Nie wieder Apfelkorn

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Nie wieder Apfelkorn
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Rich Schwab

Nie wieder Apfelkorn

– Der erste Büb Klütsch-Roman –

FUEGO

– Über dieses Buch –

Büb Klütsch ist Schlagzeuger. Rock'n'Roll-Schlagzeuger, aus Leidenschaft. Mindestens genau so gerne hängt er an Theken rum und trinkt Bier. Damit er sich beides leisten kann, steht er auch des öfteren hinter dem Tresen.

Ein zwar buntes, aber im Grunde doch recht geruhsames Leben – würde er nicht immer wieder in irgendwelche dubiosen Abenteuer verwickelt.

In Rich Schwabs erstem Roman (Druckerstausgabe 1992) ist es die unappetitliche Verquickung von Musikgeschäft und Drogenhandel im Jahr 1976 in Köln und Wiesbaden, gekrönt von Kidnapping, Körperverletzung und Mord.

»…kommt rauh und heiser in ruppiger Gangart daher wie ein Song von Van Morrison, nicht zimperlich, und doch schwingt Sehnsucht mit, Liebe, Romantik«, urteilte Elke Heidenreich nach der Lektüre. »Vielleicht nie wieder Apfelkorn – aber immer wieder Rich Schwab!« (s. Pressestimmen).

Ausschnitte aus dem Buch gibt es auch als vom Autor gelesenes und mit Musik geschmücktes Hörbuch in den einschlägigen Download-Shops.

Vorspann

Er glaubt nicht

Dass etwas mit ihm los ist

Weil ein Teil von dem

Was mit ihm los ist

Ist

Dass er nicht glaubt

Dass etwas mit ihm los ist.

Also müssen wir ihm helfen

Zu erkennen

Dass, dass er nicht glaubt

dass etwas mit ihm los ist

Ein Teil von dem ist

Was mit ihm los ist.

Ronald Laing

Loss es, wat nit fess es.*

Opa Klütsch

(In den Originalsprachen Kölsch und Englisch Geschriebenes ist zum großen Teil hinten im Glossar auf Hochdeutsch zu finden – ein Asterisk im Text [*] fungiert als Link dorthin.)

1


Je später der Abend

Als die beiden reinkamen, wünschte ich, ich hätte gestern zwanzig Bier weniger getrunken. Oder heute zehn mehr. Oder wenigstens die Tür schon abgeschlossen – schließlich war es schon halb zwei durch. Dabei hatte ich, wie immer, pünktlich um eins die letzten Gäste rausgeschmissen, außer der Blauen Britta, die ich seitdem bei ein, zwei Feierabendbierchen am Anbaggern war, während ich die Theke sauber machte und die Stühle und Hocker hochstellte. Britta und ich hatten schon drei-, viermal das Vergnügen gehabt, und es war immer lustig, geil und unverbindlich nett gewesen. Außerdem stand ich auf oralen Schweinkram – dreizehn Jahre lang täglich literweise Kölsch in sich reinschütten beeinträchtigt im Laufe der Jahre das Stehvermögen; die Mädels, die auf drei Stunden Rammeln standen, fielen daher meistens nur einmal auf mich rein; und ich kannte kaum eine, die fürs Orale zuständiger war als die Blaue Britta – nicht nur, weil sie die beste Rocksängerin in der Stadt war oder weil sie saufen konnte wie ein Köbes.

Davon abgesehen hatte ich nicht die geringste Lust, in meine eigene Bude zu gehen und zwischen mehreren Zentnern Katzenscheiße zu pennen. Meine Wohngenossen Stevie und Helga hatten sich vorletzte Woche mal wieder heftigst gezofft, und Stevie hatte irgendwann entnervt die Wohnungstür hinter sich zugeknallt, um im Kabäuschen seinen Ärger zu ertränken. Auf dem Weg nach unten war sein Zorn aber fast schon wieder verraucht, und als er, vor der Haustür angekommen, einen Blick nach oben warf und Helga aus dem Küchenfenster gucken sah, rief er hoch, sie solle doch, verdammt noch mal, auch runterkommen. Sie schien ihn gründlich missverstanden zu haben – für die Strecke vom fünften Stock bis runter zum Ubierring brauchte sie anderthalb Sekunden und zum Sterben dann noch drei Tage. Ich hatte sie immer schon für ziemlich gaga gehalten, aber Stevie hatte eben einen völlig anderen Geschmack als ich. Deswegen kamen wir uns auch nie ins Gehege.

