Die Kunst, trotz allem gelassen zu sein

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Kunst, trotz allem gelassen zu sein
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Reinhold Ruthe

Die Kunst, trotz allem gelassen zu sein

Entspannung, Geduld, Ruhe und

Gelassenheit gewinnen


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN-10: 3-87067-836-4

ISBN-13: 978-3-86506-812-5

6. Auflage 2006

© 2000 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Getty Images

Satz: Hans Winkens, Wegberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Gelassenheit gewinnen

Kapitel 2

Selbstmitleid überwinden

Kapitel 3

Geduld einüben

Kapitel 4

Zeitprobleme meistern

Kapitel 5

Fragen zur Selbsterforschung

Literaturhinweise

Vorwort

Gelassenheit wünschen sich die meisten Menschen. Offensichtlich vermissen sie diese Lebenshaltung. Unsere Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft produziert dieses Defizit in hohem Maße. Die Menschen fühlen sich gehetzt, nervös, angespannt und unter Zeitdruck.

Nur, wie gewinnt man Gelassenheit? Der Psychiater Prof. Dr. Viktor E. Frankl war der Meinung: »Wer Gelassenheit anstrebt, dem vergeht sie!« Wir stutzen und fragen, was Frankl uns sagen will.

Er macht darauf aufmerksam, dass Gelassenheit eine Beigabe ist, ein Geschenk. Gelassenheit ist die Folge unseres Bemühens, zu verzichten, vieles lassen zu können. Gelassenheit lässt sich nicht erzwingen. Gelassenheit fällt uns als reife Frucht in den Schoss, wenn wir Personen, Besitz, Ämter, Ehren und vieles andere mehr loslassen können.

Gelassenheit hat mit loslassen zu tun.

Wer etwas lassen kann, wird frei.

Wer etwas lassen kann, wird ruhig.

Wer etwas lassen kann, wird zufrieden.

Wer etwas lassen kann, wird gelassen.

Gelassenheit ist Reife und Lebensklugheit. Wesentliches stellt sich heraus, Wichtiges gewinnt an Konturen. Gelassenheit hat, wer alles, Gutes und Schlechtes, Erfreuliches und Leidvolles, aus Gottes Hand nehmen kann.

KAPITEL 1

Gelassenheit gewinnen

Eine alte Sage berichtet: Ein Mensch ist unterwegs zum Land seiner Sehnsucht. Es ist eine lange und beschwerliche Reise. Endlich kommt er an einen breiten Fluss. Er weiß: Drüben, am anderen Ufer, liegt das Land der Herrlichkeit – und er kann es kaum erwarten, hinüberzukommen.

Er findet einen Fährmann, der bereit ist, ihn mit seinem Boot so schnell wie möglich überzusetzen. »Aber«, sagt er, »du musst dein Gepäck hier lassen. Ich nehme nur die Menschen mit ohne Ballast.« Der Reisende erschrickt sehr. Es scheint ihm unmöglich, all die Dinge, die er angesammelt hat, die er liebt, die er für lebensnotwendig hält, die er auf seiner weiten Reise mühsam bis hierher geschleppt hat, einfach abzulegen und am Ufer des Flusses zurückzulassen.

»Alles?«, fragt der Mensch, hoffend, doch ein wenig von seiner Habe mitnehmen zu können. »Alles. Ich nehme nur dich mit. Entscheide dich«, antwortet der Fährmann ernst.

Gelassenheit hat mit Verzicht zu tun. Wer Ballast nicht abwerfen kann, wird es schwer haben, lange und anstrengende Reisen zu unternehmen. Noch schwerer wird es, die letzte Lebensreise anzutreten und sich dem Fährmann ohne alles anzuvertrauen. Schon jetzt müssen wir im Leben lernen, unnötigen Ballast abzuwerfen.

Wer nur reagiert, hat keine Gelassenheit

Ein Mensch, der nur reagiert, wird gelebt. Er hat sein Eigenleben, seine Eigenverantwortung und Eigenständigkeit verloren. An den folgenden Aussagen können Sie überprüfen, ob auch Sie zu den Über-Reagierenden gehören:

 Ich reagiere auf die Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Fehler und Probleme anderer.

 Ich reagiere und mache mich verrückt.

 Ich reagiere mit Scham und Schuldgefühlen.

 Ich reagiere, weil ich glaube, reagieren zu müssen.

