Karnische Hochzeit

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Karnische Hochzeit
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REINHARD M. CZAR


COMMISSARIO CAMILIERI ERMITTELT IM FRIAUL


Für meine Frau Gabriela

INHALT

Cover

Titel

Widmung

I. Prolog

II. Vigilia delle nozze -Polterabend

Fons Pudia

Julium Carnicum

Via Julia Augusta

Portus In Natisonis Ostio

Ad Gradus

Indicta Causa

III. Giorno delle nozze -Hochzeitstag

In Matrimonium Ducere

Ad Fontem

Carnorum Regio

Tertio

Ad Finem

IV. Prima notte di matrimonio -Hochzeitsnacht

Conclusiones

Carpe Diem

Epilog

Glossar

Impressum

I.
Prolog

Der Gestank biss ihm sofort in die Nase. Nicht der unangenehme Geruch nach Schwefel, den man sich in einer Schwefeltherme erwarten durfte. An den hatte er sich längst gewöhnt während seiner Runden, die er Nacht für Nacht drehte. Nein, da war noch etwas anderes. Süßlich eher … Verwesung. Ja, genau das war es! Es roch nach Verwesung, wie damals, als er mit seinem Vater durch den Wald spaziert war und plötzlich dieses tote Reh vor ihnen gelegen war, übersät von ekligen schwarzen Fliegen.

Kurz versuchte der Nachtwächter, die ungewohnte Duftnote in der Luft auf seinem nächtlichen Kontrollgang durch die weitläufige, finstere Therme einfach zu ignorieren. Er dachte an das Frühstück, das er in wenigen Stunden zu sich nehmen würde: starker Kaffee, zumindest ein Espresso doppio, wenn nicht gar ein dreifacher. Dazu ein frischer Cornetto, die italienische Variante des Frühstückskipferls.

Die Ablenkung funktionierte nicht lange. Als er im bleichen Licht seiner Taschenlampe die Leiche auf der genauso bleich schimmernden Wasseroberfläche treiben sah, stand ihm der Sinn nicht mehr nach Frühstück. Ihm graute. Dann stieg Ärger in ihm auf. Warum ich, fragte er sich, warum muss ausgerechnet ich eine Leiche finden? Hier in Arta Terme, dem hintersten Winkel von ganz Friaul?

Dem Ärger folgte ein Anflug von Fatalismus, bis das Pflichtbewusstsein im Nachtwächter erneut Oberhand gewann. Dazu gesellte sich das untrügliche Gefühl, dass seine Arbeitsnacht heute wohl ein wenig länger dauern würde: Carabinieri, unzählige Fragen, Rekonstruktion der Minuten vor dem Leichenfund, neuerliche Befragung durch die Kollegen der erstbefragenden Polizisten, Pause, „Ja nicht weggehen“, „Wir brauchen Sie noch“ und wieder Befragung durch Kollegen der Kollegen der ersten Fragesteller. Vom Protokoll für seinen Dienstgeber ganz zu schweigen. Man kannte das ja: Bürokratie bis in den Tod, erst recht, wenn dieser gewaltsam war. Arrivederci espresso, ciao cornetto!

II. Vigilia delle nozze - Polterabend

FONS PUDIA

Als Commissario Claudio Camilieri an einem schönen Oktobertag mit Begleitung in Arta Terme aus dem Auto kroch, wusste er noch nichts von der Leiche. Da war der Mord nämlich noch gar nicht geschehen, folglich gab es, wie sich jeder selbst leicht ausrechnen kann, auch keine Leiche.