Stevie war seitdem in der Stadt unterwegs, um sich die Augen aus dem Kopf zu heulen und sich das Hirn weg zu ballern. Als ich vor ein paar Tagen von einer kleinen Deutschland-Tournee mit Penner’s Radio zurückkam, hatten Helgas fünf verwaiste Katzen die Wohnung voll im Griff. Sie fühlten sich so wohl, dass eine von ihnen schon wieder schwanger war. Ich stellte ihnen für ’nen Fuffi Katzenfutter und H-Milch in die Küche und ergriff erst mal die Flucht vor dem Gestank. Irgendwo auf der Zülpicher fand ich dann Stevie, der mich erstaunlicherweise noch erkennen konnte und mir die ganze Geschichte erzählte, wozu er fast drei Stunden und anderthalb Flaschen Wodka brauchte. Aber dafür hatte ich sie dann auch sechsmal gehört.

***

Na ja – und jetzt stand ich seit vorgestern wieder hinter der Theke von Wolli’s Schrebergarten, um meine beiden anderen Leidenschaften – Schlagzeug spielen und Kölsch trinken – zu finanzieren. Ich hatte mich gerade wieder halbwegs eingelebt, da kommen diese beiden Gestalten in den Laden. Sie stinken Kilometer gegen den Wind nach Ärger, und ich hoffe, dass sie den feinen Schweißfilm auf meiner Stirn nicht sehen und die Angst nicht riechen, die sich in meiner Magengrube rührt wie ein Zwölf-Wochen-Embryo.

Das Rindfleisch sah auf den ersten Blick so aus, als könne er kein Wässerchen trüben – ein Metzgersöhnchen, vollgestopft mit Eisbein, Cola und Kinderschokolade. Der zweite Blick offenbarte die Härte und Geschmeidigkeit hinter seiner Zwei-Meter-Zwei-Zentner-Figur – und dieses angeborene, eingekerbte Lächeln, wie man es nur an echten Asis kennt: Ich weiß Bescheid – das Leben ist nur ’ne andere, grausame Sportart, und nur der gewinnt, der die Spielregeln mitbestimmt, und zwar möglichst grausamer als alle anderen. Das Lächeln, mit dem mein Mofa-Kumpel Stein’s Willi früher lebende Goldhamster an Türen genagelt hatte; das Lächeln, mit dem Schiefer’s Rita noch früher die dreizackige Gartenharke meiner Oma in meinen kleinen Schädel gedengelt hatte – nur weil ich ihr zu lange auf meiner eigenen Schaukel saß …

Dem Kopp hinter dem Rindfleisch sah man den Spaß an Gemeinheiten schon auf den ersten Blick an. Ich habe nix gegen Vorurteile, und ich habe auch nix gegen Rothaarige – einige meiner besten Freundinnen haben rote Haare – aber dieses Exemplar …! Er war ungefähr halb so hoch wie das Rindfleisch, aber genau so breit. Seine rot glänzende Margarinefrisur, auf Elvis getrimmt, begann direkt über den dickknochigen Augenbrauenwülsten, die bestimmt zwei Zentimeter vorsprangen – was weiter war, als seine Nase es brachte, die aussah, als hätte sie jemand mit einem Vorschlaghammer bearbeitet. Das heißt, wahrscheinlicher war in seinen Kreisen ein Wagenheber. Er hatte breite, fleischige Lippen und zog die linke Hälfte der Oberlippe bis zum linken Nasenloch – er schien seinen Elvis vor dem Spiegel zu üben, und ich hoffte, er würde nicht gleich Cryin’ In The Chapel bringen. Andererseits – so wie die beiden aussahen, waren sie wahrscheinlich in der Lage, mir Schlimmeres zu bieten. Ich fluchte in mich hinein. Warum hab’ ich diese Scheißtür nicht schon abgeschlossen?

***

Wolli’s Schrebergarten war eine der herrlichsten Kneipen, die ich je kennen gelernt habe – und ich habe einige kennen gelernt zwischen Flensburg und Berchtesgaden, und in Köln so ziemlich alle. Es gab den Laden seit ’72 – verraucht, verkommen, verrufen; die Möbel stammten noch vom gutbürgerlichen Vorbesitzer, der sie irgendwann in den fünfziger Jahren mal gekauft haben musste; die Theke war im Eigenbau mit geklauten Backsteinen verlängert, in die »rustikalen« Lampen mit Holzrahmen und Stoffbespannung hatte Wolli einfach bunte Glühbirnen geschraubt. Einige davon brannten sogar noch.

