Die Welt, die ihr nicht mehr versteht

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Die Welt, die ihr nicht mehr versteht
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Samuel Koch:

Die Welt, die ihr nicht mehr versteht

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Isabella Starowicz

Satz: Lucas Reisigl

Samuel Koch auf Facebook,

Instagram und Twitter: @samandrewkoch

ISBN 978-3-99001-362-5

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

VERANTWORTUNG

BESCHLEUNIGUNG

FORTSCHRITT

DATEN

ARBEIT

POLITIK

UTOPIE

BILDUNG

Die Zukunft ist schon da, wir haben sie nur übersehen.
Ein Vorwort von Ali Mahlodji

Keine Konferenz in Europa kommt heute ohne das Schlagwort »Digitalisierung« aus, zumeist ist es noch angereichert und garniert mit den Wörtern »Disruption«, »künstliche Intelligenz« und »New World of Work«. Voila, fertig ist die perfekte Diskussionsrunde, um über das Lieblingsthema unserer Zeit zu sprechen: die Gestaltung unserer Zukunft.

Was bleibt, sind oftmals mehr Fragen als Antworten und zumeist scheint es, als würden die Teilnehmer solcher Konferenzen händeringend nach Rezepten suchen, die uns zukunftsfit machen – jedoch fällt bald auf, dass sie auf der Zutatenliste der Lösungen eine komplette Generation nicht bedacht haben, um die es eigentlich geht und welche »die Zukunft« ausbaden darf, die heute von Experten bestimmt wird.

Was mir in dieser Diskussion persönlich auch auf den Magen schlägt ist die Tatsache, dass sich alle – Politiker, Firmenlenker, Gesellschaftsphilosophen und Entscheider – zutiefst einig sind, dass unsere Welt gerade an einem Scheideweg steht und dass es um die Zukunft der Jugend geht, die jedoch in dieser Diskussion keinen Raum bekommt.

Wir Erwachsenen müssen uns schleunigst bewusst werden, dass Zukunft nur gestaltbar ist, wenn wir alle Generationen mitnehmen, und zwar besonders diejenige, die schon in dieser Zukunft lebt.

»Die Jugend von heute!« ist eine Floskel, die viele immer noch verwenden und die sehr gut aufzeigt, wie sehr es am Respekt gegenüber der jungen Generation mangelt.

Wir vergessen zum Beispiel zu gerne, dass wir bereits seit Jahrzehnten vom menschengemachten Klimawandel wissen, es jedoch erst »die Jugend von heute« ist, die mit Fridays for Future den globalen Fokus auf den Überlebenskampf gelegt hat. Wir glauben gerne, dass wir die Experten sind, vergessen gleichzeitig aber, dass unsere Expertise oftmals nur das Abbild unserer Vergangenheit ist und wir uns dadurch einschränken, der unbekannten Zukunft eine Chance zu geben.

Es sind auch nicht die politischen Führer dieser Welt, die zum Umdenken anregen. Nein, es sind die jungen Menschen, die dafür stehen, dass die Jugend keinen Respekt mehr vor Tradition, sondern nur mehr vor der Vernunft hat, um unsere Welt in die richtige Richtung zu treiben.

Der Scheideweg, an dem wir als Gesellschaft gerade stehen, entscheidet darüber, wer wir sein wollen und vor allem wie.

In welchem Klima wollen wir leben, wie schützen wir die Schwächsten der Gesellschaft und wie schaffen wir es, dass die zunehmende Automatisierung alle zu Gewinnern einer technologischen Revolution macht? Wir wissen, dass künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, zunehmende Digitalisierungsmaßnahmen, 5G-Netze und eine neue Welt der Arbeit bereits 2019 schon Realität sind, doch fehlen uns die Werkzeuge, diese Themen zu verstehen.

Und wer nicht versteht, der kann nicht mitreden.