Noch keine Leiche also. Was führte dann einen Commissario, den man erst zu Jahresbeginn aus dem fernen Sizilien ins norditalienische Cividale strafversetzt hatte, ausgerechnet nach Arta Terme? Nun, man könnte sagen, es hätte der Zieleinlauf einer Achterbahnfahrt der Gefühle werden sollen, sowohl beruflich als auch privat. Beruflich war Claudio Camilieri der ganzen Strafversetzerei zum Trotz rund um Ferragosto die Lösung des bis dato spektakulärsten Falls seiner Karriere geglückt. Mit einem durchaus als illuster zu bezeichnenden Team hatte er in wenigen Tagen ein Phantom aus dem Verkehr ziehen können, das zuerst eine Reihe von Mittelalterhistorikern aus dem Weg geräumt und in der Folge einer weiteren Reihe dieser honorigen Wissenschaftler nach dem Leben getrachtet hatte. Dass sich eine aus der geretteten Forschergruppe, Lydia Brenner, gleich als Frau seines Lebens entpuppte, setzte dem beruflichen Erfolg das private Sahnehäubchen auf und komplettierte seinen Triumph. Und weil ein richtiger süditalienischer Commissario auch dann nicht lange fackelte, wenn man ihn nach Norditalien versetzte, wollte Camilieri die frisch gewonnene Liebe seines Lebens keine zwei Monate später hier in Arta Terme vor den Traualtar führen. Dass die Braut Österreicherin war und blond, störte ihn dabei nicht im Geringsten …

Der genauso traditionsreiche – die Schwefelquelle kannte und schätzte man schon in der Antike unter dem Namen Fons Pudia – wie heute ziemlich in Vergessenheit geratene Kurort Arta Terme lag keine zwanzig Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Für den österreichischen Teil der Hochzeiterei somit ideal. Aber auch Camilieri kam auf seine Kosten. Die Lösung des letzten Falls hatte ihn nämlich unter anderem nach Sauris geführt, in jenes abgeschiedene Hochgebirgsdorf, in dem er das Phantom schließlich stellte. Und dort hatte sich der Sizilianer spontan in die Bergwelt verschaut. Das muss man sich vorstellen! Einer, der jahrzehntelang am Fuße des Ätna gelebt hatte, liebte plötzlich die Karnischen Alpen!

Daher wurde ihm von seinen Freunden und Kollegen Arta Terme als idealer Schauplatz für die Hochzeit empfohlen. Freunde und Kollegen, das klang nach einer gewaltigen Menge, in Wahrheit waren es hauptsächlich Giuseppe Forza und ein Hundeführer, beide bei der Lösung des letzten Falls mit dabei. Camilieri war nämlich keiner, der viele Vertraute um sich scharte. Das Kurdörfchen lag eingebettet in schmucke Berge; schräg gegenüber dem Dorf und aus keiner Richtung zu übersehen hatte sich ein Kirchlein auf einen monolithisch anmutenden Berggipfel gesetzt: San Pietro, die älteste Kirche Karniens. Der Anblick dieser Einheit aus Naturgewalt und erdiger romanischer Architektur ließ das Herz des – zumindest in der Theorie – Neo-Bergfexen Camilieri schon zu dem Zeitpunkt höher schlagen, als er aus dem Auto stieg.

Es sollte noch einige Male höher schlagen. Zuerst einmal vor Anstrengung, als Eleonora, Lydia, Camilieri, Forza und der Padre, der die Trauung vornehmen wollte, die letzten Meter vom Parkplatz über eine steile Steintreppe zur Kirche hinaufkraxelten. Und dann natürlich, als der Tote gefunden wurde. Doch greifen wir nicht vor!

Wie das Leben so spielt und weil es bekanntlich die besten Geschichten selbst schreibt, sollte es nicht bei einer Hochzeit in San Pietro oberhalb von Arta Terme bleiben. Auch Camilieris Kollege Forza hatte sich im Zuge der Klärung des letzten Falls verliebt: in Eleonora, eine Assistentin am Kommissariat in Cividale. Diese wollte er zeitgleich mit der Vermählung seines Chefs in Arta Terme in den Stand der Ehe überführen, eine Doppelhochzeit also, die nur deshalb in dem kleinen Kirchlein Platz haben konnte, weil aus Sizilien kaum Publikum anreiste, auch die österreichische Delegation klein ausfiel, Forza schon Schwierigkeiten hatte, seine Mamma zur Teilnahme an der Hochzeit zu überreden, und generell keiner der Beteiligten ein Freund pompöser Feiern war – allen italienischen Usancen zum Trotz. Gewohnt wurde in einem Hotel im Ortsteil Piano d’Arta, dem Namen entsprechend noch ruhiger als der ruhige Rest des Kurorts.

