Gefundene Freiräume

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Renate Cziepluch

Gefundene Freiräume

Eine Reise in die Vergangenheit


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 by edition fischer GmbH

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: ef/bf/2B

ISBN 978-3-86455-682-1 EPUB

Inhalt

MEIN TRAUM

MAI 2018

TRÄUME

MEIN TRAUM

Es war der Traum von weiter Ferne,

so dacht ich oft, ich wär so gerne.

Auf einmal wurde es wirklich wahr,

ein Urlaub in Bulgaria!

Das fremde Land, so groß und fern,

gefühlt, wie auf ’nem anderen Stern.

Viel Neues gab es zu entdecken,

Strapazen konnten nicht erschrecken.

Das war für mich die weite Welt,

und hieß Eroberung, auch ohne Geld.

Es war ein Freiraum, wenn auch klein,

wie muss dann erst die große Freiheit sein?

MAI 2018

Die ganze Nacht hat es geregnet. Das Kofferpacken nimmt kein Ende. Die vielen Klamotten, die man heute besitzt! Trotz großer Vorfreude, beim Einpacken vergeht mir jedes Mal das Reisen. Die Blusen müssen zu den Hosen passen, die Hosen zu den Schuhen. Für abends einen Rock oder gar ein Kleid einpacken? Ist das alles kompliziert! Die Unbekannte, das Wetter, ist dabei nicht zu unterschätzen. Also, trotz vorhergesagter Gutwetterprognose, sicherheitshalber feste Schuhe neben Schuhen für den Abend einpacken. Die ganz normalen Alltagssandalen für jeden Tag, ab damit in den Koffer. Am Strand gibt es außerdem Muscheln und Steinchen, die machen Badeschuhe für meine jetzt so empfindlichen Füße notwendig. Es fehlen noch Waschzeug und Kosmetik. Natürlich die Kosmetik für den Tag und für die Nacht und vor und nach der Sonne sowie die spezielle Haarwäsche. Badeanzug oder Bikini? Bei meiner Figur noch den Bikini tragen? Was soll ich nur einpacken? Hab ich auch nichts vergessen? Passt das überhaupt alles in den Koffer?

Was bin ich umständlich geworden! Wahnsinn, früher flogen Jeans, ein paar T-Shirts, Strickjacke, Unterwäsche und ein Minimum an Waschzeug in die Reisetasche. Das reichte für drei Wochen. In Minuten war die Tasche voll und alles startklar.

Irgendwann nach Mitternacht beende ich, unsicher, das Richtige gewählt und eingepackt zu haben, diese ungeliebte Großaktion Kofferpacken. Aufgewühlt versuche ich zu schlafen und wälze mich im Bett hin und her.

Schon um vier Uhr, als ich gerade eingeschlafen war, klingelt der Wecker. Im Expresstempo werden die morgendlichen Rituale erledigt.

Alles doch noch pünktlich geschafft. Das Taxi steht auch, wie bestellt, rechtzeitig vor der Tür.

Meine Schwester Doro steht am Flughafen. Die Abfertigung verläuft so früh am Morgen relativ zügig. Nach der lästigen Pass- und Zollkontrolle und nicht enden wollender Wartezeit im überfüllten Transitraum dürfen wir endlich in den voll ausgebuchten Flieger. Wie die übrigen Fluggäste drängeln auch wir uns zu den Sitzen. Nachdem wir den gebuchten Platz erreicht haben, verstauen wir unsere Beine in der viel zu engen Reihe und versuchen es uns sitzend gemütlich zu machen. Im vorderen Teil der Maschine steht die Flugbegleiterin und fuchtelt bereits mit den Armen. Von ihrer obligatorischen Rettungsübung nimmt jedoch kaum ein Passagier Notiz. Jeder ist mit sich, seinem Handgepäck, welches nicht in die überfüllte Gepäckablage passt, oder einem seiner Körperteile beschäftigt.