Um diese Fragen der digitalisierten Welt zu beantworten, müssen wir verstehen lernen, unsere Neugierde wieder auspacken, um uns auf Augenhöhe mit denen einzulassen, welche bereits in einer Dekade die Erwachsenen der Zukunft sein werden – die Jugendlichen. Samuel Koch, selbst »einer dieser Jugendlichen«, hat ein Buch geschrieben, mit dem er uns Erwachsenen zeigt, in welcher Welt wir heute schon leben, und er tut das schonungslos. Er provoziert ab dem ersten Absatz – nicht mit dem Samthandschuh, sondern elegant und direkt mit dem Vorschlaghammer.

Wer Samuel privat kennt, der weiß, dass seine Sprache eigentlich Weisheit, Achtsamkeit und Intellekt miteinander verbindet. Doch gerade bei diesem Buch hat er sich selbst, Gott sei Dank, die Erlaubnis gegeben, falschen Respekt abzulegen.

Ein Buch, das Zukunftsverweigerer aufwecken soll, muss laut sein, muss für Schüttelfrost in altgebackenen Denkmustern sorgen und darf alles, nur nicht stehen bleiben.

Ich habe es genossen, Seite für Seite auf eine Fahrt mitgenommen zu werden, die mit jedem Satz Lust auf mehr gemacht hat. Mehr verstehen, mehr infrage stellen und mehr der Jugend vertrauen.

Als ich Samuel vor einigen Jahren kennenlernen durfte, fiel mir recht bald auf, dass ihm in all seinen Projekten der gesellschaftliche Impact wichtig war.

Obwohl erst 25 Jahre jung, lebt er heute schon seine Mission, welche die Welt verändern kann: Menschen fit für die Zukunft zu machen. Und das ist beeindruckend in einer Instagram-Welt, in der zunehmend das Außenbild wichtiger erscheint als der innere Wille, in dieser Welt einen Impact zu schaffen.

Sein junges Alter verbindet Samuel mit einer tiefgründigen Weisheit und einer Ausdauer, die es heute in Kombination braucht, um uns Erwachsene von unserem hohen Ross herunterzuholen. Das Buch ist ohne Frage frech, jedoch niemals beleidigend und ich denke, diese Bodenständigkeit spricht aus seinen geschriebenen Zeilen, man erkennt sie an seinen Wurzeln, welche im kleinen, wunderbaren Deutschlandsberg in der Südweststeiermark liegen.

Manchmal erinnert er mich an ein Flugzeug. Flugzeuge heben nur ab, wenn sie gegen den Wind starten. Und so geht Samuel trotz des eisigen Gegenwindes gegenüber der Digitalisierung den Weg des Predigers, der mit dem Erklimmen jeder Mauer noch mehr in seiner Stärke wächst.

Samuel hat mit diesem Buch nicht nur den eindringlichsten Wegweiser ins digitale Zeitalter geschrieben, sondern auch ein Werk, das auf den Tisch eines jeden Erwachsenen gehört. Das Zeitalter, das auf uns zukommt, von derjenigen Generation erklärt zu bekommen, welche die Zukunft bestimmen wird, ist ein Geschenk, und ich bin stolz drauf, dass dieses neue Standardwerk für die Beantwortung der Frage »Wie geht Zukunft?« nicht aus den USA oder aus China kommt, sondern mitten aus dem Herzen Europas.

Und an alle Erwachsenen: Der Jugend, ja der müssen wir vertrauen lernen. Unserer Vergangenheit sollten wir dankbar sein, doch um Zukunft schreiben zu können, müssen wir Vergangenes entlernen.

Mit »Die Welt, die ihr nicht mehr versteht« machen wir uns auf die Reise und mit Samuel haben wir einen Reisebegleiter an der Hand, dem es ein ehrliches Anliegen ist, dass uns diese Revolution nicht abhängt.

– Ali Mahlodji, Berlin 2019

(Ali Mahlodji ist EU-Jugendbotschafter, Mitbegründer von Europas größter Berufsorientierungsplattform whatchado und Trendforscher beim Zukunftsinstitut.)

»Die Welt, die wir brauchen, werden nicht jene erbauen, die die Welt, die wir haben, stützen.«

Das sagt Daenerys Targaryen, eine der Hauptfiguren der Serie »Game of Thrones«, in der letzten Staffel. Auch wenn sich Daenerys am Ende als ziemliches Scheusal entpuppt, hat sie damit recht.