Bevor die Truppe mit dem Padre, Forza wie gewohnt am Steuer, zum Parkplatz unter dem Bergkirchlein San Pietro hochfuhr, um die Örtlichkeit der Hochzeitszeremonie zu begutachten und sich vom Padre instruieren zu lassen, wo während der Feier welcher Schritt zu tun wäre, überquerte sie ein paar Hundert Meter südlich von Arta Terme auf einer Brücke den But. Das Flüsschen strömte von den Bergen her kommend durch das Tal, bis es in den Tagliamento mündete. Am anderen Ufer, auf jener Seite des But, wo auch die Therme lag, erstreckten sich knapp nach der Abzweigung auf die enge Bergstraße zum Kirchlein hinauf die Ausgrabungen von Zuglio.

 

Der Padre, ein hagerer Mann mit stechenden Augen, die einen scharfen Verstand verrieten, erklärte ungefragt und einem Reiseleiter nicht unähnlich: „Da drüben liegt Zuglio mit den Resten einer alten römischen Siedlung. In der Römerzeit war das eine bedeutende Stadt, deren Einfluss weit über die Stadtgrenzen hinausreichte. Von hier aus kontrollierte man eine wichtige Handelsstraße, die Via Julia Augusta, die Kaiser Augustus erbauen ließ und die von Aquileia nach Norden bis ins heutige Österreich führte. Ein Teil der Siedlung wurde ausgegraben, wie zum Beispiel das ehemalige Forum. Auch eine Therme wurde freigelegt. Ich möchte gar nicht wissen, welche Schätze da noch unter der Erde schlummern. Leider fehlt der Regierung immer dann das Geld, wenn es darum geht, unsere reichlich vorhandenen Geschichtsdenkmäler zu bewahren. Eine Schande, was da jüngst in Pompeji passiert ist! Mehr als zweitausend Jahre hat das antike Gladiatorenhaus überdauert, und heute, bei all der Technik, lässt man es so weit verfallen, dass es schlussendlich in sich zusammengestürzt ist. Typisch Süditalien: schlampig und korrupt!“

Camilieri verdrehte die Augen, schwieg um des Hochzeitsfriedens willen aber, obwohl es ihm sichtlich schwerfiel.

Das bemerkte der Padre gar nicht, so sehr hatte er sich in Rage geredet: „Aber da haben die Politiker vermutlich einiges mit den Touristen gemeinsam, die die Ausgrabungen meistens auch nur deshalb besichtigen, weil es sich halt so gehört. Dabei haben sie eigentlich nur das nächstgelegene Caffè im Sinn.“

Während der Padre ins Schimpfen über die Regierung, die Süditaliener und die Gäste des Landes geriet, meinte Camilieri zu Forza, der das Sträßchen hinaufbretterte, als führe er in der Rallye-Weltmeisterschaft um den Titel: „Langsam, wir sind ja nicht im Dienst und wollen den Tag unserer Hochzeit noch erleben.“

Zum Geistlichen sagte er, lediglich damit er irgendetwas sagte: „Sie kennen sich aber gut aus mit den alten Römern, Padre.“

„Das ist kein Wunder, mein Sohn“, erwiderte dieser, „schließlich reichen die Wurzeln unseres Glaubens bis in die Römerzeit zurück. Einer der Apostel war ein römischer Bürger: Paulus. Auf Italienisch Paolo, so heiße nebenbei bemerkt auch ich, doch ich bevorzuge die lateinische Version meines Namens.“

*

Nach der Rückkehr vom Bergkirchlein San Pietro und nachdem man den Padre vor dem Pfarrhaus aus dem Auto steigen lassen hatte, ließ Camilieri seinem Ärger freien Lauf. Er und Lydia, Forza und Eleonora saßen an der Hotelbar bei einem Espresso.

„Wenn der Pfaffe bei der Trauungspredigt auch nur ein schlechtes Wort über Süditalien verliert, dann stehe ich auf und gehe“, ärgerte er sich und warf mit einer gleichermaßen ausladenden wie abwertenden Handbewegung die Kaffeetasse um, die Gott sei Dank bereits ausgetrunken war. „Che polentone!“, setzte er noch grantig nach.