»Wie weit fahren wir denn noch?«, frage ich Doro. »Wir wollen doch eigentlich nach Burgas fliegen!«

Die Maschine rollt und rollt, von uns als Ewigkeit empfunden, über das gesamte Flughafenareal, ehe die Startbahn erreicht wird. Ein kurzer Halt, der Flieger pumpt wie ein Maikäfer vor dem Start und hebt endlich ab. Etwas über zwei Stunden soll der Flug dauern. Unter den Reisenden tritt nach und nach Ruhe ein, nur der Motor brummt furchtbar laut und wird auch nicht leiser. Ich stelle die Rückenlehne etwas zurück, um bequemer zu sitzen und liege versehentlich mit meiner Lehne fast auf dem Schoß des empörten Herren hinter mir. Also, wieder zurück und ordentlich gerade sitzen!

Nach langer Zeit fliegen wir wieder einmal nach Bulgarien in unser ehemals kleines verträumtes Ravda, einen kleinen Ort am Schwarzen Meer. Was wird sich bei dieser Reise in die Vergangenheit verändert haben und was erwartet uns nach so vielen Jahren? Wir beide sind sehr gespannt.

Doro fragt mich: »Wie bist du denn eigentlich damals auf Ravda gekommen? Das Nest kennt doch kein Mensch.«

Mir kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich das erste Mal nach Ravda fuhr, und ich beginne zu erzählen.

»Eigentlich war es der pure Zufall, und ich denke, auch mein Glück. Das ist ja alles schon ewig her. Es war im Jahr 1981 und wir wagten uns, jung, naiv und unbedarft, ohne jegliche Vorbereitung hinaus in die für uns offenstehende kleine Welt. Wenigstens wollten wir den für uns als DDR-Bürger erreichbaren Teil der Welt, das SW (Sozialistisches Wirtschaftsgebiet), entdecken und erobern. Waren wir doch immer auf der Suche nach Freiräumen. Geld spielte dabei keine besondere Rolle, es war sowieso meistens knapp, und es durfte auch nur begrenzt Geld getauscht werden. Aber aktiv und mutig verwirklichten wir, im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten, unsere Träume voller Selbstvertrauen, manchmal auch am Rande der Legalität. Was konnte uns schon passieren, Durchhaltevermögen und improvisieren hatten wir im Alltag gelernt.

Weißt du, Doro, damals arbeitete ich auf dem Flughafen in Berlin Schönefeld. Die DDR-Fluggesellschaft Interflug hatte für ihr Personal Ferienobjekte im sozialistischen Ausland. Unter anderem gab es auch ein Vertragshaus in Ravda in Südbulgarien mit Ferienzimmern. Das Haus war nur 100 Meter vom Schwarzen Meer entfernt. Ich war sehr stolz, so einen attraktiven Ferienplatz erstanden zu haben, obwohl ich nur bei einem Dienstleister der Fluggesellschaft beschäftigt war. Ein preiswertes Zimmer am Schwarzen Meer, das hatte schon etwas ganz Besonderes. Gerda, meine Freundin, war total begeistert, als ich sie mit dieser freudigen Nachricht überraschte und selbstverständlich sofort mit von der Partie. Wir wollten schon immer einmal nach Bulgarien, nur die von den Reisebüros angebotenen bekannten Touristenziele interessierten uns nicht so sehr, und auch die Preise entsprachen nicht unseren Vorstellungen. Wir wollten das Land und die Menschen kennen lernen, und das natürlich recht günstig. Während die direkten Mitarbeiter Freiflüge zum Feriencheck erhielten, mussten wir uns um die eigene Anreise kümmern. Diese sollte natürlich so preiswert wie möglich sein. So begaben wir uns auf eine Reise ins Unbekannte, auf unsere ganz individuelle Art und Weise. Die Deutsche Reichsbahn war die günstige und einzige Alternative zum Fliegen, da wir beide kein Auto besaßen. Auslandsfahrten mit der Deutschen Reichsbahn waren super preiswert. Viele Reisende lösten, wenn sie von Berlin nach Dresden fahren wollten, eine Fahrkarte nach Decin (Tschechien). Das war günstiger. Dann kostete der Auslandskilometer vom Heimatbahnhof nämlich nur zwei, statt des Inlandsfahrpreises von acht Ostpfennigen.

Nach Erhalt des rosa Papierchens, wie wir die vor der Reise bei der Polizei beantragte ›Reiseanlage zum visafreien Reiseverkehr‹ nannten, fuhren wir zum Ostbahnhof, um Tickets zu kaufen. Am Schalter verlangten wir Fahrkarten nach Nessebar, nur 10 km von unserem Ziel Ravda entfernt. Internationale Züge fahren nur nach Varna oder Burgas, war die Antwort der Verkäuferin. Nessebar hat keinen Bahnhof. Was ist denn preiswerter, lautete meine Gegenfrage. Varna war die Antwort. Dann bitte zweimal Varna, erwiderte ich. Gesagt, getan – denn Schwarzes Meer ist Schwarzes Meer.