VERANTWORTUNG

Ich fordere euch auf, euch zurückzuziehen, oder euren Rückzug jetzt vorzubereiten. Überlasst eure Positionen, welche auch immer das sind, jemandem von uns, also jemandem aus der jungen Generation, und nehmt selbst beratende Funktionen im Hintergrund ein. So wäre es angesichts dessen, was die digitale Revolution schon gebracht hat und was sie in Zukunft noch bringen wird, für euch selbst, für uns, für die Gesellschaft und für den ganzen Planeten am besten. Denn ihr habt den Anschluss an den technologischen Wandel, der alle Lebensbereiche durchdringt, verloren.

Ihr benützt eure Handys, seid in den sozialen Medien vertreten, diskutiert über die digitale Zukunft und fordert dafür vielleicht sogar politisch dieses und jenes – eine Digitalisierung der Schulen, mehr Risikokapital für Start-ups. Aber das ist nur Fassade. In Wirklichkeit erkennt ihr die Welt, in der wir, die junge Generation, leben und bestehen müssen, nicht mehr, und schon gar nicht versteht ihr sie. Sie befindet sich für euch hinter Glas, das matter und matter wird, bis ihr kaum noch ihre Umrisse erkennen könnt.

Es gibt Ausnahmen unter euch. Den genialen Silicon-Valley-Ingenieur und Tesla-Gründer Elon Musk zum Beispiel. Er denkt wie wir. Doch das ändert nichts daran, dass ihr fast alle zu einem überholten Modell Mensch geworden seid, das der Zukunft mit seinen Ängsten, Fehleinschätzungen und Verhinderungsstrategien im Weg steht, und das auf viel tiefgreifendere Art veraltet ist, als ihr selbst es befürchtet.

Wer ich bin. Da ihr meine Forderung nach eurem Rückzug wahrscheinlich als Angriff versteht, solltet ihr wissen, wer ich bin. Ich heiße Samuel Koch, bin 25 Jahre alt und habe eine Mission. Sie besteht darin, jungen Menschen unternehmerisches Denken beizubringen.

 

Unternehmerisch zu denken heißt für mich, sich selbst zu kennen, mit anderen Berechnungen anzustellen, zu führen, geduldig zu sein, die Rolle eines Vorbilds einzunehmen und bereit zu sein, viel zu leisten. Nicht nur Unternehmer, sondern auch Lehrer und leitende Mitarbeiter in Unternehmen oder Beamte können mit dieser Art des Denkens ihre Aufgabe besser bewältigen.

Wir brauchen das unternehmerische Denken, weil uns euer digitales Versagen zwingt, früher und mehr Verantwortung für diesen Planeten zu übernehmen, als alle jungen Generationen vor uns. Deshalb vernetze ich junge Menschen miteinander, arbeite mit ihnen an Geschäftsmodellen und veranstalte Konferenzen für sie.

Ich selbst habe das unternehmerische Denken von meiner Familie. Meinem Vater gehört eine Firma, die bei Technologien für höhenverstellbare Möbel Weltmarktführer ist. Unternehmerisch zu denken ist aber nichts Genetisches. Mein jüngster Bruder ist ein Adoptivkind aus Äthiopien, und auch er denkt so. Es liegt daran, dass viele unserer Gespräche in der Familie und deshalb auch viele unserer Gedanken um unternehmerische Fragen kreisen.

Kurz vor meinem Uni-Abschluss habe ich zudem mit einem Freund ein Start-up gegründet. Unser Produkt ist ein auf Emotion und Spiel basierendes digitales Mitarbeiterfortbildungsprogramm für Unternehmen. Derzeit entwickle ich außerdem eine Universität mit dem Arbeitstitel WizHub, die sich auf Kompetenzen, die in Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden, für Menschen zwischen 17 und 35 Jahren konzentriert und die Lücke, die unser Bildungssystem in diesem Bereich hat, schließen soll.

Wie es zwischen euch und uns läuft. Ich erlebe dabei jeden Tag, wie ihr über uns denkt, und ich habe es ziemlich satt. Ihr haltet uns für demotiviert, leistungsfeindlich, politisch uninteressiert und auf unsere Handys fixiert.