An den schwarz gestrichenen Wänden klebten Plakate von Uni-Feten und Popkonzerten, vom SSK und vom KBW, von Indianerhäuptlingen, Sportstudios und Frauenbuchläden; es gab einen Billardtisch, dessen grüne Samtbespannung gerade noch an zwei Banden zu erkennen war; die Musik kam, gut laut, von dem Plattenspieler hinter der Theke – immer dieselben zwanzig abgenudelten Alben: Stones, Zappa, Captain Beefheart, Miles Davis, Jimi Hendrix und Dr. Hook, und wenn einer von denen, die immer was zu meckern haben, ankam und fragte, wie man bloß so verkratzte Scheiben laufen lassen könnte, kriegte er die Standardantwort: »Wieso? Wir ha’m doch nur die besten Stellen angekreuzt!«

An einem Abend, an dem ich besonders gut drauf war, hatte ich mal ’ne Doldinger-Platte aufgelegt, die einen Sprung hatte. Der war witzigerweise an einer Stelle, wo er kaum auffiel, es ergab sich einfach nur eine Endlosschleife im Sieben-Achtel-Takt. Es dauerte über ’ne Stunde, bis es jemand merkte, und zwei Stunden, bis sie alle so sauer waren, dass mir nichts anderes übrig blieb, als was anderes aufzulegen – sie fingen schon an, mit Gläsern nach mir zu schmeißen, und davon hatten wir eh immer zu wenig.

Im Schrebergarten hing immer eine ganz eigene Duftmischung: der Geruch von Jahre alter Bierhefe, kaltem Rauch, Haschisch und Haarspray, Schweiß, Kotze und Pisse, selbstgepanschtem Apfelkorn (ein Drittel Korn, zwei Drittel Apfelsaft, ein kräftiger Schuss Rum, ein Schuss Cointreau, angerührt in Zehn-Liter-Plastikkanistern, abgefüllt in alte Weinflaschen, die Flasche fuffzehn Mark, für Freunde ’nen Zehner – und den tranken überwiegend Freunde …), und nicht zuletzt der unverwechselbare Geruch von Selims Frikadellen; die briet der kleine Perser in der winzigen Küche neben der Theke – mehr Brötchen als Hackfleisch und mehr Knoblauch als Brötchen. Eigentlich war er hoch dotierter Spezialist in einer Bonner Augenklinik – aber versuch mal, mit zwanzig Captagon und zwei Flaschen Fernet im Kopp ’ne Netzhaut zu flicken.

 

Nachmittags um fünf machte der Laden auf, und ab sechs war er voll: verfrorene Fixer vom Barbarossaplatz, die sich auf dem Klo gegenseitig übers Ohr hauten, damit auch jeder sein Schüsschen abkriegte; Stricher vom Zülpicher, die sich auf demselben Klo auch schon mal ’nen Zwanziger dazuverdienten (wenn sie nicht gerade an Herrn Belzinger gerieten); schmuddelige SSKler, die erst mal die Groschen für die erste Runde große Biere zusammenschnorrten, dann nach zwei Stunden Debatten über die Zukunft der Anarchie in Germoney die Tageseinnahmen des Vereins, mit Entrümpelungen und Möbeltransporten mühsam erarbeitet, in literweise Apfelkorn umsetzten, ehe sie sich ans Absingen ihrer Kampflieder machten; um den Billardtisch rum Asbach-Cola schlürfende Jungloddels und Nachwuchsschläger vom Rathenauplatz, die aus lauter Langeweile schon mal einen kleinen Fixer durchs Fenster warfen; manchmal hauten sie sich auch nur gegenseitig Billardkugeln um die Ohren. Es gab jede Menge Personal aus den umliegenden Studentenpinten, die hier alle kein Geld auszugeben brauchten, weil auch wir überall frei Saufen hatten; Studenten und Studentinnen, die auch mal am proletarischen Sumpf schnuppern wollten, was manchen von ihnen dank Papis monatlichem Scheck mehr als gründlich gelang; hier kamen die Schwulen hin, denen das Shalömchen zu tuntig war; krakeelige Omas und Opas aus dem Viertel, die sich hier jünger und ernster genommen fühlten als in den gutbürgerlichen Gaststätten; ein paar Schauspieler – einer von ihnen ist heute ein Star im deutschen Film- und Fernsehgeschäft, und ich weiß noch, wie er versuchte, mir im Schrebergarten einen Aschenbecher aufs Maul zu hauen, weil ich ihm keinen Deckel machen wollte; es blieb bei dem Versuch – leider brach er sich den Arm dabei, heute kennt er mich nicht mehr, wenn wir uns begegnen; und schließlich haufenweise Musikerkollegen, die der allgegenwärtige Cat Stevens aus allen anderen Kneipen vertrieben hatte – Jazzgitarristen und Straßenmusiker, Garagenrocker und Big-Band-Bläser, ewige Loser und Karrieremacher, ehemalige und zukünftige Lokalmatadoren, Alleinunterhalter, Sich-selbst-Unterhalter und Popstars. Schöne Kneipe. Gute Zeit, 1976.