 Ich reagiere mit Sorgen, Schmerz und Kontrolle.

 Ich reagiere mit Resignation und Depression.

 Ich reagiere mit Verzweiflung, weil ich die Probleme der anderen viel zu ernst nehme.

 Ich reagiere und lasse es zu, dass andere mein Leben bestimmen.

 Ich reagiere, weil ich Angst habe, was geschehen könnte.

Eine tieftraurige Lebenseinstellung. Haben wir uns von Menschen so abhängig gemacht? Wir haben auf Ruhe und Frieden verzichtet. Mit Augen und Ohren, die wie ein Radar auf andere Menschen gerichtet sind, nehmen wir alle Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse der anderen wahr. Warum nehmen wir vieles, vielleicht sogar alles von anderen Menschen so ernst?

In der Bibel steht ein kluger Rat: »Werdet nicht der Menschen Knechte!« Menschen, die in erster Linie auf andere schauen, sind Knechte. Sie haben sich abhängig gemacht. Je mehr wir uns verantwortlich fühlen und gedanklich ins Schlepptau nehmen lassen, desto mehr werden wir zu Objekten. Wenn uns jemand mit Wünschen, Bedürfnissen und Kritik in den Ohren liegt, müssen wir ernsthaft prüfen, ob die Zumutungen angemessen sind oder nicht. Wir müssen auch Nein sagen können.

Hat der Partner, ein Angehöriger, ein Bekannter oder Fremder einen schlechten Tag, eine schlechte Stimmung, dann müssen wir nicht reagieren. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir nehmen den anderen ernst, aber wir werden nicht zu seinem Knecht, der auf Augenwink springt und sich fesseln lässt. Niemand von uns muss reagieren. Wir sind in der Lage, frei Entscheidungen zu treffen. Je mehr wir eigenständig und unabhängig denken und handeln, desto ruhiger und gelassener reagieren wir.

Einige Fragen zur Selbstprüfung

 Gibt es Menschen in meinem Leben, die mir mit Problemen, Wünschen und Klagen zur Last fallen und zu denen ich nur schlecht Abstand gewinnen kann?

 Gibt es Menschen in meinem Leben, die mich ständig wütend, traurig, besorgt, verwirrt und beschämt sein lassen?

 Gibt es Menschen in meinem Leben, die mich so beanspruchen, dass ich mein Eigenleben völlig eingebüßt habe?

 Gibt es Menschen in meinem Leben, die nur den Mund aufmachen müssen, und ich nehme alles persönlich?

Wenn Sie einige Selbstaussagen mit ja beantwortet haben, was können Sie tun, um sich mehr zu lösen, um selbstständiger und unabhängiger zu reagieren? Welche Entscheidungen wollen Sie treffen? Können Sie Ihre Sorgen um den anderen, Ihre Verantwortung, die Sie fühlen, und Ihr Mitleid, das Sie spüren, abgeben?

Müssen Sie alles persönlich nehmen?

Wer alles persönlich nimmt, belastet sein Leben aufs Schwerste. Wer sich vieles, was gesagt, geschrieben und dahergeschwätzt ist, zu Herzen nimmt, wird herzkrank.

Da ist Edith, eine sensible Frau von 34 Jahren. Sie ist jung verheiratet, hat zwei süße Kinder und ist »mit den Nerven fertig«, wie sie sagt. Sie besitzt die Kunst, alles und nichts auf sich zu beziehen. Wenn der Postbote an ihr vorbeigeht, ohne zu grüßen, bekommt sie ein schlechtes Gewissen und grübelt, was sie ihm angetan haben könnte. Wenn sie nach dem Gottesdienst nicht freundlich mit Händedruck verabschiedet wird, durchleuchtet sie alle Reaktionen der letzten Woche und prüft, was sie schuldig geblieben ist. Sie ist eine Meisterin darin, hinter allem die verrücktesten Provokationen zu vermuten. Der eine schaut sie böse an, der andere interessiert sich überhaupt nicht für sie, der Dritte gönnt ihr nicht das Salz in der Suppe, der Vierte verwünscht sie und der Fünfte ist ein Lump, der sie betrügen will.

Edith ist Tag und Nacht beschäftigt mit Menschen, die ihr Probleme auf die Seele binden, die sie verstehen, erklären und lösen muss. Edith wird gelebt.

Sie nimmt alles persönlich, kann nicht loslassen, muss reagieren, das ist ihr Problem.