Die Wahrheit ist, dass wir nur demotiviert sind, uns in eurer Welt mit euren Maßstäben messen zu lassen, dass wir keine Lust auf eure Vorstellung von Leistung haben, die immer etwas mit Unterordnen und sinnlosen Regeln zu tun hat, dass wir uns zwar für Politik, nicht aber für eure Version davon interessieren, und dass wir ständig an unseren Handys hängen, weil dort die Welt entsteht, in der wir in Zukunft leben werden.

Genauso wenig wie ihr wisst, was ihr mit uns anfangen sollt, wissen wir, was wir mit euch anfangen sollen. Keine der Möglichkeiten, die wir haben, ist befriedigend.

Bei euch nach euren Regeln mitzuspielen macht ungefähr so viel Sinn, wie auf einem sinkenden Fischkutter unter strenger Aufsicht die Planken zu lackieren, statt auf dem modernen Schiff, das gerade für die Fahrt in ein spannendes Abenteuer ablegt, einen guten Platz unter Gleichgesinnten zu finden. Trotzdem verbiegen sich einige von uns für euer System, lassen sich von eurem Denken infizieren und haben am Ende für die Zukunft dieses Planeten so wenig Bedeutung wie ihr selbst. Denn wer alt denkt, der ist alt.

Andere von uns versuchen, möglichst nicht mit euch in Kontakt zu kommen. Sie verschanzen sich in unserer Welt. Wenn ihr dann zum Beispiel eines unserer sozialen Medien infiltriert, wie Facebook, ziehen wir weiter zum nächsten, bis ihr nicht mehr nachkommt. Schließlich hat es schon immer den Spaß verdorben, wenn die Alten zu den Partys der Jungen gekommen sind. Ihr habt auch noch das Problem, dass ihr vierzig für das neue zwanzig und fünfzig für das neue dreißig haltet.

Auch viele der High Potentials unter uns verschanzen sich in unserer Welt, weil sie frustriert einsehen müssen, dass mit euch kaum Pläne oder Geschäfte zu machen sind. Wozu mit jemandem, für den eine Schule noch immer ein Gebäude mit Klassenzimmern, Tafeln und einem hübschen Eingang mit einem würdevollen Namen darüber ist, über eine digitale Akademie sprechen?

Doch die Strategie des Sichverschanzens funktioniert auch nicht. Es entsteht nur eine Enklave glückloser Genies, ein digitaler Elfenbeinturm mit Menschen darin, die zwar Potenzial haben, deren Kreativität aber mangels Möglichkeiten, sie an der Praxis zu erproben, verkümmert. Denn über den Großteil der Ressourcen an Geld, Einfluss und Kontakten, die sie brauchen würden, um von High Potentials zu Highflyern zu werden, verfügt ihr.

Schließlich gibt es noch die unter uns, die auf die Straße gehen. Zum Beispiel im Rahmen von Fridays For Future, um mit der 16-jährigen schwedischen Umweltaktivistin Greta Thunberg im Sinne unserer Zukunft Politiker weltweit von einer mutigen Klimapolitik zu überzeugen.

Diese Strategie ist ebenfalls fragwürdig. Denn ihr findet die Demos für das Klima bloß süß. Ihre Anführer findet ihr sympathisch. Ihr ladet sie in eure Runden ein und präsentiert sie als neue Gesichter in euren alten Medien. Die vermeintlich beschränkte junge Generation kann doch für etwas brennen, denkt ihr und hofft, dass sie als Nächstes doch noch für eure Sache brennt. Hinter Greta Thunberg steht so also auch im Grunde wieder ihr.

Doch wenn ihr unsere Forderungen nicht zügig erfüllt, anstatt sie als Infotainment zu missbrauchen, werden andere kommen. Dann werdet ihr Jugenddemos nicht mehr so gönnerhaft sehen. Denn je klarer uns wird, dass ihr leichtfertig unsere künftigen Lebensräume zerstört und die Ressourcen, die wir für die Entwicklung unserer Zukunft brauchen, zur Erhaltung eurer Vergangenheit vergeudet, desto grimmiger werden bei den Demonstrationen unsere Gesichter sein. Irgendwann werdet ihr Polizeieinheiten mit Helmen, Schildern und Wasserwerfern losschicken und über den Straßen wird Rauch aufsteigen.