„Und was wird aus unserer Hochzeit?“, fragte Lydia.

„Dann heirate ich dich eben in Sizilien“, erwiderte Camilieri zuerst mürrisch, dann mit einem gewinnenden Lächeln, wie es nur Süditaliener von einer Sekunde auf die andere ins Gesicht zaubern können. Der laute Schepperer, den die Tasse beim Herabfallen auf den Steinboden verursachte, hatte die am Nachmittag im mehr oder weniger verlassenen Hotel – die Gäste wanderten durch den schönen Spätherbst oder badeten in der Therme – allein Dienst schiebende Chefin des Hauses herbeieilen lassen.

„Prego?“, fragte sie.

„Gut, dass Sie da sind“, überspielte Camilieri sein Missgeschick mit der Kaffeetasse, „wir sollten über das Hochzeitsmahl reden. Mein Kollege“ – er deutete auf Forzas stattlichen Bauch – „ist ein echter Feinschmecker und unsere Frauen“ – die nächste Handbewegung galt Lydia und Eleonora – „schätzen ebenfalls die Vorzüge der guten italienischen Küche.“

„Ma certo“, erwiderte die Frau des Hauses erfreut, „wir haben da zwei Möglichkeiten: Entweder wählen Sie aus unseren Spezialitäten der überregionalen italienischen und internationalen Küche, die großen Klassiker also, die alle kennen, auch die Gäste aus Österreich. Oder“, sie senkte die Stimme auf eine Lautstärke, die nach Verschwörung klang, der Tonfall sollte aber nur auf einen Geheimtipp einstimmen, „oder wir kochen für Sie tipicamente friulano.“

„Friulano“, antworteten Eleonora und Forza, beide in Cividale geboren und aufgewachsen und höchstens zum Einkaufen nach Udine oder Palmanova gekommen, gemeinsam mit der Österreicherin Lydia aus einem Mund. Die von Camilieri hingemurmelten Worte „überregional italienisch“ gingen im Antwortchor vollkommen unter.

„Fantastico!“, freute sich die Wirtin, „Bravo! Eine gute Wahl.“

Dann holte sie hinter der Bar ein Kochbuch von biblischem Format hervor und hievte es mit einem Schwung auf den Tresen, dass man kurzfristig um die Stabilität der in die Jahre gekommenen Holzkonstruktion zitterte. Alte Kochbücher konnten ein Gewicht auf die Waage bringen, das verstehen ließ, warum man Kutteln, fette Würste oder Bauchfleisch zu stärkenden Speisen verkochte. Allein zum Stemmen der Bücher benötigte man die daraus gewonnene Kraft …

Es begann ein Blättern und Gustieren, ein Betrachten von geschmackvollen Fotos, garniert mit einer intensiven Beratung durch die Chefin des Hauses, die zugleich der Küche vorstand. Dem Trend der Zeit folgend, schlug sie vor, der Speisenfolge die Schwere zu nehmen. So könnte man beispielsweise schwereren Antipasti einen leichteren ersten Gang folgen lassen, um beim zweiten wieder ein wenig deftiger werden zu können.

„Die Abwechslung zwischen ein wenig leichter und ein bisserl schwerer finde ich ausgezeichnet“, bestätigte Lydia.

In einem war man sich ebenfalls einig: Verlangte ein Rezept von alters her Pancetta, den italienischen Bauchspeck mit gehörig Fett, dann würde man dies nicht ändern, 21. Jahrhundert hin oder her. Kalorien zählen konnte man nach der Hochzeit lange genug. Schließlich kreierte man ein Festmenü, das sich schmecken lassen konnte (richtigerweise müsste man ja sagen: schmecken lassen hätte können, doch dazu später): Während der Wartezeit, bis auch der letzte Gast der Hochzeitsgesellschaft den Weg vom Bergkirchlein herunter gefunden hätte, sollte es beim Herumstehen im Foyer des Ristorante winzige würzige Fleisch-, Gemüse- und Reisbällchen auf kleinen Spießchen geben. Dazu Prosecco di Valdobbiadene – natürlich DOCG, Denominazione di Origine Controllata e Garantita. Und für die Österreicher, die Chefin verzog das Gesicht und machte eine Miene, als rede man von Urwaldafrikanern, nein, von Leuten vom Mond, obwohl die Grenze zur Alpenrepublik keine Dreiviertelstunde mit dem Auto entfernt lag, für die Österreicher zur Überbrückung der Wartezeit Birra.