Solche Reaktionen können zu Kettenreaktionen werden. Weil wir glauben, etwas so oder so verstanden zu haben, bringen wir Partner, Eltern oder Kinder in Schwierigkeiten. Sie fühlen sich in Anspruch genommen, reagieren ärgerlich und belasten uns jetzt erst recht.

 

Doch müssen wir wirklich reagieren? Müssen wir uns quälen und grübeln? In jedem Augenblick des Tages können wir uns neu entscheiden:

 »Ich reagiere auf dieses und jenes Erlebnis nicht!«

 »Ich denke nicht daran, mir seine oder ihre Antworten auf die Seele zu binden!«

 »Ich entscheide, mich mit dem Vorfall nicht mehr zu beschäftigen!«

Niemand muss müssen. Wir sind freie Menschen und können uns schützen. Die Ediths in dieser Welt müssen lernen, die tausend Kümmernisse, die wir uns anziehen, wegzuwerfen und loszulassen. Die Nerven beruhigen sich wieder, sogar ohne Beruhigungspillen. Wir werden gelassen, weil wir losgelassen haben.

Slow Food und Gelassenheit

Was Fast Food beinhaltet, das hat sich herumgesprochen. Es geht um Schnellgerichte. Im Zeitalter des ungestümen Fortschritts muss alles schnell gehen. Die Wirtschaft hat sich darauf eingestellt. Überall gibt es

– Schnell-Imbissstuben

– Schnell-Reinigungen

– Schnell-Entwicklung von Filmen

– Schnell-Transporter usw.

Schnelligkeit und Hektik unserer Zeit werden klug vermarktet. Der Mensch wird in den Strudel der Time-is-Money-Ideologie hineingezerrt. Was auf der Strecke bleibt, ist die Gesundheit. Der gestresste und getriebene Mensch reagiert nervös, auch mit einem nervösen Magen.

Inzwischen gibt es eine Slow Food-Bewegung. Sie hat sich dem langsamen Essen verschrieben. Ihr Vereinssymbol ist die Schnecke. Sie wird nicht als besonderes Genussprodukt verherrlicht, sondern soll als Symbol für Langsamkeit gesehen werden. Den Anfang machten 150 Genießer in München, die das Ziel verfolgten, nicht Schnellgerichte im Eiltempo, möglichst noch im Stehen, herunterzuschlucken, sondern Appetit auf qualitativ gute und reine Produkte zu machen. Inzwischen gibt es in 35 Ländern viele Anhänger; in Deutschland sind es schon viele Tausende.

Wer langsam isst und viele Male kaut, der demonstriert in der Regel Ruhe und Gelassenheit. Wer schluckt und gleichzeitig trinkt, demonstriert Unruhe, Hektik und Getriebensein. Essen wird zur Nebensache, weil Ehrgeiz, Karriere, Ziel- und Planerfüllung einen höheren Stellenwert haben. Die Korrektur des Lebensstiles ist allerdings keine Frage des Mundes, sondern eine Frage der Einstellung. Wer Gelassenheit wünscht, muss seine Grundeinstellung zum Leben und zur Arbeit revidieren.

Stress und Entspannung

Es gibt negativen Stress und es gibt positiven Stress. Negativer Stress bedeutet

Überanstrengung

Überbelastung

Überforderung

Übertreibung

Das »Über« verrät das Krankhafte. Es stört, verzerrt, bedroht, macht krank und kann töten. Negativer und übertriebener Stress ist zum Krankheitsfaktor erster Ordnung geworden. Wir sprechen bereits von Lärmstress, Verkehrsstress, Schulstress, Berufsstress, Wettbewerbsstress, Alltagsstress, Ehestress, Leistungsstress, optischem Stress, akustischem Stress und Konfliktstress.

Das Ergebnis ist die Überbelastung. Biologische Funktionen des Menschen versagen, die Spannung wird unerträglich. Unser Herr, der uns diesen Schutz- und Verteidigungsmechanismus in unser Leben einprogrammiert hat, wird zum Instrument der Selbstzerstörung gemacht.