Schon die Anreise war abenteuerlich. Über zwei Tage dauerte die Fahrt mit dem Nachtzug über Prag, Bratislava und Budapest. An der rumänischen Grenze in Arad mussten wir umsteigen und hatten zwei Stunden Aufenthalt, um weiter durch ganz Rumänien bis Varna zu fahren.

Für den ersten Streckenabschnitt bis Rumänien besaßen wir noch Karten für das Liegewagenabteil der ungarischen Schlafwagengesellschaft. Die Tagessitze sind dort abends hochzuklappen und werden jeweils zu drei Liegen auf jeder Seite umfunktioniert. Danach könnten rein theoretisch bis zu sechs Personen im Abteil liegen oder sogar schlafen.

Bis Prag war das Abteil voll besetzt und wir kamen nicht zur Ruhe. Doch dort stiegen vier der ab Berlin mitgereisten Fahrgäste aus und wir glaubten, uns endlich zur nächtlichen Ruhe einrichten zu können. Obwohl nur zwei neue Reisende zustiegen, war das ein gewaltiger Irrtum. Denn die beiden flotten ungarischen Männer dachten nicht an Schlafen. Mit Hallo begrüßten sie uns, und die Sitze blieben Sitze. Sie stellten sich als Géza und András vor und holten schon bald nach Abfahrt des Zuges Pálinka, ungarischen Obstbrand, aus ihrem Gepäck. Den tranken sie nicht allein. Wir opferten als Gegenleistung unsere Schmalzstullen, die ursprünglich für die gesamte Anreise gedacht waren. Dank Pálinka, Händen und Füßen sowie einiger Brocken ungarischer Sprachkenntnisse meinerseits war auch bald eine lebhafte Unterhaltung auf Kleinstkindniveau im Gange.

 

Diese Unterhaltung wurde durch Pálinka und Übersetzungsschwierigkeiten immer witziger und vor allem immer lauter. Der ungarische Liegewagenschaffner kam aufgebracht ins Abteil und bat uns, leiser zu sein. Aber unserer Stimmung konnte er nicht entgehen. Nachdem er drei Pálinka mitgetrunken hatte, sang er am lautesten: ›ez az szép, ez az szép‹ (das ist schön, das ist schön).

Wir feierten, mit Unterbrechung an der slowakischen Grenze, bis Budapest. An der Grenze benahmen wir uns ruhig und gesittet. Den gestrengen Beamten wollten wir so seriös wie möglich erscheinen, da wir mächtigen Respekt vor ihnen hatten. Man wusste ja nie, was sie suchten oder finden würden. Weder an der slowakischen noch an der Grenze nach Ungarn wurden wir kontrolliert.

Nur der obligatorische Stempel zierte planmäßig das rosa Papierchen. Auch der Zoll ließ uns in Ruhe. Mit lautem Hallo verabschiedeten wir András und Géza in Budapest. Vorher halfen sie uns, unsere Ruhestätten herzurichten, also die Sitze in Liegen umzuwandeln.

Allein im Abteil, rollten wir nun liegend durch den restlichen Teil des Magyarenlandes bis zur rumänische Grenze. Der Schaffner, unser neuer Freund, ließ keine neuen Fahrgäste ins Abteil. Ich glaube, er musste sich von uns erholen und machte in seinem Dienstabteil erst einmal ein Nickerchen.

An der rumänischen Grenze wurde es ungemütlich. Ein Zollbeamter durchsuchte unser Gepäck. Der Genosse konnte nicht verstehen, dass wir mit nur einer Reisetasche pro Person bis nach Bulgarien in den Urlaub fahren wollten. Wir besaßen zwar nichts mehr zu essen, jedoch noch drei Schachteln unserer guten DDR-Zigaretten ›Cabinett‹. Die Übergabe einer Schachtel veranlasste den Zollbeamten, uns eine gute Weiterreise zu wünschen.