Was ich über euch gelernt habe. Ich habe mich schon immer gefragt, was eigentlich los ist mit euch. Was ist, abgesehen von der Erhaltung eurer Komfortzonen, eure Mission? Habt ihr überhaupt eine? Warum bleibt ihr zurück? Warum lasst ihr uns allein? Warum seid ihr so? Wie seid ihr eigentlich? Wie lasst ihr euch noch ändern? Lasst ihr euch überhaupt noch ändern?

Die Antworten auf die meisten dieser Fragen habe ich während meines Zivildienstes im Haus Malta, einem Altenheim der Malteser in Wien, gefunden. Dabei habe ich festgestellt, dass alte Menschen starre Glaubenssätze und Denkmuster haben. Im Umgang mit ihnen gibt es keine andere Möglichkeit, als sich mit diesen Glaubenssätzen und Denkmustern abzufinden.

Vielleicht ärgert euch der Vergleich mit Menschen im Altenheim, doch eure Glaubenssätze und Denkmuster sind schon ziemlich starr. Dass ihr euch trotzdem noch jung fühlt, liegt nicht etwa an einem zweiten Frühling, sondern an Verdrängung.

Ich nehme nicht einmal meinen Vater ganz aus. Er denkt unternehmerisch. Er ist technologiegetrieben und innovativ. Doch ich merke es, wenn es zum Beispiel um Ausbildung geht. Schulabschluss, Studium, beides an Einrichtungen eures veralteten Bildungssystems. Zuerst Bachelor, dann Master. So ist es für ihn Pflicht.

Junge und jung denkende Chefs hingegen mögen Studienabbrecher, weil sie sich kreative und praxisnahe Zugänge von ihnen erwarten. Bei Bewerbern mit drei in Mindestzeit abgeschlossenen Studien fragen sie sich: Hatten die nichts Besseres zu tun?

Starre Glaubenssätze und Denkmuster mögen aufgrund natürlicher Prozesse, über die Psychologen, Neurologen und Gerontologen bestimmt einiges wissen, entstehen. Trotzdem glaube ich, dass keine Generation vor euch den Stillstand so sehr gewollt und den Fortschritt so sehr blockiert hat wie ihr. Es ist wohl eure Gegenreaktion auf den Druck zur Veränderung, der noch auf keine Generation so stark gewirkt hat wie auf euch.

Es wird auch keine Generation nach euch den Stillstand so sehr wollen und den Fortschritt so sehr blockieren wie ihr. Denn ihr seid die Letzten, die in ihrer Kindheit und Jugend den Stillstand noch als Normalität erlebt haben, und die sich deshalb mit zunehmendem Alter so sehr danach zurücksehnen.

Nie hat sich früher etwas für euch verändert, und wenn doch, hattet ihr jede Menge Zeit, euch daran zu gewöhnen. Von der Ausstrahlung der ersten Fernsehbilder mit Ton bis zur Ausstrahlung des ersten Fernseh-Testbildes in Farbe vergingen mehr als dreißig Jahre. Vom ersten GSM-fähigen Handy bis zum ersten Smartphone waren es gut zwanzig Jahre.

Wir werden vielleicht später auch über bestimmte Dinge sagen: »Ach, erinnerst du dich?« Künstliche Intelligenz, virtuelle Realität, erweiterte Realität oder etwa die ersten Versuche zur Stimmungserkennung aus der Stimme werden für uns Nostalgien sein, die uns ein Lächeln abringen werden. Aber wir werden nicht daran hängen bleiben. Denn wir sind schon in einer dynamischen Welt aufgewachsen und fühlen uns am ehesten zu Hause, wenn sich ständig alles ändert.