***

Wolli selbst war ein ziemlich guter Jazzpianist. Anfang der 70er hatten wir mal zusammen in einer dieser unsäglichen Post-Mahavishnu-Jazzrock-Kapellen gespielt (alles unter Neun-Achtel-Takt ist profane Kacke, und je mehr Zweiunddreißigstel-Noten du in einen Takt packst, desto besser ist die Band). Später machte er Ernst und studierte weiter seine Millimeterpapier-Musik, während ich das Kiffen dran- und mich in die Niederungen des Rock’n’Roll zurückbegab. Dann wurde in seinen Proberaum in Zollstock eingebrochen. Mit den fünfundzwanzig Mille von der Versicherung machte er den Schrebergarten auf – in der Nacht vor dem Einbruch hatte ich ihm noch geholfen, das komplette Inventar des Proberaums, Flügel, Mischpult, Bandmaschine usw., in den Keller seiner Cousine in Aachen zu schaffen. Ein Jahr lang schmiss er den Laden selbst, dann wurde es ihm zu laut und zu hektisch. Schließlich hatte er auch noch ein Riesenschwein: Kompositionsauftrag für eine dreißigteilige französische Krimi-Serie – zwar ’n Haufen Arbeit, aber auch Unmengen Kohle. »Wat soll ich mich da noch hintern Tresen stellen un’ Besoffene angucken, die ich au’ noch selber abgefüllt hab, wa’, Büb?«

Ich hatte schon ein paar Mal ausgeholfen, wenn ich pleite war, kannte den Laden und die Leute und genoss sein Vertrauen, also ernannte er mich kurzerhand zum Geschäftsführer. Ich kriegte nicht mehr zehn, sondern fünfzehn Mark die Stunde, musste mich dafür aber eben um alles kümmern. Und Wolli setzte sich ab nach Ibiza, wohin ich dann jeden Monat einen Scheck wandern ließ. Na gut – fast jeden Monat. Es gab ja nicht immer Gewinn.

***

Aber deswegen würde er mir ganz sicher nicht zwei Figuren wie diese auf den Hals schicken. Außerdem würde er auch wissen, dass das wenig Sinn hätte – ich verstand mich mit einigen von den einschlägigen Gästen ganz gut, und es hatte schon öfter geheißen: »Wä däm Büb jet deit, dä weed en dä Stadt nit alt!«* Also – was wollten die beiden Kanten hier?

»Jet spät draan«*, sagte ich, nachdem ich mich beinahe an ’nem Apfelkorn verschluckt hätte. Ganz der lässig-freundliche Barmann, den meine Gäste kennen und schätzen. Elvis schickte mir nur einen kurzen Blick rüber und kaute dann weiter an seinem Brikett. Es war die Art von Blick, wie ihn gestandene Fernfahrer nach sechzehn Stunden Autobahn für den Käfer schräg links hinter ihrem Hänger übrig haben, bevor sie ihre siebzig Tonnen ein paar Zentimeter vor seiner Schnauze auf die Überholspur lenken.

Das Rindfleisch ignorierte mich gar nicht erst, sondern ging fett wie ein kastrierter Kater auf die hintere Ecke der Theke zu, wo Britta saß. Er trug ein mehr oder weniger weißes Unterhemd, das ihm seine Mutter wohl schon vor über zehn Jahren gekauft hatte. Bei den beiden Wäschen seitdem war es ziemlich eingelaufen, unten reichte es nicht über seine Speckhüften, und oben auf den Schultern waren die Nähte an mehreren Stellen aufgeplatzt. Seine Mutter hatte daraus gelernt und ihm bei Woolworth eine rote Trainingshose gekauft, in die er wohl erst noch reinwachsen sollte. Als er an mir vorbei kam, brachte er eine Wolke von Schweiß und Shit mit. Ich versuchte, nicht allzu tief einzuatmen.