„Gösser“, sagte die Chefin dann doch ein wenig stolz, weil sie die bekannte österreichische Biermarke in ihrem Ristorante führte, und schaute erwartungsvoll zu Lydia. Die zählte aber eindeutig zur Prosecco-Fraktion.

„Prosecco“, freute sich auch Eleonora, „e molto buono.“

Camilieri, durstig und ein wenig sauer, weil man ihn vorher überstimmt hatte, bestellte als Einziger eine Kostprobe des Bieres, während die anderen die Einladung der Wirtin auf ein Gläschen des Prosecco erfreut annahmen.

Vor dem eigentlichen Mahl würde man in weiterer Folge ein wenig gekochtes Gemüse servieren, das sich jeder am Tisch nach Geschmack, Lust und Laune mit Olio extra vergine di Oliva aus Umbrien, Aceto balsamico di Modena und etwas Sale marino marinieren konnte. Dann sollten Prosciutto di San Daniele, Montasio-Käse und Oliven als Antipasti folgen. Die Nudeln des ersten Ganges würden mit Salsiccia, typisch friulanischer Wurst, und erntefrischen Tomaten zubereitet werden. Für den Hauptgang beabsichtigte die Wirtin Anleihen beim wichtigsten Fest der Christenheit, Pasqua, zu nehmen und empfahl Zicklein.

„Dieses Gericht“, erklärte sie, „wird mit frischem Rosmarin und Knoblauch geschmort. Es kommt normalerweise nur zu Ostern auf den Tisch. Aber eine Hochzeit ist ja auch ein Neubeginn, also so etwas wie eine Auferstehung.“

Bevor eine Nachfrage möglich war, wie das denn gemeint sei, präsentierte die gute Frau auch schon die Vorschläge für die Dolci: Torten, Kuchen und Kekse. Und als Krönung Cassata siciliana, eine Festtagstorte aus Sizilien, zu Ehren des von der Insel stammenden Bräutigams als große Ausnahme in der ansonsten friulanischen Speisenfolge. Feinstes Biskuit wurde dafür mit zuckergesüßter Ricotta gefüllt, unter die man Likör, Schokoladestückchen und kandierte Früchte mengte, darüber eine Haube aus Panna mit Vanillezucker.

„Commissario“, schloss die Hotel- und Küchenchefin mit Begeisterung, „das wird Ihnen, Ihrer Braut und Ihren Gästen schmecken. Und natürlich auch dem Signor Forza und – noch darf ich so sagen – der Signorina Eleonora.“

Zu diesem Zeitpunkt wusste es niemand und es hätte wohl die gute Stimmung gestört: Bis man das Mahl veramente genießen konnte, sollte wesentlich mehr Zeit vergehen als geplant.

*

Nach dem Genuss von Prosecco und Bier beschlossen die zukünftigen Bräute und Bräutigame, einen abendlichen Spaziergang zu unternehmen, um in der frischen Bergluft den Tag ausklingen zu lassen.

Platz zum Spazieren gab es genug, denn obwohl Arta Terme nur rund zweitausendzweihundert Einwohner zählte, erstreckte sich die Gemeinde über eine beträchtliche Fläche. Im und um den Ort dominierten sattgrüne Wiesen, ringsum gab es viel, viel Wald und in einem großen Halbkreis um das Tal hohe Berge, von deren Gipfeln bereits im Oktober der erste Schnee weiß herableuchtete. Einige Ortsteile wie das Zentrum selbst oder das erwähnte Piano d’Arta, wo Camilieri und Co Quartier bezogen hatten, verströmten mit ihren Hotels und der Nähe zur Therme den mondänen Charme eines ein wenig in die Jahre gekommenen Kurortes, was besonders Lydia gefiel. Denn als Historikerin konnte sie sich gut hineinversetzen in die Zeit, als der Kurort seine letzte Hochblüte erlebt hatte: Bürger aus ganz Norditalien waren hierher gekommen, weil sie sich Linderung ihrer Leiden erhofften. Man spazierte und diskutierte, man kommentierte das öffentliche Leben und erholte sich gleichzeitig davon. Unter ihnen war der Freimaurer und Dichter Giosuè Carducci gewesen, der, so glaubte sich Lydia zu erinnern, sogar mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet worden war. Das bestätigten dann auch eine Tafel und eine Statue des Dichters in einem kleinen Park unweit des Hotels.

