbaum & McTavish wird selbstverständlich für alles verantwortlich gemacht. Wir müssen ihnen ihre Gelder zurückerstatten und werden von ihnen gerichtlich für erlittene Traumata belangt.

Sie warf das Buch auf den Schreibtisch zurück. »Vergiss Anguilla. Wir können uns den Prozess nicht leisten.«

»Entschuldige, wie?«

»Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du gerade telefonierst.«