»Treck ding Jack aan, mir fahre jetz’ jet spaziere«*, begrüßte er die Blaue Britta galant.

»Moment ens* …«, versuchte ich, mich einzumischen. Elvis stand vor mir, einen Ellbogen auf die Theke gelehnt und schenkte mir einen etwas längeren Blick. Mir wurde klar, dass der Käfer schon eher neben dem Hänger fuhr, und jetzt sah ich auch die orangenen Aufkleber auf der Plane – Explosive Ladung!

Aber ich arbeite schon zu lange in solchen Kaschemmen, um mich von jedem Arschloch sofort einschüchtern zu lassen. Auch wenn du Schiss hast bis zum Geht-nicht-mehr – das Schlimmste, was du tun kannst, ist, es diese Sorte merken zu lassen. Da sind sie wie diese degenerierten Zwingerhunde – die fallen über jeden her, an dem sie Angst riechen, ziehen aber oft schnell den Schwanz ein, wenn du sie mal ordentlich anschreist. Ich kannte die Sprache dieses Vereins und hatte auch den einen oder anderen Trick noch nicht vergessen, der mir in meiner eigenen Asi-Zeit das Überleben im Eigelstein-Viertel erleichtert hatte. War zwar auch schon weit über zehn Jahre her, aber bisher war ich auf die Art noch immer glimpflich weggekommen, selbst auf dem Schrebergarten-Prüfstand. Wer sich hier in seinem Job länger als zwei Jahre halten konnte, an dem musste schon irgendwas dran sein. Oder …?

»Passt ens op: Eetztens es he Fierovend, ihr sid also eijentlisch jaa nit he, sondern stoot drusse un’ sid aan de Rollade am kloppe. Zweitens es dat Mädsche he kein vun üer Jymnasiums-Prömmsche, die ihr sönz he nommeddags affschlepp’, öm se aanzestesche, un drit-«*

Ich hatte die Bewegung kaum richtig mitgekriegt, weil ich zwischen beiden hin- und hergeguckt hatte bei meiner kleinen Ansprache – es war einfach nur der Reflex von einem, dem schon öfter was über die Theke geflogen kam, deshalb streifte mich der Barhocker nur an der Schulter und landete im Regal mit den Fruchtsäften.

»Du spells he jaa nit met, kleine Mann«*, bellte Elvis mit einer Stimme, wie man sie normalerweise nur kriegt, wenn man mindestens vierzig Jahre lang Karnevalslieder grölt – aber vielleicht klappt so was ja auch mit Brikettfressen. »Rühm ding Thek op un stühr uns nit bei d’r Arbeit. Dat nächste Dinge krisste en die Fress, es dat kla’?«*

Währenddessen hatte Rindfleisch, den die ganze Szene überhaupt nicht zu interessieren schien, Britta ihre Jacke in die Hand gedrückt, sie am Arm gepackt und war schon fast an der Tür mit ihr.

»Kumm, Fuss«*, sagte er, woraufhin auch Elvis sich der Tür zuwandte. Er übernahm Britta und Jacke und ging mit ihnen hinaus.

»Am beste drinkste dir noch e Bier un verjiss, datt mir övverhaup he wore. Sönz kumm isch widder und tredde dir dä Kopp weg«*, meinte Rindfleisch freundlich zu mir. Er tat einen halben Schritt von der Tür weg, und mit der Leichtigkeit einer Ballerina an der Trainingsstange, nur wesentlich schneller, kickte er die Lampe weg, die etwa in Höhe seines Minipli anderthalb Meter vor ihm über der Theke hing.

Ich machte die Bewegung, mit der Eiskunstlauf-Juroren ihre Bewertungs-Schilder ziehen, blickte nach rechts und links zu meinen virtuellen Mitjuroren und verkündete mit Stadionsprecherstimme:

»Vierkommavier …, dreikommaneun …, zweikommaacht … Das wird diesmal für die Meisterschaft kaum reichen, meine Damen und Herren. Wir geben zurück ins Studio.«

Das Rindfleisch betrachtete mich mit dem leicht verwunderten Blick eines jungen Hundes, der die Stimme seines Herrchens am Telefon hört. Vielleicht überlegte er auch, ob er seine Drohung wahr machen sollte, statt der Lampe mir den Kopf weg zu treten. Aber das war für sein Hirn anscheinend doch etwas zuviel auf einmal – er kratzte sich nur kurz an den Eiern, rückte sein beim Kicken wohl verrutschtes Zipfelchen zurecht, drehte sich um und ging hinaus. Die Tür ließ er ganz dabei.