Verstecktes Herzstück des Ortes aber war die Therme, an der die vier ebenfalls vorbeischlenderten. Auffallend hier mitten in Karnien waren besonders die spitzen Türmchen am Dach, die ein wenig an asiatische Pagoden erinnerten und im Ort anscheinend Schule gemacht hatten. Denn immer wieder entdeckten sie Dächer, die an die Türmchen der Therme erinnerten, so auch beim Hotel, in dem die Hochzeiter nächtigen und feiern wollten. Im Gegensatz zu anderen Bädern herrschte die Therme hier aber nicht über den Ort, sondern sie schien sich geradezu verschämt unten im Tal des But zu verstecken. Historisch wertvoller als die Therme, darauf wies natürlich wieder Lydia hin, waren die Kirchen des Ortes, darunter einige Kapellen aus dem 15. Jahrhundert, wie die Heiliggeistkapelle und die Kapelle des heiligen Nikolaus. Damit hatte sicher auch der historisch interessierte Padre seine helle Freude.

Irgendwie erweckte Arta Terme insgesamt in Claudio Camilieri den Eindruck, einmal mit erheblichen Mitteln aus dem Boden gestampft und dann von den Bewohnern wieder in den Schlaf gewiegt worden zu sein. Die Hinweistafeln zu den Wanderwegen durch Ort und Umgebung waren zwar exakt, aber grau und verwittert. Die Läden vieler Häuser waren geschlossen und auf den Fassaden zu viele Vendesi-Schilder zu lesen. Vielleicht lag es einfach an der Jahreszeit, in der er und Forza in Arta Terme heiraten wollten: Spätherbst, zwar mit dem schönsten Wetter, das man sich vorstellen konnte, aber eben keine Ferienzeit. Die markanten Berggipfel ringsum stachen schroff in einen blauen Himmel, den kein Wölkchen trübte. Man ahnte, dass es nicht mehr lange so bleiben und bald die Herbststürme mit Kälte und Regen übers Land ziehen würden.

*

Geraume Zeit nach Mitternacht hämmerte es an Camilieris Zimmertür. Bis der Commissario aus dem Schlaf fand, dauerte es. Lydia erwachte schneller und rüttelte ihren Bräutigam fest an den Schultern. „Wach auf, Claudio, da ist jemand an der Tür.“

„Chiuso“, murmelte der Angesprochene im Halbschlaf, bevor er sich abrupt aufrichtete. „Eh, was soll das?“, schimpfte er dann laut in Richtung Tür. „Hast du keine Uhr?“

 

„Commissario“, tönte es von draußen, „machen Sie auf! Ein Notfall!“

„Ist den Zechern an der Bar der Wein ausgegangen?“, fragte Camilieri grantig.

„Nein … viel schlimmer … tot“, drang es durch die Tür.

Leise flüsterte Camilieri Lydia ins Ohr: „Scusi, Bella, ich befürchte, ich muss einmal kurz nachsehen, was da draußen los ist.“ Laut rief er zur Tür, während er in seine Hose schlüpfte: „Tot? Wer ist tot?“

Vor der Tür wurde es still, statt einer Antwort Schweigen. Camilieri, der sich inzwischen auch ein Hemd übergestreift hatte, riss die Tür auf und blickte dem Dorfpolizisten in die Augen.

„Also, was ist los?“, herrschte er ihn an.

„Commissario“, antwortete der Beamte der Polizia municipale, „in der Therme wurde ein Toter gefunden.“

„Das ist schlecht, aber nicht meine Angelegenheit. Ich bin im Urlaub“, erwiderte Camilieri forsch und wollte die Tür wieder schließen.