Fakire haben die Fähigkeit, einen Teil ihrer unbewussten Lebensfunktionen willkürlich zu steuern. So können sie beispielsweise ihren Herzschlag und ihren Kreislauf willentlich beeinflussen und sogar ihren Blutdruck verändern. Aufgrund dieser Beobachtung hat der Berliner Nervenarzt J. H. Schultz im Jahre 1920 die Methode des »Autogenen Trainings« entwickelt. Diese »konzentrative Selbstentspannung« ermöglicht es dem Lernenden, Zustände und Vorgänge des eigenen Körpers, die normalerweise nicht wahrgenommen werden, bewusst zu empfinden, sie bis zu einem gewissen Grade zu beeinflussen und damit zu kontrollieren. Diese Methode hat sich bei »psychosomatischen Störungen« als sehr hilfreich erwiesen. Darunter versteht man Krankheitszustände, die durch eine seelische Fehlregulation hervorgerufen werden, wie z. B. Schlafstörungen, Herzneurosen und Muskelkrämpfe. Die »konzentrative Selbstentspannung« hilft, den Gebrauch von Arzneimitteln, insbesondere Psychopharmaka, Schlaf- und Schmerzmitteln, einzuschränken. Wer den Erfolg der Methode überprüfen will, kann eine Bio-Feedback-Methode benutzen, also eine Methode, die ihm eine Rückmeldung gibt, was im Organismus abläuft. Das geschieht mit Hilfe von elektrischen Geräten. Sie registrieren verschiedene unbewusst verlaufende Körperfunktionen, die normalerweise nicht wahrgenommen werden, und melden sie an die äußeren Sinnesorgane zurück. Wer die Übungen macht, kann die verschiedenen inneren Organe kontrollieren. Die Messung geschieht mit einem so genannten Elektromyogramm (EMG), das den elektrischen Strom, der dauernd in der Muskulatur fließt, misst. Mit seiner Hilfe lässt sich z. B. der Spannungskopfschmerz behandeln. Er ist oft die Folge einer Verkrampfung der Nackenmuskulatur. Mit der Hilfe des Bio-Feedbacks lernt der Mensch, Muskelspannungen abzubauen und sich so von diesen krampfbedingten Schmerzen zu befreien.

Es gibt Menschen, die aus Gründen ihrer Glaubensüberzeugung mit dieser Methode Schwierigkeiten haben. Sie glauben, es handele sich um okkulte Praktiken, um verborgene Kräfte und Einflüsse. In der Bibel gibt es dazu einen praktischen Rat: »Wer etwas für ›unrein‹ hält, für den ist es tatsächlich ›unrein‹.« Niemand sollte also gegen seine persönliche Überzeugung handeln.

Viele stoßen sich auch an einem Wort, das überall mit diesen und anderen Methoden verbunden ist. Es handelt sich um das Wort »Selbst«.

Häufig ist die Rede von

– Selbstentspannung,

– Selbsterfahrung,

– Selbsthypnose,

– Selbstsuggestion,

– Selbstverwirklichung und

– Selbstheilung.

Die Tragik ist, dass der Mensch überall in der Welt Hilfe sucht, sich selbst retten und erlösen will, selbst alles in die Hand nehmen und sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf seiner körperlichen und seelischen Probleme herausziehen will.

Der Co-Abhängige muss loslassen

Der Ausdruck Co-Abhängigkeit kam Ende der 70er Jahre auf. Er bezeichnet Menschen,

 die sich verantwortlich fühlen für Menschen, die sich nicht verantwortlich fühlen,

 die den Aufpasser spielen,

 die jemanden suchen, um den man sich kümmern muss,

 die sich Sorgen machen und ein überstarkes Helfenwollen an den Tag legen,

 die sich gern um kranke Menschen kümmern und bemühen, um auf ungesunde Weise glücklich zu sein,

 die überstark auf Probleme, Leben und Verhalten anderer reagieren,

 die sich aus Angst und Mitleid schuldig fühlen, wenn andere Menschen ein Problem haben,

 die sich nahezu gezwungen fühlen zu helfen,

 die unerbetene Ratschläge geben und Vorschläge machen,

  die enttäuscht sind, wenn andere Menschen ihre Ratschläge nicht annehmen,

 die ihre eigenen Pflichten versäumen,

 die leicht mit Wut und Bitterkeit reagieren, wenn andere ihre Hilfe nicht annehmen,

 die ihre ganze Energie auf andere Menschen und Probleme konzentrieren,

 die häufig tadeln, drohen, nötigen, betteln, bestrafen, raten und seufzen.