2


Nachtschalter

Ich kippte noch einen Apfelkorn, bis ich die Autotür klappen hörte, dann spurtete ich los, um einen Blick durch die Ritze in dem kaputten Holzrollladen zu werfen. Rindfleisch stieg gerade auf der Fahrerseite in einen kanariengelben Ford Capri mit schwarzem Kunststoffdach. Britta saß zusammengekauert auf dem Rücksitz, und Elvis auf dem Beifahrersitz. Sie schienen es nicht eilig zu haben.

Ich spurtete zurück zum Telefon. Normalerweise traf man sich nach eins erst mal in der türkischen Pizzeria, hundertfünfzig Meter die Straße hoch.

»Den Zak, schnell!« Aber ich hatte ihn schon selbst am Apparat. Er steht meistens an dem Tisch neben dem Telefon und wartet auf ’ne Fuhre. Ich hatte eine für ihn. »Da kommt jeden Moment ein gelber Primaner-Mustang mit schwarzem Dach an dir vorbei. K-UK 425. Häng dich dran und sag mir, wo sie die Blaue Britta abladen. Pass auf, das sind Schläger. Ich warte im Nachtschalter auf dich.«

Ohne einen Ton hängte er ein. Ich konnte mich darauf verlassen, dass mein alter Schulfreund mit dem unaussprechlichen polnischen Namen Zakrzsewski jetzt in sein Taxi jumpen und dem Capri auf den Fersen bleiben würde bis zum Affenfelsen von Gibraltar. Ich würde rausfinden, was das ganze Theater hier sollte.

Ich bin einer, der gerne seine Ruhe hat, und mische mich deswegen auch nie in anderer Leute Angelegenheiten. Aber ich lasse mich nicht von jedem in meinem eigenen Laden mit Hockern beschmeißen. Und ich muss es mir auch nicht bieten lassen, dass man mir die einzige Frau im Laden vor der Nase wegzerrt. Zumindest war ich es mir und Wolli schuldig, Elvis die Kohle für die fünfundvierzig Graninis abzuknöpfen, die er mir zerdeppert hatte.

***

Nachdem ich die Sauerei beseitigt und den Laden zugemacht hatte, ging ich zu Fuß die drei Ecken bis zum Nachtschalter. Was mir unterwegs nicht aus dem Kopf ging, war das Verhalten der Blauen Britta während der ganzen Geschichte. Sie war ganz schön blass geworden, als Pat und Patachon reingekommen waren, hatte aber eigentlich kein bisschen überrascht gewirkt. Es war eher die Reaktion von jemandem, der schon länger mit Unheil rechnet und sich dann auch nicht mehr wundert, wenn es eintritt. Sie schien sofort gewusst zu haben, dass die beiden ihretwegen da waren. Und beim Rausgehen hatte sie auf mich gewirkt wie die Mörder in den Edgar-Wallace-Filmen, wenn sie nach dem brillanten Resümee von Blacky Fuchsberger zwischen zwei Bobbies abgeführt werden: Man weiß, dass alles gelaufen ist, die Frage ist nur noch: Strick oder Dartmoor? Und im Hintergrund darf Blacky schon Karin Dor küssen. Oder war es Baal?

 

Egal – ich hatte gerade keine Karin zum Küssen, sondern zerbrach mir den halb vollen Schädel darüber, was denn die Blaue Britta verbrochen haben mochte. Hatte sie was verbrochen? Was wusste ich überhaupt über sie, außer dass sie gut singen, saufen und blasen konnte?

Sie war dreiundzwanzig, irgendwo im Sauerland aufgewachsen und mit siebzehn nach Köln gekommen, weil sie als Sängerin schon alle Bands in ihrer Gegend durch hatte und einfach zu gut für sie alle war. Ein Naturtalent. Ein Talent, das auch noch ehrgeizig und fleißig war – in Köln fing sie an, Gesangs-, Klavier- und Tanzstunden zu nehmen; sie wollte hoch hinaus. In der Bandhierarchie der Stadt diente sie sich dann auch ziemlich schnell hoch – innerhalb von fünf Jahren hatte sie ihre eigene Band, für die sie auch ihr eigenes Material schrieb. Sie hatte jede Menge Studiojobs, Auftritte, Angebote von Plattenfirmen und einen Heiratsantrag von Werner Faus. Im letzten Jahr hatte sie dann bei einer Winz-Firma unterschrieben und eine wunderschöne LP herausgebracht, Blue B. And The Purple Veil. Eine Woche nach der erfolgreichen Präsentation im Weißhaus meldete der Besitzer der Firma Konkurs an und verschwand irgendwo auf den Seychellen. Es stellte sich heraus, dass er seine Kohle hauptsächlich mit dem Verschieben von geklauten Mercedessen gemacht, aber noch nicht eine der Rechnungen für die Produktionskosten der Platte bezahlt hatte.