„Ich weiß, Commissario“, entgegnete der örtliche Polizist, „es tut mir auch leid, Sie zu stören. Wo Sie doch übermorgen heiraten wollen. Aber Sie sind von der Kripo – und Sie sind hier. Ihre Kollegen in Tolmezzo, die eigentlich zuständig wären, gehen nicht und nicht ans Telefon.“

„Hm.“

„Und für die Spurensicherung brauchen wir einfach einen Profi am Tatort.“

Camilieri dachte kurz nach. „Stimmt“, meinte er dann. „Was man am Anfang nicht begutachtet und bewertet, ist unwiederbringlich verloren. Warten Sie eine Minute, ich komme mit Ihnen.“ Er ging zurück zum Bett und drückte Lydia einen Kuss auf die Lippen. „Ich bin so schnell wie möglich zurück, das verspreche ich.“

Lydia seufzte: „Ich bin schon zufrieden, wenn du unseren Hochzeitstermin schaffst.“

Ohne zu antworten, stürmte Camilieri aus dem Zimmer und eilte zu Forzas Tür. Er klopfte heftig und rief: „Aufwachen, Forza, es gibt Arbeit!“

Ein paar Minuten später sprangen die drei in den Alfa, der am Hotelparkplatz abgestellt war. Forza hinters Steuer, daneben auf den Beifahrersitz Camilieri und auf die Rücksitzbank der Beamte der Polizia municipale, der sie aus dem Bett geholt hatte. Der Mond tauchte das Gelände in fahles Licht, was sich schlagartig änderte, als Forza den Motor anließ und ungeachtet der Straßenverkehrsordnung, die für Ortsgebiet Abblendlicht vorsah, die Scheinwerfer einschaltete und aufblendete.

Als der Alfa mit quietschenden Reifen aus dem Parkplatz bog, wurde dem Dorfpolizisten im Fond rasch klar, warum Aufblendlicht: Schon nach ein paar Hundert Metern Fahrt, beim Einbiegen in die Viale delle Terme, brach aufgrund der Geschwindigkeit das Heck des Alfa aus. Doch Forza fing den Wagen geschickt ab. Nach rund dreihundert Metern in der schnurgeraden Straße, die vom höher gelegenen Ortsteil Piano d’Arta zum Fluss hinunterführte, hatten die Ermittler bereits hundert Sachen drauf. Dem Dorfpolizisten erstarrte das Antlitz zu Eis – sonst schrieb er an dieser Stelle bereits bei sechzig Stundenkilometern saftige Strafmandate. Und die Anrainer der abschüssigen Gasse dürften Forza mit seinem grellen Scheinwerferlicht und dem lauten Motorenlärm, die er ihnen durch die Fenster in die Schlafzimmer schickte, ohnehin von ganzem Herzen verflucht haben.

An der Kreuzung mit der Strada statale 52 bis Carnica, der Hauptstraße durch das Tal des But, lenkte Forza scharf nach links, wieder mit ausbrechendem Heck, um unmittelbar darauf in die Zufahrtsstraße zur Therme rechts wegzubiegen. Eine scharfe Kehre noch, mit leicht abhebenden Rädern ging es über die Brücke des Flusses und Forza stellte den Wagen direkt vor dem Eingang ins Thermalbad ab.

„Bene!“, lobte der Commissario, „das ging ja wirklich professionell.“

Nach einem zufälligen Blick auf Forzas Unterschenkel, den die Hose beim Aussteigen kurzfristig freigab, lachte Camilieri auf und fügte hinzu: „Besser als das Anziehen!“

Forza verstand nicht sofort. Erst nachdem der andere auf seine Füße gedeutet hatte, erkannte er das Malheur: Da hatte er doch glatt zwei verschiedenfarbige Socken erwischt!

„Merda“, murmelte er, „das kommt von der Hetzerei.“

Und Camilieri schoss durch den Kopf, dass Eleonora wohl noch ein gutes Stück Arbeit mit ihrem Giuseppe haben würde. Nur der Dorfpolizist dachte nichts. Seinem Gesicht fehlte nach dem Aussteigen völlig die Farbe, es glich den Nebelfetzen, die im bleichen Mondlicht gespenstisch vom Wasser des But aufstiegen.