Der Co-Abhängige kann für Trinker, Magersüchtige, Bulemiker, Spieler und für alle Menschen, die Probleme haben, zur Belastung werden, weil für ihn selbst zu wenig übrig bleibt. Der Co-Abhängige bindet und fesselt sich an die Menschen mit Problemen; sie verlieren den Kontakt zu sich selbst. Sie verlieren ihre Kraft und Fähigkeit, an sich selbst zu denken, sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern.

Die amerikanische Therapeutin Melody Beattie kennzeichnet diese Menschen so:

»Sorge und Besessenheit bringen unseren Verstand so durcheinander, dass wir unsere Probleme nicht lösen können. Wann immer wir auf diese Weise an jemanden oder etwas gefesselt sind, lassen wir uns selbst los (…). Dieser Mensch kann über nichts anderes mehr reden, an nichts anderes mehr denken. Der Betroffene ist geistig abwesend. Viele, mit denen ich in Familiengruppen gearbeitet habe, waren von den Menschen, um die sie sich Sorgen machten, in dieser Form besessen. Wenn sie besessen sind, können sie ihre Gedanken von dieser Person und diesem Problem nicht lösen.«1

Der Co-Abhängige führt kein eigenes Leben mehr. Er hat sein Leben an andere gebunden. Er wird von ihnen und ihren Problemen aufgefressen. Im Grunde ist der Co-Abhängige mit dem anderen verstrickt. Und diese Verstrickung hält ihn gefangen. Noch einmal Melody Beattie, die dem Co-Abhängigen zum Loslassen rät:

»Was genau ist Loslassen? Loslassen ist kein kalter, feindseliger Rückzug, kein resigniertes, verzweifeltes Akzeptieren von allem, was das Leben und andere Menschen uns in den Weg werfen, kein Ausweichen vor unseren wahren Verpflichtungen uns und anderen gegenüber (…). Loslassen basiert auf der Voraussetzung, dass jeder Mensch für sich selbst verantwortlich ist, dass wir Probleme, die wir nicht zu lösen haben, nicht lösen können. Loslassen bedeutet nicht, dass wir uns nicht kümmern. Es bedeutet, dass wir lernen zu lieben, zu sorgen und verstrickt zu sein, ohne verrückt zu werden.«2

Wer loslassen kann, wird belohnt. Gelassenheit ist das Hauptgefühl, das wir ernten. Wer loslassen kann, wird tiefen inneren Frieden erleben. Wir finden die Freiheit, unser eigenes Leben zu leben, ohne Schuldgefühle oder Verpflichtungen anderen gegenüber.

Wann ist es notwendig, loszulassen?

 Wenn Sie nicht aufhören können, an jemanden zu denken, über ihn zu sprechen und sich Sorgen um ihn zu machen.

 Wenn Sie innerlich aufgewühlt sind, wütend und ärgerlich und sich selbst krank machen.

 Wenn Sie etwas tun müssen, weil Sie es keine Minute länger ertragen können.

Viele Co-Abhängige reagieren mit Zorn, Schuldgefühlen, Scham, Selbsthass, Sorgen, Schmerz, Kontrolle, Fürsorge, Depression, Verzweiflung und Wut. Kein Zweifel, dieses Verhalten stresst. Adrenalin wird aus den Nebennieren ins Blut abgegeben. Die Muskeln sind verspannt. Der ganze Mensch ist in Aufruhr. Der andere bestimmt mit seinen Problemen unser Leben. Wir malen uns aus, was alles geschehen kann und könnte. Wir denken meilenweit im Voraus. In der Tat, wir machen uns verrückt. Wir tun so, als ob sein Leben und seine Probleme von unseren Reaktionen abhängig seien. Wir treten an die Stelle Gottes, ohne es zu wollen. Hat es dem anderen geholfen, wenn Sie an ihn innerlich gefesselt waren? Hat Ihre Sorge, Ihre Besessenheit und Ihre Kontrolle dem anderen wirklich etwas gebracht? Können Sie die Probleme loslassen und getrost in andere Hände, vielleicht in Gottes Hände, legen?