Arad ähnelte mehr einem verwahrlosten Güterbahnhof, als der erwarteten großen Grenzstation. Auf diesem ungepflegt anmutenden Bahnhof hatten wir zwei Stunden Aufenthalt bis zur Weiterfahrt nach Varna. In einem halbdunklen, von Alkohol und Qualm vernebelten Warteraum ließen wir uns kaputt und müde auf einer Bank nieder. Ich muss wohl eingenickt gewesen sein, als ich von einem gestrengen Polizisten unsanft aus dem Halbschlaf gerissen wurde. Mit böser Miene ermahnte er mich. Er gab mir sehr laut und unfreundlich in gebrochenem Deutsch zu verstehen, dass es verboten sei, hier zu ruhen. Ringsherum lagen zwar ungepflegte alte Männer, welche vor sich hin dösten oder tranken. Selbst diese fühlten sich in ihrem abgetauchten Zustand für einen Augenblick gestört. Alle müden Blicke richteten sich auf uns.

Unser Glück war es, dass unsere Mittagsruhe so barsch unterbrochen worden war. Beinahe hätten wir unseren Zug nach Varna verpasst. Eine Stunde Uhren vorstellen hier an der Zeitgrenze, war uns glattweg nach der durchfeierten Nacht entfallen. Lediglich zehn Minuten verblieben bis zur Abfahrt des Zuges. Das war eng. Mit letzter Kraft erreichten wir, nach Suchen des richtigen Bahnsteiges, kurz vor Abfahrt den überfüllten Zug. Hierfür besaßen wir weder Platz- noch Liegewagenkarten. Eine weitere Nacht im überfüllten Zug durch ganz Rumänien lag vor uns.

Wir quetschten uns fast durch den gesamten Zug bis zum vorletzten Waggon. Hier entdeckten unsere müden Augen in einem übel nach Knoblauch stinkenden Abteil noch zwei Sitzplätze. Eine Bauernfamilie hatte sich hier ausgebreitet. Zahnlos freundlich grinsend, machten sie uns Platz und räumten ihre vielen Kartons und Körbe für uns bereitwillig zur Seite. Recht bald wiegte uns das eintönige Rattern und Geruckel der Räder und der warme Mief des Abteils sanft in den Schlaf.«

»Kaffee, Tee, Wasser oder Saft? Süß oder Herzhaft?«, fragt die Flugbegleiterin. Die Frage holt mich von meinem Trip aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart zurück. Doro bestellt Kaffee und das als herzhaft bezeichnete Käsesandwich. Ich nicke und erbitte das Gleiche.

»Dass bei einem Kurzstreckenflug überhaupt etwas angeboten wird, ist ja erstaunlich«, sagt Doro. Doch der dünne, mehr nach Maggi als nach Kaffee duftende Pulverkaffee hat leider nicht die für den frühen Morgen erhoffte belebende Wirkung. Das als herzhaft bezeichnete, stark unterkühlte Käsesandwich ist etwas weichlich, in Richtung Nahrung für Säuglinge oder Zahnlose ausgefallen.

In Gedanken vergleiche ich mit der Vergangenheit. Nostalgisch, in Gedanken versunken, ziehen in meinem Kopf die Flüge in der gemütlichen IL 18 vorüber. Bei der Interflug oder Balkanfluggesellschaft gab es auf dieser Strecke noch eine Lunchbox mit kleinem Imbiss, meistens mit Gummiadler, wie wir die Hühnchen nannten, aber irgendwie war es appetitlicher. Bei der Balkanfluggesellschaft freuten wir uns immer über den kostenlosen Wein dazu, der den Urlaub erst so richtig einleitete. Hinten saßen die Raucher und vorne die Nichtraucher.

Aber schließlich haben wir diesmal nichts erwartet und erleben somit eine positive Überraschung. Wir fliegen ja schon über eine Stunde.

»Renate, bist du auch so gespannt, wie jetzt der Flughafen Burgas aussieht?«, fragt Doro.

»Lassen wir uns überraschen, schau mal durchs Fenster, siehst du da unten das Gebirge?«, antworte ich.