Die Kluft zwischen euch und uns. Bestimmt haben junge Menschen ältere Menschen schon immer als unveränderlich und fortschrittsfeindlich erlebt. Doch warum ist die Kluft zwischen unseren Generationen größer, als sie es zwischen Jung und Alt je war? Liegt es nur an dem für euch besonders starken Veränderungsdruck? Und warum habe ich das Gefühl, dass diese Kluft weiterwächst?

Es hat wohl damit zu tun, dass nicht nur wir Menschen die Technik weiterentwickeln, sondern dass auch die Technik uns Menschen weiterentwickelt. So etwa verändert uns das Handy, das für euch ein Gebrauchsgegenstand wie ein Auto oder ein Fernseher ist, für uns aber die Fernbedienung unseres Lebens.

Wegen unserer Handys kannten wir spätestens mit elf alle denkbaren Formen von Pornografie, Gewalt, Mobbing, Verzweiflung, Angst und Enttäuschung. Ich will keine psychologischen Meinungen dazu zitieren, wie uns das im Vergleich zu euch verändert hat, denn sie stammen alle von Psychologen eurer Generation.

Sie gehen an solche Fragen grundsätzlich mit negativen Thesen heran, während ich mir vorstellen kann, dass die hemmungslose Enttabuisierung von allem Menschlichen, selbst der menschlichen Abgründe, bei richtigem Umgang damit auch etwas Gutes hat.

Die Kluft zwischen uns wächst auch, weil der Umgang mit Technik unsere Sprache verändert. Es entstehen neue Begriffe, die ihr nicht mehr richtig mitbekommt. »Gamification« zum Beispiel, das Wort für den Einsatz von Elementen aus Spielen wie Erfahrungspunkten, Highscores, Fortschrittsbalken, Ranglisten, virtuellen Gütern oder Auszeichnungen etwa im Produktmarketing oder bei Lern-Apps.

Andere Begriffe wechseln ihre Bedeutung. Das Wort »Content« zum Beispiel bedeutet für uns nicht mehr wie für euch schlicht »Inhalt«, sondern es steht für das Gegenteil von »Bullshit«, also für authentische, ehrliche, auf den Punkt gebrachte Information und Kommunikation, auch »Real Talk« genannt.

Auch deutsche Begriffe können für uns etwas anderes bedeuten als für euch. »Schnell«, zum Beispiel, bedeutet für euch »noch diese Woche«. Für uns bedeutet es »jetzt«. »Für immer« bedeutet für euch »für die nächsten zehn Jahre« und für uns »für heuer«. »Arbeiten« bedeutet für euch »etwas eher Unangenehmes für Geld tun«, für uns bedeutet es »uns selbst verwirklichen«.

Unsere Sprache ist dabei im Vergleich zu eurer direkter, schneller und einfacher geworden. Sie macht vieles leichter und beseitigt Hürden, die euch noch stoppen konnten. So habt ihr früher wochenlang darüber nachgedacht, was zu tun ist, wenn euch ein Junge oder ein Mädchen gefallen hat. Wir dagegen können einfach schreiben: »Hast du Lust auf Kino? (Zwinker-Smiley).«

Eure und unsere Sprachen und Persönlichkeiten sind gerade dabei, sich noch viel weiter auseinander zu entwickeln – weil eine neue Schnittstelle zum Internet gerade die Bildschirme unserer Computer, iPads und Handys ablöst. Wir tippen nicht mehr, sondern wir sprechen.

Will ich zum Beispiel wissen, wann Elon Musk geboren ist, frage ich Siri über meine Apple Watch danach. Siri antwortet: »Am 28. Juni 1971.« In Zukunft werden wir mit unserem Spiegel über unser Aussehen, mit sozialen Robotern über unsere Geheimnisse und mit unseren Häusern wie mit Bediensteten sprechen.

Forschungen haben gezeigt, dass sich Menschen verändern, wenn sich ihre Sprache verändert, und dass sich Sprache verändert, wenn sie nicht der Kommunikation zwischen Menschen und Menschen, sondern zwischen Menschen und Maschinen dient.

