Wissen, Weisheit, Wohlstand

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Wissen, Weisheit, Wohlstand
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ROBERT M. SEIDL

WISSEN

WEISHEIT

WOHLSTAND

Nachhaltig erfolgreich durch ethisches Handeln


INHALT

Cover

Titel

Zitate

Zum Geleit (Peter Linnert)

Vorwort

Mein persönlicher Zugang

ALPHA

1. Leben, Erfolg und Glück

2. Sinn des Lebens

3. Wissen

4. Glauben und Vertrauen

5. Bewusstsein

6. Entscheiden

7. Ziele – Visionen

8. Bildung

9. Werte und Tugenden

10. Ratschläge, Mentoren, Vorbilder

11. Talente und Berufung

12. Leben und Krisen

13. Kritik und Zweifel

14. Beschleunigte Veränderung

15. Familie und Freunde

16. Balance

17. Wohlstand und Wohlergehen

OMEGA

ANHANG

Anmerkungen

Hinweis zu den Interviews

Die Interviewpartner

Quellenverzeichnis

Impressum

„Wissen sollte man durch Weisheit ersetzen, dadurch wird Sorge schwinden.

Alles nur mit dem Verstand erfassen zu wollen, wird Weisheit vertreiben.“

LAOTSE

„Das Leben ist die Summe bewusst erlebter Momente.“

ROBERT M. SEIDL

ZUM GELEIT

Dieses Buch reiht sich ein in die relativ geringe Zahl bemerkenswerter Publikationen, die sich mit dem Wertewandel im Berufs- und Privatleben auseinandersetzen. Insbesondere sind es die traditionellen Normen und Werte, die früher das Verhalten bestimmten und nunmehr infrage gestellt werden. Die heutigen „Performer“ beziehungsweise Führungskräfte pflegen zunehmend eine eher hedonistische Einstellung nach dem Motto: „Jetzt bin ich dran!“ Auch jüngere Personen sind von diesem Wertewandel betroffen. Weitverbreitet ist beispielsweise auch das Managercredo: „Die Funktion kommt vor der Person.“

Dieses Buch verdeutlicht, dass diese Auffassung nicht wirtschaftsethischen Grundsätzen entspricht. Es sind vielmehr die übergeordneten Werte wie Glaube, Vertrauen und Moral, die Einlass in die Welt des Berufslebens finden sollten. Mit Akribie und Empathie stellt der Autor, Dr. Robert M. Seidl, jene Einstellungen und Tugenden vor, die erforderlich sind, ohne Hektik und Stress, aber mit Besonnenheit, Nachdenken und Entschlossenheit Erfolg im Wirtschafts- und Privatleben zu erlangen. Überzeugend führt er in diesem Buch den Nachweis, dass Selbstverwirklichung und Wohlstand nicht ohne Disziplin, Moral und Wissen zu erlangen sind. Er plädiert in diesem Zusammenhang für eine bewusste Wirtschaftslehre, „in der der Mensch im Mittelpunkt steht“.

Seine Ausführungen wollen zum Nachdenken einladen. Der Verfasser stellt dem Leser dazu eine Fülle von Anregungen vor. Dem Autor ist zu wünschen, dass dieses Buch jene Verbreitung und Anerkennung findet, die es zweifelsohne verdient.

Prof. DDr. Dr. h. c. mult. Peter Linnert

Direktor Sales Manager Akademie

Studienzentrum Hohe Warte

VORWORT

Jeder Mensch wird zwangsweise damit konfrontiert, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Nur wer dazu in der Lage ist, kann andere Menschen oder ein Unternehmen führen. Die eigene Lebensführung ist die Wurzel allen Erfolges. Prinzipiell ist jeder Mensch nicht nur mit der Selbstführung beauftragt, denn wir haben Kinder, Partner, Geschwister, Freunde, Mitarbeiter …, die wir bewusst und unbewusst führen; für die wir Vorbilder, Ratgeber oder Lehrer sind. Aus diesem Grund ist dieses Werk für jeden geeignet, der Interesse hat, im Leben weiterzukommen.

Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Schon seit mehreren Jahren berichten Medien und sprechen Politiker von Wirtschafts-, Währungs- und Finanzkrisen. Eine Krise jagt die andere, und es scheint, als habe sich eine unaufhaltsame Abwärtsspirale in Bewegung gesetzt. Aber noch lebt der Mammon in der Gestalt des Konsums. Alles hat einen Wert und wird in Geld bewertet. Ursprünglich als Tauschmittel erfunden, kann es sich sogar ohne jegliche Wertschöpfung selbst vermehren. Und viele Menschen streben nach Geld, da es Sicherheit und Befriedigung aller Bedürfnisse verspricht. Die herrschende Religion ist der Materialismus, und somit hat der Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900 – 1980) mit seiner Einschätzung der Situation aus dem Jahr 1956 recht behalten:

„Der moderne Mensch hat sich in eine Ware verwandelt; er lebt seine Lebensenergie als Investition, mit der er entsprechend seiner Stellung und seiner Situation auf dem Personalmarkt einen möglichst hohen Profit erzielen möchte.“1

Die gesellschaftliche und politische Situation, in der Ursache und Wirkung miteinander korrelieren, beschreibt Fromm wie folgt:

„Unsere Gesellschaft wird von einer Manager-Bürokratie und von Berufspolitikern geleitet; die Menschen werden durch Massensuggestion motiviert; ihr Ziel ist, immer mehr zu produzieren und zu konsumieren, und zwar als Selbstzweck. Sämtliche Aktivitäten werden diesen wirtschaftlichen Zielen untergeordnet; die Mittel sind zum Zweck geworden; der Mensch ist ein gut ernährter, gut gekleideter Automat, den es überhaupt nicht mehr interessiert, welche menschlichen Qualitäten und Aufgaben ihm eignen. Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss ihm dienen, und nicht er ihm.“2

Aus heutiger Sicht war Erich Fromm fast ein prophetischer Vordenker seiner Epoche. Es ist an der Zeit, wenn nicht schon höchste Zeit, neue Wege zu gehen, heraus aus dem betäubenden Konsum. Wahrer Wohlstand lässt sich in Geld nicht messen, genauso wie sich der Wert eines Menschen nicht in Geld bewerten lässt. Wohlstand ist mehr als nur „Reichtum“ und wahrer Wohlstand beinhaltet auch ein Wohlergehen. Mir geht es um Wohlstand für die Natur und uns Menschen. Wir sind ein ungetrennter Teil der Natur und der Schöpfung, darum schließe ich diese nur allzu gerne mit ein. Dieses Buch handelt von Wohlstand und wie wir im Wohlstand leben können. Doch zuvor bedarf es Wissen und Weisheit.

Betrachten wir das Leben als ein Spiel, dessen Spielregeln wir bei unserer Geburt nicht kennen. Auch werden uns im Laufe unseres Lebens nicht alle Regeln auf dem Silbertablett serviert. Es gibt eine Art der Verpflichtung, selbst die Spielregeln zu „er-fahren“. Dabei geht es darum, die wirkungsvollen Spielregeln zu erkennen und anzuwenden.

Die meisten Religionen legen die Betonung auf ein verheißenes besseres Leben nach dem Tod. Wie dies funktionieren soll, ist mir schleierhaft, denn mein Streben gilt dem erfüllten und wahrhaftigen Leben vor dem Tod, im Hier und Jetzt. Dabei bin ich persönlich davon überzeugt, dass die viel zitierte „Erlösung“ oder „Erleuchtung“ nicht nach dem Tod, sondern in diesem Leben geschehen kann. Immanuel Kant schreibt dazu:

„Zum einen ist der Mensch ein Sinnenwesen, das in der eigenen Glückseligkeit seine Bestimmung als Naturwesen findet.“3

Ich lade Sie ein, gemeinsam diese andere Sichtweise zu betrachten beziehungsweise zu definieren. Diese neue Sichtweise kann Ihr Leben erheblich bereichern.