Schon bin ich wieder bei meinen alten Erinnerungen. Das werden die Karpaten von Rumänien sein. Damals, mit der Bahn, konnten wir die herrlichen Landschaften vom Zug aus betrachten. Auf den Bahnhöfen standen immer die armen Menschen und versuchten, den Reisenden der internationalen Züge ihre Habseligkeiten anzubieten. Bettelnde Kinder liefen auf den Bahnsteigen umher. Bei späteren Reisen packten wir fünfzig Gramm-Kaffeetütchen für die Erwachsenen und Bonbons für Kinder zum verteilten ein. Einmal reichte uns eine Rumänin eine große Melone aus Dankbarkeit ins Abteil. Mit einem Taschenmesser geschlachtet, verteilten wir diese unter den Fahrgästen. Bis Bulgarien war das ja immer eine lange, interessante Strecke. Wie ich schon erzählt habe, unsere erste Reise, durch ganz Rumänien im vollen Abteil, endete nach einer weiteren Nacht ohne richtigen Schlaf am Vormittag in Varna. Ziemlich zerknittert und unausgeschlafen staunten wir beim Eintreffen über den großen Bahnhof.

Gerda fragte mich: »Wohin müssen wir nun?«

»Weiß ich doch nicht«, entgegnete ich noch ziemlich müde.

Also fragten wir abwechselnd Passanten nach Nessebar. Aber niemand verstand uns oder wollte uns verstehen. Einige nickten mit dem Kopf. Was soll denn das, stutzten wir. Absolut keine Verständigung war möglich. Auch die im Kopf verbliebenen Vokabeln unseres Schulrussisch halfen kein bisschen weiter. Wir liefen einfach drauflos. Es war Vormittag und es wurde immer heißer. Auch unsere Taschen wurden, je länger wir liefen, immer schwerer. Übermüdet schleppten wir uns in Richtung Hafen. Port konnten wir gerade noch lesen. Varna ist ja eine richtig große Stadt, stellten wir fest und spürten es mit jedem weiteren Schritt mehr. Das hatten wir nicht erwartet. Vergeblich versuchten wir weitere Passanten nach Nessebar zu fragen. Ein älterer Herr half und erlöste uns von unserer Unwissenheit.

Er erklärte die Situation: »Nach Nessebar müsst ihr mit der Bahn, ein paar hundert Kilometer bis Burgas weiter, und von dort aus dann mit dem Bus bis nach Nessebar fahren. Züge dorthin gehen selten. Versucht es einmal am Hafen. In der Saison fährt das Tragflächenboot ›Raketa‹ für Touristen nach Nessebar, aber sehr teuer«, betonte er.

»Wir sind aber auch blöd«, brabbelte ich verärgert vor mich hin. Wir hätten ja auch einmal auf eine Karte gucken können. Navis gab es damals noch nicht.

Gerda beruhigte mich: »Weißt du, das war einfach durch unsere Euphorie.« Lachend fügte sie hinzu. »In Bulgarien sind wir ja immerhin schon angekommen und Schwarzes Meer ist Schwarzes Meer. Auf dem Weg zum Hafen befinden wir uns ja auch schon.«

Nach einigem Umherirren fanden wir das Meer und am Kai lag tatsächlich die ›Raketa‹. Die Besatzung saß sichtlich vergnügt vor dem Schnellboot in der Sonne. Die vier jungen Männer tranken, aßen und lachten. Als wir näherkamen, pfiffen sie uns übermütig nach. Blöde Kerle, normalerweise reagieren wir doch nicht auf pfeifen! Aber Notlagen verlangen Ausnahmen. Also gingen wir, betont langsam schlendernd, uninteressiert tuend, zum Boot und erfuhren von ihnen, dass die ›Raketa‹ tatsächlich nachmittags gen Nessebar starten würde. Wir verbargen ihnen gegenüber unsere stille Hoffnung und Freude, doch noch unser Ziel zu erreichen. Erst, als sie uns zur Geburtstagsfeier des Bootsmannes an Bord einluden, löste sich unsere cool überspielte Anspannung. Ihr Angebot passte. Mit etwas Schiss, aber einem Ziel vor den Augen, Hunger und Durst, betraten wir das ersehnte Schiff und blieben tatsächlich auch zur Überfahrt ihre Gäste. Die lustigen Kerle feierten mit uns, bis die ersten Passagiere eintrafen. Speisen und Getränke kamen genau richtig und wir bedienten uns hemmungslos. Während der Fahrt kümmerten sie sich um die übrigen Reisenden. Eine westdeutsche Reisegruppe kam in freudiger Erwartung an Bord. Mit Musik und durcheinander schnatternden Menschen füllte sich der fröhliche Katamaran und setzte sich auch bald in Bewegung. Für uns war diese Überfahrt über ein großes Meer ein besonders Erlebnis. Allerdings nicht so angenehm wie erhofft, sondern eher einer Fahrt in die Hölle ähnelnd. Wir hatten die zwei letzten Nächte kaum geschlafen, kaum etwas gegessen und dafür den Alkoholverbrauch überdimensioniert.