Geliebte Menschen loslassen

Else Schubert-Kristaller erzählt eine jüdische Geschichte nach. Sie heißt »Das Pfand«: Der Rabbi kam nach Hause und fand sein Haus voll stummer Trauer. Er erkundigte sich nach seinen Knaben. Seine Frau stellte ihm eine Frage: »Vor Tagen kam ein Mann zu mir und gab mir ein Pfand zur Aufbewahrung, zwei goldene Armringe von großer Schönheit, und mein Herz freute sich an ihnen. Nun ist der Mann zurückgekehrt und hat das Pfand zurückverlangt. Soll ich es ihm wiedergeben?« Der Rabbi bejahte, aber verstand ihre Frage nicht ganz. Da führte ihn seine Frau in die Kammer. Beide Knaben lagen tot im Bett. Der Rabbi schrie laut auf und warf sich auf die Toten. Seine Frau stand hinter ihm, bleich und ernst, und sprach: »Hast du mir nicht eben gesagt, dass wir bereit sein müssen, das Pfand zurückzugeben?«

Es fällt uns verhältnismäßig leicht, danke zu sagen, wenn uns etwas geschenkt wird. Auch von Gott. Aber wenn er uns vielleicht das Liebste nimmt, dann rebelliert unser Herz. Unser Glaube schwankt. Aber alles, was wir haben, hat Gott uns geliehen. Autos, Häuser, Frauen, Kinder – alles. Wir müssen es zurückgeben. Walter Goes sagt: »Der Herr, der etwas gibt, und der Herr, der etwas nimmt, ist derselbe Herr.« Das tröstet uns.

Vor einigen Jahren rief eine Frau an und bat dringend um einen Gesprächstermin in meiner Beratungspraxis: Ihr Mann sei gestorben und sie würde mit dem Leben nicht fertig.

Eine Dame um die fünfzig erschien pünktlich zur verabredeten Zeit. Sie war weiß gekleidet (ich hatte eine Witwe in Schwarz erwartet). Ohne Umschweife kam sie zur Sache:

 

»Mit dem Tod meines Mannes werde ich nicht fertig. Jeden Tag gehe ich zum Friedhof, aber ich kann ohne ihn nicht leben.« Eben wollte ich ihr nachträglich mein Beileid aussprechen, da sagte sie: »Er ist jetzt sieben Jahre tot. Seitdem bin ich wie ein entlaubter Baum. Mir gelingt das Leben nicht. Er war mein Ein und Alles.«

Wer nicht loslassen kann, verharrt in Bitterkeit und Schmerz. Wer nicht loslassen kann, macht sich unglücklich. Der Tod eines geliebten Menschen darf nicht überspielt und verdrängt werden. Trauerarbeit ist notwendig. Aber sie darf nicht jahrelang unser Leben belasten.

Gelassenheit beinhaltet, das »ferne Land« zu verlassen

Da ist die Geschichte vom verlorenen Sohn in der Bibel. Selbstsicher und eigenwillig ist er »ferne über Land« gezogen. Er hat die Nase voll von Wohlanständigkeit und angepasstem Leben. Er will seine Lebenskraft nicht dämpfen und in langweiligen, eingefahrenen Gleisen fahren. Jetzt ist er jung und mobil, jetzt will er die Welt kennen lernen.

Doch die Realität sieht anders aus. Die überschäumenden Träume und Illusionen zerplatzen wie Seifenblasen. Mit Geld kann man sich Freunde kaufen, ohne Geld sieht alles trist und glücklos aus. Er landet bei den Schweinen. Der Sohn aus gutem Hause ist am Ende. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation wecken in ihm die Erinnerung an ein schönes Zuhause.

Im Elternhaus war es doch nicht so schlecht, wie er einmal angenommen hatte. Alte Vorstellungen und Gefühle für den Vater werden lebendig. Er geht in sich und die Heimkehr bahnt sich an.

Bei dieser Geschichte fällt es leicht, über die »Ferkeleien« zu reden, die andere begehen. Man erhebt sich leicht über andere und verliert dabei die eigene Situation aus dem Blick. Ungern blicken wir auf die Eitelkeiten, die unser Leben prägen,

– wenn wir nach einem erfolgreichen Leben auf dieser Erde streben.

– wenn wir anerkannt und bestätigt werden möchten.

– wenn wir von Menschen geliebt und beachtet werden wollen.

– wenn wir uns mühen, Besitz, Reichtum und Ehre anzusammeln.