Drei besondere Unternehmer, die Sie durch das Buch begleiten

Seit Anbeginn der Menschheit lernt die jüngere von der älteren Generation. Denn neben Bildung ist es die Lebenserfahrung, die die individuelle Weisheit eines Menschen nährt. Auch bereichern persönliche Erfahrungen noch weit mehr als rein theoretisches Wissen.

 

Also suchte ich Menschen, die ich für das Buchthema inspirierend fand, weil ihr Wohlstand nicht nur ein pekuniärer, sondern auch ein umfassender, innerlicher ist. Auch habe ich bewusst Gesprächspartner mit ganz unterschiedlichen Biografien und Erfolgsgeschichten ausgewählt. Ausschnitte aus diesen Interviews ziehen sich durch das ganze Buch und untermauern die dargestellten Grundsätze.

KURT TEPPERWEIN, der Älteste der drei, übte in seinem Leben 19 verschiedene Berufe aus. Zurzeit (2015) beschäftigt er sich mit seiner Lebensbibliothek, in der er alle seine Lebenserfahrungen (learnings) reflektiert und zusammenfasst. Lange Zeit hielt ich ihn für einen „Esoterikpapst zweifelhaften Rufes“, bis ich ihn persönlich kennen- und schätzen lernte. Seine Lehren und Methoden wendet er in seinem Leben selbst an und verbessert diese auch nach neuesten Erkenntnissen. Dies hat zur Folge, dass Herr Tepperwein physisch wie psychisch alterslos scheint. Nicht verschwiegen werden soll natürlich, dass er im Laufe seines Lebens auch eigene sowie gesetzliche Grenzen sprengte. Durch die daraus folgenden Konsequenzen lehrte ihn das Leben, stets ethisch zu handeln. Die Authentizität sowie den jung gebliebenen Geist dieses Mannes finde ich beeindruckend. Seine Bücher und Seminare beeinflussen eine Vielzahl von Menschen.

PROF. DR. CLAUS HIPP gilt als Pionier in der ökologischen und biologischen Landwirtschaft, hat ein erfolgreiches Firmenimperium aufgebaut und „steht dafür mit seinem Namen“. Mich interessierte, wie Herr Hipp „im wahren Leben“ ist – wirkt er doch in den Werbespots für seine Produkte sehr nahbar und „auf dem Boden geblieben“. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass es zwischen der TV-Werbung und dem direkten Gespräch keinen Unterschied gibt. Auch Claus Hipp ist ein äußerst authentischer Mensch mit einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein. Während Kurt Tepperwein an das eigens innewohnende Schöpferpotenzial glaubt, ist Herr Hipp bekanntermaßen eher katholisch geprägt. Aus der Familie schöpft er Kraft und Inspiration, andererseits trägt er eine große Verantwortung für das Familienunternehmen. Interessant sind auch seine anderen Fähigkeiten wie Reiten und Malen, in denen er durchaus erfolgreich ist.

In Bezug auf Familie verlief das Leben von DR. HANNES ANDROSCH, meines dritten Interviewpartners, anders. Sein beruflicher Aufstieg ging nach eigener Aussage meistens zulasten der Familie. Ich interviewte ihn, weil er der Lieblingspolitiker meines Vaters war: „Einer, der aus der Wirtschaft kommt, mit Herz und Hirn dem Volk diente und dann wieder erfolgreich in der Wirtschaft zu gebrauchen ist“, so mein Vater. Das Durchhaltevermögen und die Wirkungskraft von Herrn Androsch sind in Österreich bestens bekannt. Trotz seines Ausscheidens aus der aktiven Politik setzt er sich für einen gesellschaftlichen Wertewandel, insbesondere im Bereich der Bildung, ein. Beeindruckt haben mich unter anderem sein philosophisches Verständnis und seine fundierten interreligiösen Kenntnisse. Herr Androsch vertritt klare Standpunkte, die für das derzeit herrschende Bildungssystem revolutionärer nicht sein könnten.