Phillipp Blom, ein deutscher Schriftsteller und Journalist, hat es 2014 so formuliert: »Man kann Technologie nicht gebrauchen, ohne durch sie verändert zu werden; und zwar bis ins Innerste, Intimste, verändert zu werden.«

Eure Analysen unserer Generation mögen sich deshalb in vermeintlichen Moden, Spleens und schlechten Sitten erschöpfen, doch in Wirklichkeit funktionieren wir längst auf viel fundamentalere Weise anders als ihr. Wir verhalten uns nicht nur anders, ein anderes Modell Mensch.

 

Der Wiener Reproduktionsmediziner und Buchautor Johannes Huber glaubt aufgrund medizinischer Beobachtungen sogar, dass die Evolution des Menschen gerade einen Sprung macht. Er glaubt, dass ein Mensch entsteht, der von Natur aus friedlicher, sozialer, empathischer und technikverbundener ist und beschreibt das als Übergang vom »Homo brutalis« zum »Homo amans« – »amans« bedeutet »liebend«. Ich kann dem viel abgewinnen. Krieg ist euer Konzept, nicht unseres.

Wenn ihr euch auf die Suche nach den Ursachen der Kluft zwischen euch und uns macht, bleibt euer Ergebnis trotzdem trivial und dabei egozentrisch. Eure moderne liberale Erziehung war womöglich falsch, denkt ihr dann. Eine eurer absurdesten Schlussfolgerungen daraus ist, dass Kinder eher wieder so wie ihr aufwachsen sollten. So absurd ist sie deshalb, weil es die Welt, in der ihr aufgewachsen seid, nicht mehr gibt, und sie lässt sich auch nicht durch Ge- und Verbote oder Disziplin wiederherstellen. So wie ihr zu sein, würde für uns zudem bedeuten, in unserer Welt so wie ihr zum Scheitern verurteilt zu sein.

Ihr verletzt eure moralische Verantwortung. Privat spielt diese Kluft zwischen euch und uns keine große Rolle. Wenn jemand von euch gerne in einer Hütte am Berg leben und mit der Welt nichts zu tun haben will, ist das seine Sache. Die Welt entwickelt sich dann eben ohne ihn weiter und er muss sehen, wo er bleibt. Anders ist das überall dort, wo ihr Entscheidungen treffen könnt, die sich auch auf uns auswirken, also vor allem im Berufsleben.

Dort nehmen es viele von euch in Kauf, dass sie langsam auf der Strecke bleiben. Ich merke das, wenn ich mit Managern eurer Generation spreche. Sie denken: Ich ziehe mein Ding noch zehn Jahre durch, dann könnt ihr mich gernhaben.

Weil die Perspektive solcher Manager nur bis zu ihrem Karriereende reicht, sind sie schlechte Vorbilder. Sie verhalten sich egozentrisch, statt das mittel- und längerfristige Wohl des Unternehmens und seiner Mitarbeiter, ihres Landes und seiner Bürger, des Planeten und der Menschheit im Blick zu haben.

Es ist für mich die Verletzung einer moralischen Verantwortung, nicht erkennen zu wollen, in welcher Zeit wir leben. Wenn ihr als Manager nicht wahrhaben wollt, dass ihr euch verändern müsst, oder wenn ihr es trotz besseren Wissens nicht tut, dann seid ihr verantwortungslos.

Besonders, wenn ihr dabei auf digitale Zukunft macht, während ihr in Wirklichkeit mit allen Tricks versucht, eure Welt so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Zum Beispiel, indem ihr beharrlich wiederholt, dass wir uns »in den nächsten zwanzig Jahren« auf große Veränderungen einstellen müssen. Ich kann das nicht mehr hören. Denn die großen Veränderungen sind schon da. Wir müssen uns jetzt sofort auf sie einstellen.

Eine Weile sah es so aus, als hättet ihr keine Chance mehr, eure alte Welt, ein grotesk gewordenes, nicht mehr lebensfähiges Konstrukt, wiederzubeleben. Doch die USA, wo Donald Trump den Menschen die Kohlekraftwerke zurückgibt und sich gegen die Klimaziele der G-20 stellt, und England, das die Vergangenheit mit dem Brexit auferstehen lassen will, haben gezeigt, dass es doch funktionieren kann. Alte Menschen versuchen, mit der Unterstützung anderer alter Menschen die alten Zustände wiederherzustellen.