Ein halbes Jahr hatten wir uns dann nicht gesehen. Britta tourte wie eine Geisteskranke Deutschland rauf und runter, um die Schulden abzuzahlen, und Penner’s Radio war auch ziemlich viel unterwegs – wir spielten ja sowieso überall, wo ’ne Steckdose war.

Doch – einmal trafen wir uns auf der Raststätte am Hockenheimring. Blue B. waren auf dem Weg von Osnabrück nach Würzburg und wir von Freiburg nach Bremen oder so ähnlich. Als wir vom Tanken kamen und uns in die Cafeteria schoben, kam sie gerade vom Kaffeetrinken raus.

»Du siehst müde aus«, sagte ich und hauchte ihr einen Kuss auf die weiche Stelle zwischen Kragen und Ohrläppchen.

»Guck dich mal an«, erwiderte sie mit einem schiefen Grinsen und einem sanften (sehnsüchtigen?) Leuchten ganz hinten in ihren blauen Augen und küsste die Ringe unter meinen. »Wie lange noch?«

»Noch acht Paar Stöcke. Und ihr?«

»Wenn du mich jetzt schwängern würdest, müsste ich die letzten beiden Gigs wohl absagen.«

»Wenn wir jetzt damit anfingen, würden wahrscheinlich heute Abend schon zwei ausfallen«, erwiderte ich bedauernd. »Schade, schade.«

»Ja«, sagte sie, »schön, dich gesehen zu haben.«

***

Verdrießlich starrte ich auf die Flasche Apfelkorn, die mir Werner vom Nachtschalter automatisch vor die Nase gestellt hatte. Wenn ich mich jetzt mit der anfreundete, war ich womöglich später zu blau, um Prinz Eisenherz zu spielen – wahrscheinlich würde ich nicht mal auf ein Pferd kommen. Also bestellte ich mir’n paar Wasser und warf ein Zweimarkstück in den Flipper. Die beiden Studenten davor wollten erst protestieren, aber ich drückte ihnen den Apfelkorn in die Hand, setzte sie auf die Fensterbank und empfahl ihnen, erst mal ein Trinkpäuschen einzulegen.

Es kam mir vor, als hätte ich Hunderte von Freispielen geholt und gespielt, aber frag mich keiner nach irgendwelchen Spielergebnissen. Flippern ist das Spiel zum Meditieren. Besser als Patiencen, Schach oder auf ’nem Nagelbrett liegen. Irgendwo zwischen dem bunten Geflacker und Geblitze siehst du verschwommen Die Magische Silberne Kugel herumflitzen und knallst die Mittelfinger auf die Knöpfe, um das Ding oben zu halten. Wie einer von den Glorreichen Sieben mit einem Schuss nach dem andern den Dollar in der flirrenden Luft von Texas tanzen lässt, ziehst du wieder und wieder ab, bis deine Trommel leer geschossen ist, und ganz entfernt hörst du das Klacken der Freispiele wie das beifällige Raunen der dummen Siedler vor dem Saloon. Fast so gut wie Schlagzeug spielen. Oder Vögeln.

»Probleme, Büb?« Werner stellte die unvermeidliche Flasche Apfelkorn und zwei Gläser auf die Glasplatte des Flippers und schenkte ein. Ich sah ihn an, als wäre ich gerade aus einem dieser klebrigen Mittagsschläfchen voller Ken-Russell-Träume erwacht. Sah ihn an, dann die Flasche, sah mich im Laden um. Alle Stühle standen schon auf den Tischen, und wir waren nur noch zu fünft – Werner, zwei seiner Thekenmädels und ich. Und Chet Baker, der gerade Heroin in Blues verwandelte.

»Wie spät isses denn?«

»Halb sieben«, unterdrückte Werner ein Gähnen. »Wa’s los?«

»Gehen die beiden mit?«, fragte ich ihn mit einem Kopfnicken zur Theke hin.

Er zuckte die knochigen Schultern: »Haste Lust?«

»Trinken wir erstmal einen.«

»Sowieso. Prost, Büb.« Wir tranken drei, vier Gläschen, und ich erzählte ihm, was am Abend im Schrebergarten gelaufen war.