Trotz der Unterschiede der drei in diesem Werk zitierten Herren haben sie einiges gemeinsam: Alle drei sind Visionäre und somit ihrer Zeit meistens voraus. Dies führte auch bei allen zu Differenzen mit bestehenden Systemen – es wurden auch gesetzliche Grenzen gesprengt, die spürbare Konsequenzen mit sich brachten. Aber das ist nicht Thema dieses Buches. Vielmehr ist mir daran gelegen, die Erkenntnisse sowie die Erfahrungen der drei Herren zu extrahieren, um damit den Lesern den oft schmerzvollen Weg der Erkenntnis zu ersparen. Das Lernen von anderen, ohne selbst alle Fehler machen zu müssen, gilt als Königsweg der Weisheit. Sie haben stets beharrlich das Unmögliche versucht, um das Mögliche zu erreichen. Bei der Wahl der Mittel war keiner fehlerlos, aber sie lernten und lernen immer noch aus den eigenen Fehlern, die in Wirklichkeit „Erfahrungen“ sind.

Kurt Tepperwein, Hannes Androsch und Claus Hipp hatten zum Interviewzeitpunkt ein Alter zwischen 75 und 81 Jahren. Alle verfügen über ein enorm hohes geistiges Potenzial, körperliche Fitness und eine ausgeprägte Herzensbildung. Nicht zu vergessen, dass sie Krieg, Hunger, Wirtschafts- und Finanzkrisen hautnah erlebten. Es wurden Notzeiten durchgestanden, die sich Menschen heute kaum vorstellen können. Aber sie sind nicht daran zerbrochen, ganz im Gegenteil: Wer sie kennt, sieht in ihren Augen Lebensfreude, Optimismus und Dankbarkeit. Von diesem Bewusstsein und ethisch geprägter Lebenseinstellung können nachkommende Generationen ungemein profitieren, und zwar besonders im Wirtschaftsleben, in dem sich Egoismus, Profitgier und Menschenausbeutung zunehmend verbreiten. Ich bin dankbar für jede Begegnung, die mein Leben ungemein bereichert hat. Dankbar, dass diese Menschen ihr Wissen, ihre Weisheit und damit auch ihren Wohlstand mit mir teilen.

MEIN PERSÖNLICHER ZUGANG

Ich war die ersten sechs Jahre meines Lebens fast blind. Mehrere Operationen an meinen Augen führten dazu, dass ich mit Unterstützung von Sehbehelfen langsam visuell diese Welt wahrnehmen konnte. In der Schule war es mir nicht möglich, von meinem Platz aus das Gekritzel der Lehrer auf der Tafel zu sehen. Trotz dieser Umstände gelangen mir ordentliche Schulabschlüsse bis zur Promotion. Ich habe sehr früh gelernt, das Wesentliche vom Unnützen zu trennen: Dabei war und bin ich neugierig, wie diese Welt denn eigentlich funktioniert. Welche Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten hier wirken, beschäftigt mich noch immer.

In meiner jugendlichen Tätigkeit als Ministrant fand ich einige – jedoch für mich noch nicht ausreichende – Antworten, um das Leben zu führen, das ich führen wollte. In meiner Laufbahn als Techniker, Verkäufer, Manager, Geschäftsführer und Dozent lernte ich viele Menschen und deren Handlungsweisen kennen. Es gibt gebildete Menschen, die kaum Weisheit in sich tragen, es gibt ungebildete Menschen, die sehr weise sind, und es gibt gebildete Menschen, die auch sehr weise sind. Hier drängte sich mir die Frage auf, was denn „gebildet“ bedeutet. Des Weiteren bemerkte ich, dass Menschen über unterschiedliche Handlungsmotive verfügen. Meistens leiten sich diese von bewussten und unbewussten Werten ab. An dieser Stelle bedanke ich mich bei meinen Eltern, die mir durch ihr Wirken und Vorleben wahrhaftige Werte vermittelten.