Möglich ist das, weil ihr alle Angst vor Veränderung habt. In dieser Angst haltet ihr zusammen. Euer Reflex besteht darin, zu bewahren, was ihr kontrollieren könnt. Selbst wenn es das Klima zerstört, selbst wenn es ein neues globales Gefüge des friedlichen Miteinanders verhindert, selbst wenn es diesen Planeten um Jahrzehnte zurückwirft und womöglich unwiderruflich beschädigt.

Ihr werdet das selbst noch bereuen. Dieser Gedanke kam mir ebenfalls im Haus Malta. Das Klischee der armen und einsamen alten Menschen stimme meistens nicht, sagte mir eine Altenpflegerin. Wer für seine Kinder da sei, für den seien später auch seine Kinder da und umgekehrt. Wenn ihr euch also kollektiv unseren Interessen verweigert, werden wir uns später kollektiv den euren verweigern.

Ich sehe schon jetzt, wie viele von uns nicht mehr mit alten Menschen können und wollen, und wie sie vielen von uns einfach egal sind. Das Thema Pflege wird also noch interessant werden. Pflege-, Unterhaltungs- und Streichelroboter werden womöglich das Beste sein, das ihr von uns erwarten könnt, und es wird nicht unsere Schuld sein.

Wir werden, um möglichst wenig mit euch zu tun zu haben, vollelektronische Pflegeheime für euch bauen, was aber vielleicht gar nicht so schlimm sein wird. Denn die Sparte Human-Computer-Interaction wird sich weiterentwickeln und ihr werdet euch vielleicht richtig gut dabei fühlen, wenn ihr Robotern eure Lebensgeschichten erzählt.

Diese Roboter werden abstrakte Konzepte wie Eigentum einschätzen können, ethische Codes verstehen und kulturelle Normen verinnerlicht haben. Wenn ihr mit ihnen flüstert, werden sie zurückflüstern, und wahrscheinlich werdet ihr sie sogar lieben. Als an der University of California in Berkeley ein simpler Kurier-Roboter ausbrannte, der Essen ausfuhr, waren die Studenten so erschüttert, dass sie an der Unfallstelle Kerzen anzündeten.

In Deutschland und Norwegen wurde 2017 eine intelligente Puppe namens »My Friend Cayla« verboten, weil sie im Verdacht stand, Kinder auszuspionieren. Es kann also sein, dass eure letzten Freunde euer Kaufverhalten im Sinne von Amazon manipulieren werden, aber sei’s drum. Ihr habt dann vielleicht ohnehin schon Sachwalter.

Eure Erfahrung hat einen Wert. Ich habe im Haus Malta allerdings noch eine für mich wichtige Erfahrung gemacht. Alte Menschen haben auch etwas, das wir junge Menschen brauchen und das uns fehlt. Sie haben Geschichte, und Geschichte ist wertvoll.

Ich spreche davon, dass ein Baum, der keine Wurzeln hat, umfällt. Es ist deshalb für uns wichtig, zu wissen, woher wir kommen. Wer das weiß, verliert nicht so leicht die Perspektive. Er kann fantasievoller über die Zukunft nachdenken.

Es wird allerdings wegen unserer wechselseitigen Vorbehalte immer schwieriger für uns, an diese Ressource zu kommen. Es ist zu mühsam geworden, miteinander zu reden. Es ist langweilig. Es führt zu nichts.

Ich finde das schade. Denn das Beste für diesen Planeten würde geschehen, wenn ihr, wie ich es gefordert habe, nicht nur eure Positionen uns überlasst, sondern gleichzeitig beratende Funktionen im Hintergrund einnehmt. Dann könntet ihr uns stabilisieren, aber nicht mehr bremsen.

Um meinen Beitrag für so ein Miteinander zu leisten, versuche ich, euch die Welt, in der wir leben, ein bisschen näherzubringen. Ihr werdet sie wahrscheinlich nicht mehr verstehen, aber ich will es zumindest versuchen.

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