»Nijinsky«, sagte Werner und schenkte nach, »und Brikett-Fuss. Haste schwer Schwein gehabt.«

»Hä?«

»Nijinsky, weil er so gut springen und die Füße hochkriegen kann, auch wenn man’s bei seiner Figur kaum glaubt, und Brikett-Fuss, weil der sich seit Jahren Briketts auf die rote Tolle knallt, um seine Stirn abzuhärten. Geh nie näher als auf einen Meter an den ran. Der hat schon mehr Nasenbeine auf dem Gewissen als Joe Frazier und die Müllers Aap zusammen. Und weißte, wo du jetzt mal anrufen solltest, wenn der Zak seit mehr als fünf Stunden an denen dranhängt?«

Na klar! Ich griff mir das Telefon. Es war die dritte Notaufnahme, die des Marien-Hospitals in Ehrenfeld. Ich bestellte mir ein Taxi, trank noch einen und umarmte die beiden an der Theke.

»Bestimmt ein andermal«, sagte ich. Sie nickten beide lächelnd und hielten Händchen.

»Ruf an«, sagte Werner, »wir warten.«

***

Den Werner kannte ich seit ungefähr drei Jahren, seit ich entdeckt hatte, dass man sich bei und mit ihm ganz wunderbar die Nacht um die Ohren schlagen konnte. Auch er mischte einen vorzüglichen Apfelkorn – kein Wunder, er trank kaum was anderes. Er war eins von diesen Handtüchern, wo man sich immer fragt: Wo tun die eigentlich all das hin, was sie saufen? Er war immer braungebrannt, weil er zwei-, dreimal im Jahr in Urlaub fuhr, und hatte tief eingegrabene Kerben um die Mundwinkel; vom Schnaps, vom Nachtleben, von zwölf Jahren Ehe, von den Problemen, die vier eheliche und mindestens neun uneheliche Kinder so mit sich bringen, von dem Zynismus, in den man sich dann gerne flüchtet. Und er hatte eine Macke: Ficken.

Wer den Spruch von der Nase des Mannes und seinem Johannes in die Welt gesetzt hat, war wahrscheinlich vorher mit Werner in der Sauna gewesen, denn der hatte einen wirklich riesigen, dicken Adlerzinken. Im Nachtschalter arbeiteten immer nur Blondinen, die alle paar Wochen bis Monate wechselten. Von fünfzehn bis fünfundzwanzig, von Einsfünfzig bis Zweimeter, von vierzig bis hundertvierzig Kilo, vom Typ Wenn-ich-ein-Junge-wär bis zum Typ Rauschgoldengel – Hauptsache, jung und blond. Und es arbeiteten immer so viele davon, dass es nicht geschäftsschädigend war, wenn eine mal ’ne Weile nicht da war. Alle zwei, drei Stunden kriegte Werner nämlich seinen Rappel, dann verschwand er mit einer von ihnen in der Wohnung ein Stockwerk drüber. Und dann wurde auf seinem Dreimal-drei-Meter-Bett erstmal ein Stündchen gerammelt – ein Nähmaschinchen war nix dagegen. Wir waren ein paar Mal zu viert dort oben versackt, deswegen kannte ich das aus eigener Anschauung – die Mädels stöhnten und schrieen, und er machte ihnen ächzend den Rammler. Wenn ich heute ’ne Frau »Ich kann nich’ mehr!« sagen höre, assoziiere ich immer sofort dieses Schlafzimmer.

Ich hatte mal eine gefragt, wieso sie das eigentlich mitmache.

»Ich steh auf den Werner«, war die verständnislose Antwort. Ich fragte nicht weiter nach. Ich hatte damals zwar schon ’ne Menge feministische Bücher gelesen, aber junge Frauen missionieren war deswegen noch lange nicht mein Bier. Außerdem war »Muss ja jeder selber wissen« schon lange einer meiner Leitsätze. Und ich hatte ja nix gegen Werner. Ein paar Wochen, nachdem wir uns kennen lernten, hatte ich ihm verklickert, dass Sterilisation nicht im Geringsten was zu tun hat mit Impotenz oder gar Kastration. Er hatte sich daraufhin erfolgreich einem Eingriff unterzogen und konnte jetzt nach Lust und Laune in der Gegend herumvögeln. Seitdem war ich sein Freund. Von AIDS hatte man damals noch nichts gehört.