Ich war und bin überzeugt, dass entsprechendes Wissen mit täglicher Umsetzung in der „Schule des Lebens“ zur Weisheit wird. Und dort, wo Wissen und Weisheit vorhanden sind, ist auch meistens Wohlstand zu finden. Zeit meines Lebens betrachte ich mich als Schüler und Lehrer. Ich weiß, dass wir viel von Menschen lernen können, die schon länger als wir selbst in die Lebensschule gegangen sind. Dies motivierte mich, Menschen zu interviewen, bei denen ich den Eindruck hatte, dass sie durch ihre Erfahrungen meine Leser und mich inspirieren können. Dieser Eindruck hat sich nach jedem Gespräch absolut bestätigt. Es ist mir eine Ehre, Wissen, Weisheit und Wohlstand mit Ihnen zu teilen.

Dr. Robert M. Seidl

Anmerkung:

Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch von einer geschlechterspezifischen Schreibweise abgesehen. Die verwendeten Personenbezeichnungen, personenbezogenen Begriffe und Berufsbezeichnungen beziehen sich auf beide Geschlechter.


An einem kühlen Herbsttag wanderte ein Mönch durch ein Gebirge, auf dem Weg zu einem bekannten Kloster, in dem er während des Winters seine Studien vertiefen wollte. Der Weg war lang und beschwerlich, doch der Mönch genoss die Vielfalt der Natur und die Stille, die in seinem Kloster manchmal fehlte. Innerlich war er jedoch angespannt, weil er nicht wusste, was ihn auf der Reise und im neuen Kloster erwarten würde. Sein Mentor, der Abt seines vorigen Klosters, hatte ihm gesagt, es würden große Aufgaben auf ihn warten, wenn er bereit sei, dem Leben zu vertrauen und alles, was ihm begegne, als Chance für Wachstum anzuerkennen. Doch so ganz konnte er es nicht verstehen, denn seine Füße schmerzten von dem beschwerlichen Weg mit all den Steinen und Felsen. Manchmal musste der Mönch auf allen vieren klettern, um voranzukommen. Der kalte Nordwind, der ihm ins Gesicht blies – ein Vorbote des herannahenden Winters –, mahnte ihn zur Eile; er hatte erst ein Drittel seiner zweimonatigen Reise hinter sich.

Beim Aufstieg auf ein Hochplateau, wo er übernachten wollte, bemerkte der Mönch einen Höhleneingang. „Vielleicht wäre das ein idealer Schlafplatz“, sagte er sich und lief in Richtung der Höhle. Er fragte sich, was sich wohl darin befinden würde, insgeheim aber wünschte er sich einen Rückzugsort, um endlich nach Wochen an einem trockenen und windgeschützten Platz übernachten zu können. Doch als er auf den Eingang zuging, spürte er, dass sein Wunsch vergebens sein würde. Er fühlte die Präsenz von Menschen. Der Mönch erschauerte und sein Magen schnürte sich zu. Er schlich geduckt näher, um von eventuellen Bewohnern nicht entdeckt zu werden. Nun beflügelte ihn zwar die Neugier, aber die zunehmende Angst und das schaurige Gefühl lähmten ihn.

In der Nähe der Höhle versteckte er sich hinter einem großen Stein und observierte fürs Erste den Höhleneingang. Er sah, wie Menschen Dinge hin und her trugen und miteinander in erster Linie wortlos, mittels Zeichensprache, kommunizierten. Sein Instinkt verbot ihm, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, und so wartete er. Es musste etwas Wertvolles oder Gefährliches in dieser Höhle sein, vermutete der Mönch. Aber Geduld war seine Tugend, und so konnte er seine Neugier unterdrücken, bis der Abend dämmerte. Dann sah er, wie die Menschen die Höhle in Richtung Tal verließen. Dies war die Gelegenheit, sich unbemerkt umzusehen.