Obwohl wir diesmal rechtzeitig den Alkoholkonsum auf ein Minimum gedrosselt hatten, empfanden das unsere geschwächten Körper als zu spät. Sie bestraften uns mit Übelkeit einer höheren Kategorie. Da wir uns einen Platz im Schnellboot aussuchen durften, hatten wir uns ahnungslos ganz vorne an der Spitze platziert, um Ausschau nach Delfinen zu halten, von denen die Besatzung berichtet hatte. All unsere Erwartungen wurden übertroffen, allerdings keine positiven. Mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit setzte sich das Boot in Bewegung und flog fast übers Meer. Besonders vorn am Bug spürten wir jeden Aufprall des nicht zu unterschätzenden Wellenganges. Diesem harten Auf- und Ab-Rhythmus folgte auch unser unausgeglichener Mageninhalt. Tief durchatmen und vor den Jungens keine Schwäche zeigen, hieß es jetzt für uns! Hoffentlich bleibt alles, wo es hingehört! Die glühende Hitze war unerträglich. Ich glaube, wir stanken aus allen Körperhöhlen. Geduscht hatten wir das letzte Mal zu Hause.

Plötzlich sichteten die deutschen Gäste tatsächlich lautstark und entzückt Delfine. Ein Anheben meines gesenkten Kopfes war aufgrund meines miserablen körperlichen Zustandes nicht möglich. Das seltene Schauspiel entging mir bedauerlicherweise. Auch Gerda verpasste die imposanten Meeressäuger. Die erträumte Aussicht in der ersten Reihe blieb uns beiden versagt. Köpfe unten und Bootsspitze in der Höhe – das war nicht einkalkuliert. Über zwei Stunden hielten wir tapfer durch. Die übrigen Passagiere amüsierten sich lautstark.

Ob wir grün, gelb oder nur blass in Nessebar an Land gingen, ich weiß es nicht mehr. Froh waren wir beide über festen Boden unter den Füßen und den noch an Ort und Stelle befindlichen unausgeglichenen Mageninhalt.

Unserem Ziel waren wir schon ganz nah. Die frische Meeresbrise tat so gut. Vom Meer wehte ein Lüftchen mit Fischgeruch um unsere Nasen. Möwen saßen auf den umliegenden Booten und begrüßten uns mit lautem Gekreische. Bei diesem ersten schönen Anblick von Nessebar war die Übelkeit recht bald vergessen und verflogen. Den teuren Preis der Überfahrt erfuhren wir nicht. Mit einem Dankeschön und Wangenküsschen waren wir davongekommen. Vielleicht hätte die Besatzung unser Ostgeld gar nicht nehmen dürfen.

Nach Ravda sollten es von hier nur etwa zehn Kilometer sein. Nehmen wir uns doch ein Taxi, dachte ich mir. Das kann ja nicht so teuer sein. Auf unserem Merkzettel zur Einweisung ins Ferienobjekt standen Informationen wie Entfernungen zu den nächsten Ortschaften, Umtauschkurse und Taxipreise. Sicherheitshalber fragten wir den Taxifahrer nach dem Preis. Da er Westgermanen in uns vermutete, nannte er uns eine utopische Summe. Das würde unser Budget sprengen. Als auch die beste Verhandlungstaktik erfolglos blieb, gaben wir auf.

»Gerda, was meinst du? Was auf dem Wasser geht, geht sicher auch auf der Straße – also weiter per Anhalter?«

»Sicher, Renate, so kurz vor dem Ziel geben wir doch nicht auf«, antwortete sie.

Die große Fernverkehrsstraße Richtung Burgas war schnell gefunden. Der Fahrer des dritten Autos, ausgerechnet ein mit Beton beladener Lastkraftwagen, hielt und nahm uns mit. Wir zwängten uns in die Fahrerkabine, in der es auch furchtbar nach Knoblauch stank. An diesen penetranten Geruch werden wir uns wohl gewöhnen müssen, dachte ich.