Der verlorene Sohn steckt uns allen im Blut. Das »ferne Land« und die »Schweinetröge« sind uns nicht fremd. Wir möchten gerne beides haben: einen bescheidenen Anteil an den Genüssen und Vorzügen dieser Welt und das Vaterhaus Gottes, einen liebenden Vater, der alle Augen zudrückt und uns barmherzig und liebevoll in die Arme schließt, wenn die anderen Angebote für uns unattraktiv geworden sind.

Der Seelsorger Henri J. M. Nouwen schreibt: »Das Verlassen des fremden Landes ist nur der Anfang. Der Weg nach Hause ist lang und anstrengend. Die direkten Stimmen der Welt um mich herum versuchen, mich zu überzeugen, dass ich nicht gut bin und dass ich nur dann gut werde, wenn ich mir mein Gutsein verdiene, wenn ich es mir auf der Leiter der Leistung und des Erfolges erarbeite. Diese Stimmen verleiten mich leicht dazu, dass ich jene Stimme vergesse, die mich ›mein Sohn, mein Geliebter‹ nennt und mich daran erinnert, dass ich unabhängig von jeglichem Verdienst und jeglicher Leistung geliebt bin. Ich klammere mich noch an mein Gefühl der Wertlosigkeit, und so male ich mir eine Stellung aus, die weit über dem liegt, was dem Sohn zukommt.«3

Das »ferne Land« mit seinen tausend Reizen und Angeboten zu verlassen ist sehr schwer. Viel mehr, als wir wahrhaben wollen, sind wir dieser Welt verfallen. Aber je mehr wir die Fesseln abstreifen können, desto ruhiger werden wir. Wir werden gelassener, weil wir Stolz, Ehre, Erfolge, Anerkennung und Besitz hinter uns lassen können. Der so genannte »verlorene Sohn«, der die »vollkommene« Heimkehr geschafft hat, der dem »fernen Land« den Rücken zukehrt, sollte uns ein Vorbild sein.

Gelassenheit als Geschenk und Aufgabe

So hat der Theologe und Schriftsteller Albrecht Goes die Gelassenheit umschrieben. Beide Aspekte bringt er in einem Beitrag zur Sprache:

»Gelassenheit – sie ist, wie es alle großen Dinge sind, kein Verdienst, sondern eine Gnade, ein Geschenk. Und: Sie ist kein Zustand, sondern eine Aufgabe. Das scheint sich zu widersprechen: ›Geschenk‹ und ›Aufgabe‹, aber das scheint nur so. Das, was wir zu Recht Gnadengaben heißen, das verdirbt an der Luft, wenn wir nicht tätig damit umgehen. Das Beste verdürbe, wenn einer sich der Trägheit dort überlassen wollte, wo es darum geht, zu buchstabieren: Ja oder Nein. Wo einer dort schliefe, wo es Zeit ist zu wachen.«4

Gelassenheit ist Geschenk und Aufgabe zugleich. Was können wir tun, dass Zufriedenheit und Gelassenheit unser Leben kennzeichnen? Welche konkreten Schritte können wir gehen, um Belastungen, selbstverursachte Leiden und unnötige Schmerzen aus unserem Leben zu verbannen? Was müssen wir lassen, dass Geist, Seele und Leib gelassener reagieren?

Impulse

Sie erfahren Gelassenheit, wenn Sie Unerledigtes zurücklassen können.

Wir Menschen wollen etwas vollbringen. Wir haben Ziele und wollen sie erreichen. Immer wieder tauchen neue Pläne, Herausforderungen und Projekte auf. Viele überfordern sich jedoch, weil sie etwas zu Ende bringen wollen, bevor es zu spät ist. Sie geraten unter Druck, weil morgen der Tod einen Strich unter ihre Bemühungen setzen könnte. Der amerikanische Professor Dr. Archibald D. Hart, Dekan der Psychologischen Fakultät des theologischen Fuller-Seminars in Pasadena, beschreibt diesen Vorgang seelsorgerisch so:

»Was lässt uns glauben, dass wir jedes Ziel erreichen werden, bevor wir sterben? Ein neurotisches Bedürfnis, uns selber etwas zu beweisen? Eine Erinnerung an negative Äußerungen von Vater oder Mutter, die sagten: ›Das schaffst du nie!‹? Ein unbequemer innerer Trieb, zu beweisen, dass wir vollkommen sind? Die Hoffnung, dass die Menschen uns mehr respektieren, wenn wir erfolgreich und mächtig sind? Ich glaube, je mehr wir danach verlangen, das Ziel zu erreichen, bevor wir sterben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir sterben, bevor wir es erreicht haben. Leider ist das Leben eine Kette von Unvollständigkeiten. Ein erfolgreiches Leben wird daher immer ein unvollendetes Leben sein, und je erfolgreicher es ist, desto mehr bleibt ungetan. So ist das Leben. Es mag traurig scheinen, aber die positive Seite an dem allen ist, dass Gott in unseren Unvollkommenheiten bei uns ist und uns die Erlaubnis gibt, damit aufzuhören, alles in unserer kurzen Lebenszeit erreichen zu wollen. Es ist befreiend, wenn man erkennt, dass wir das Ziel nicht erreichen müssen. Wir sind lediglich zur Treue verpflichtet.«5

Genauso ist es. Etwas bleibt immer unerledigt. Und je erfolgreicher und erfolgsorientierter wir leben, desto mehr werden wir uns in Hektik und Spannung bringen. Negativer Stress ist in der Regel ein hausgemachtes Problem.

Sie erfahren Gelassenheit, wenn Sie nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen.

Viele Menschen kämpfen verzweifelt gegen Windmühlenflügel. Sie wollen etwas durchsetzen, was nicht durchsetzbar ist. Sie lassen nicht locker, bis sie mit blutigem Kopf in der Wand hängen bleiben. Diese Menschen kämpfen uneinsichtig. Ihre Ziele sind irreal.

Der süddeutsche Pfarrer Christoph Friedrich Oetinger hat ein wunderbares Wort gesagt, das man diesen Menschen ins Stammbuch schreiben möchte:

»Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.«

Kämpfe an der falschen Front machen unglücklich, unzufrieden und hektisch. Das Irreale wird mit dem Mut der Verzweiflung angepackt, das Machbare wird ignoriert. Wer über vergossene Milch zetert, kann Dinge nicht hinnehmen, die nicht mehr zu ändern sind. Er vergeudet sinnlos Kräfte und Energien. Die Milch ist vergossen. Alle »Wenn« und »Aber«, »Hätte« und »Sollte« sind überflüssig.

Wer falsche Ziele loslassen kann, wird gelassen. Wer machbare Dinge aufgreift, sieht Erfolg und gelangt so zu Zufriedenheit. Zufriedenheit ist immer ein Zeichen von Gelassenheit.

Sie erfahren Gelassenheit, wenn Sie die Vergangenheit ruhen lassen.

Leben Sie im Heute. Schauen Sie zuversichtlich in die Zukunft. Das Vergangene ist vergangen.

Der Amerikaner Dale Carnegie spricht in einem Buch über Dinosaurierspuren, die er vom Peabody-Museum der Yale-Universität gekauft hat. Er hat die Abdrücke der Riesen aus der Vorzeit, die in Stein und Schiefer gut erhalten sind, in seinem Garten untergebracht. Bei Carnegie heißt es: »Selbst ein Vollidiot würde nicht im Traum daran denken, 180 Millionen Jahre zurückzugehen, um diese Spuren zu ändern. Und doch wäre es kein bisschen törichter, als sich zu sorgen, weil man keine 180 Sekunden zurückgehen und das ändern kann, was da geschah. Dies aber und nichts anderes tun viele von uns. Selbstverständlich vermögen wir allerlei zu tun, Folgen dessen, was vor 180 Sekunden geschehen ist, abzuschwächen. Ändern können wir das Geschehen nachträglich nicht mehr.«6

 »Wenn ich die Vorfahrt richtig beachtet hätte …«

 »Wenn ich meine Kinder vorbildlich erzogen hätte, wären sie nicht abgerutscht.«

 »Wenn ich in der Schule fleißiger gewesen wäre, hätte ich jetzt einen vernünftigen Beruf.«

 »Wenn ich einen anderen Partner gewählt hätte, ginge es mir heute besser.«

»Wenn« und »hätte« sind Vokabeln, die unsere Unzufriedenheit verstärken und unseren Blick nach vorn verbauen. Viele schielen ständig mit einem Auge in die verunglückte Vergangenheit. Sie schwelgen in Selbstmitleid und Selbstvorwürfen. Aber die Vergangenheit ist passé, die Gegenwart erfordert unsere Aufmerksamkeit. Wer ständig nach hinten schaut, verrennt sich in Schuldgefühlen, belastet Leib, Seele und Geist und macht sich unglücklich.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?