Ganz langsam tastete er sich zum Eingang vor, aus dem ein Licht herausschien, das nur bei zunehmender Dunkelheit zu erkennen war. Das Licht flackerte, die Lichtquelle war also mit großer Wahrscheinlichkeit ein Feuer. Der Mönch folgte dem Licht und drang tiefer in die Höhle vor. Tatsächlich: Dort entdeckte er ein Lagerfeuer, das durch eine Steinmauer in Richtung des Höhleninneren begrenzt wurde. Das Feuer knisterte und loderte hell, anscheinend waren harte Hölzer ins Feuer gelegt worden, damit es die ganze Nacht hindurch brennen konnte. Alles wies darauf hin, dass sich hinter der Mauer etwas verbarg, es war auch ein Stöhnen und leises Atmen zu vernehmen. Die Neugier war nun stärker als die Angst, die den gesamten Körper des Mönches erzittern ließ, sodass er immer wieder Stoßgebete an Gott und Schutzheilige entsandte. Er schlich am Rand der Höhlenkammer entlang, um einen Blick hinter die Mauer zu werfen. Da sich Mauer und Feuer in der Mitte der Höhlenkammer befanden, dachte sich der Mönch, er würde von den hinter der Mauer vermuteten Wesen nicht entdeckt werden. Umrisshaft konnte er menschenähnliche Gestalten wahrnehmen, die an Schenkeln und Hals gefesselt waren.

Mit dem Rücken zum Ausgang platziert, waren die Gefangenen genötigt, auf eine Wand zu starren, die durch das Feuer im Eingangsbereich der Höhle beleuchtet wurde. Andere, die der Mönch für sich als „Kerkermeister“ bezeichnete, bewegten Gegenstände vor dem Feuer hin und her, sodass sich deren Schatten auf der Wand abzeichneten, auf die die Gefangenen starrten. Aus ihrer gefesselten Position konnten die Menschen die Herkunft von Licht und Schatten unmöglich erkennen. Sie lebten in einer von anderen Menschen kreierten Realität, ohne Bezug zu einer umfassenden Wirklichkeit. Ihre körperliche Verfassung ließ darauf schließen, dass sie sich bereits seit ihrer Kindheit in dieser Position befanden.

Trotz eines intensiven Unbehagens beobachtete der Mönch mit all seinen Sinnen das Geschehen. Er konnte feststellen, dass die Kerkermeister nicht nur Schatten, sondern auch Geräusche verursachten. Die Gefesselten versuchten diese zu interpretieren, ein Muster herauszulesen, eine Weissagung über diese „höhere Macht“ zu treffen. Es herrschte unter den Gefangenen eine Religion des Aberglaubens, in dem jener Gefangene Lob und Ehre erhielt, der die besten Prophezeiungen über Schatten und Geräusche „vorhersah“.

 

Der Körper des Mönchs, der in seinem Versteck kauerte, schmerzte. Jetzt erinnerte er sich an seine Gelöbnisse der Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe, die er als Novize abgegeben hatte. Demnach wäre es jetzt seine Aufgabe, die Gefangenen zu befreien, doch er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. In einem Gebet befragte er sein Gewissen, was das Beste in dieser Situation für alle wäre. Daraufhin beschloss der Mönch fürs Erste unauffällig zu flüchten, denn er sah keine Möglichkeit, die Gefangenen alleine zu befreien. Als die Kerkermeister sich zum Schlafen hingelegt hatten, kroch er aus seinem Versteck hervor. Auch die Gefangenen waren bereits eingeschlafen und es herrschte Totenstille. Er reckte und streckte seine steifen Glieder, dann schlich er aus der Höhle und verschwand im Dunkel der Nacht …