 

Am Ortsschild Ravda hielt der Kraftfahrer an und wir stiegen etwas zerknittert, aber fröhlich aus. Wir glaubten, unser Ziel sei erreicht. Doch weit gefehlt. Bis zu den ersten kleinen Häusern des Ortes erwarteten uns noch etwa drei Kilometer Fußmarsch, und das mit Gepäck war schon eine Herausforderung nach der strapaziösen Anreise. Die Straße zog sich in die Länge, aber irgendwann hatten wir auch dieses letzte Stück geschafft.

Der erste Eindruck von Ravda war recht verhalten. Eine leichte Enttäuschung machte sich breit. Kaum ein Mensch war in diesem Nest am frühen Abend auf der Straße. In der Ferne krähte ein Hahn. Das soll unser neuer Urlaubsort sein? Nichts war vom Meer zu sehen. Erst in der Ortsmitte begegneten wir endlich einem Menschen. Dem hielten wir verzweifelt unseren Zettel mit der Anschrift des Quartiers unter die Nase.

Der große, kräftige Mann, so Mitte Fünfzig mit wachen freundlichen Augen, lachte und fragte auf Deutsch: »Warum wollt ihr bei ihm wohnen? Ich vermiete auch und bin viel billiger. Hier habt ihr meine Adresse, besucht mich einmal. Meine Frau freut sich auch darüber.«

Er zeigte uns den Weg zu unserem Quartier und wir versprachen ihm, ihn einmal zu besuchen.

Angekommen in unserem gebuchten Ferienobjekt, wurden wir von den übrigen, bereits per Flugzeug angereisten, in unseren Augen spießig wirkenden Feriengästen, misstrauisch begutachtet. Wir, zwei attraktive Frauen ohne Mann, ich Ende Dreißig, Gerda Mitte Vierzig, reisten für 14 Tage nur mit Handgepäck an. Das war schon etwas Außergewöhnliches. Der Vermieter, ein perfekt deutschsprechender Bulgare, etwas älter als wir, begrüßte uns herzlich und zeigte uns unser kleines Zimmer mit Balkon im ersten Stock. Sanitäranlagen waren im Flur gegenüber. Alles war einfach, sauber und zweckmäßig. Im Haus gab es eine kleine Bar. Hier konnte man Kaffee oder andere Getränke kaufen. Der Wirt bot auch einen kleinen Imbiss an und besorgte für seine Feriengäste frisches Obst, wie Erdbeeren und Kirschen. Damit machte er sich bei seinen DDR-Gästen sehr beliebt. Frisches Obst, schon Anfang Juni, gab es zu Hause zu dieser Jahreszeit nur selten zu kaufen. Uns interessierte an diesem Abend jedoch nur eins: Wasser trinken und unser Bett. Dem ersehnten Duschen und großen Mengen in uns geschütteten Mineralwasser folgte die sofortige Nachtruhe. So schnell waren wir nie wieder im Bett. Wir schliefen, bis uns die Sonne weckte.

Guten Morgen Ravda, die Sonne schien mir direkt ins Gesicht. Nichts konnte uns davon abhalten aufzustehen, um unseren neuen Urlaubsort so schnell wie möglich zu erkunden. Zuerst entdeckten wir den kleinen Tante-Emma-Laden gleich um die Ecke. Das Sortiment war sehr dürftig. Brot, etwas Gemüse, Getränke, hauptsächlich Wasser und Wein, und jede Menge Fischkonserven lagen zum Teil verstaubt und unübersichtlich bis zur Decke gestapelt in hohen Regalen. Der Geruch war nur für die Fliegen die sich an der Decke und am Fenster tummelten, einladend. Die Milch war um 10 Uhr bereits ausverkauft. An Frischwaren gab es nur eine Sorte Wurst, die auch schon ihre beste Zeit hinter sich hatte, und zwei Sorten weißen Salzlakenkäse. Der Käse sah recht frisch aus. Auf unsere Frage war der Unterschied nach anfänglichen unüberwindbaren Übersetzungsschwierigkeiten von der Verkäuferin plötzlich professionell erklärt, nämlich Käse von Mäh oder Muh.

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