*

In der Zwischenzeit herrschte in der Therme bereits Chaos. Menschen liefen wild durcheinander, ein Sinn, gar eine Struktur hinter ihrem hektischen Tun war nicht zu erkennen. Camilieri schnappte sich als Ersten den Nachtwächter, der – obwohl es eine weitere Befragung werden dürfte – erstaunlich gelassen dasaß und der Dinge harrte, die bis zu seinem wohlverdienten Frühstück noch kommen sollten.

„Sie haben die Leiche also gefunden“, begann der Commissario.

„Sì“, bestätigte der Mann.

„Wie lange waren Sie zu dem Zeitpunkt schon in der Therme?“

„Eine gute Viertelstunde, schätze ich.“

„Ist Ihnen vorher irgendetwas aufgefallen? War etwas anders als sonst?“

„No.“

„Denken Sie bitte genau nach, jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein.“

„Nein, Commissario, es war alles wie sonst. Obwohl … “, der Nachtwächter zögerte.

„Ja? Was obwohl?“

„Ein Fenster war offen. Ich bemerkte es an der Zugluft.“

„Zeigen Sie mir das Fenster!“ Und zu Forza sagte er: „Kommen Sie mit, Kollege.“

Der Nachtwächter führte die beiden zu dem Fenster und erklärte: „Hier, dieses Fenster war offen. Ich spürte gleich beim Hereinkommen Zugluft. Das ist aber nichts Besonderes. Jede zweite Nacht ist hier irgendwo ein Fenster geöffnet. Die Badegäste machen es tagsüber auf, wenn die Hitze zu groß wird oder die Luft schlecht ist, und das Personal merkt es beim Zusperren nicht.“

Vorsichtig, um nicht eventuell vorhandene Spuren zu zerstören, trat der Commissario an das Fenster heran und schaute hinaus.

„Viel sieht man nicht. Wir werden uns das Ganze nach Tagesanbruch von draußen anschauen“, sagte er zu Forza.

„Und was haben Sie dann gemacht?“, setzte dieser die Befragung des Nachtwächters fort.

„Na, das Fenster geschlossen“, antwortete der Mann leicht genervt.

„Und dann?“, drängte Forza.

„Dann habe ich meinen Rundgang fortgesetzt. Wie jede Nacht.“

„Dabei ist Ihnen nichts mehr aufgefallen?“

„Nein, alles war wie immer. Bis ich in die Halle mit dem Schwimmbecken gekommen bin. Da habe ich auf der Wasserfläche etwas treiben sehen.“

„Sonst war nichts anders?“, insistierte Forza. „Nicht die kleinste Kleinigkeit?“

„Na ja“, meinte der Nachtwächter nach einer kurzen Nachdenkpause, „es hat hier herinnen so komisch gerochen.“

„Wie – komisch?“

„Nach Verwesung. Zusätzlich zum Schwefelgeruch, der vom Wasser aufsteigt.“

Commissario Claudio Camilieri pfiff durch die Zähne. Er sagte zu Forza: „Wissen Sie, was das bedeutet?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Das bedeutet, dass unser Toter da gar nicht mehr frisch ist.“

„Sie meinen also, dass er woanders ermordet und erst danach hierher verfrachtet wurde?“, fragte Forza nach, ob er den Commissario richtig verstanden habe.

„Wenn er denn ermordet wurde“, antwortete Camilieri. „Es war ja noch nicht einmal ein Pathologe da. Wir kennen die Todesursache also nicht.“

„Alles andere als ein Mord kommt wohl kaum infrage. Oder glauben Sie, er wäre irgendwo da draußen eines natürlichen Todes gestorben und dann hereinspaziert, um in der Therme endgültig unterzutauchen?“

Camilieri lachte kurz auf: „Sehr wahrscheinlich ist es nicht, zugegeben. Aber bevor wir keine Gewissheit haben, darf nichts von Vornherein ausgeschlossen werden.“

„Stimmt. Trotzdem fällt mir keine andere Möglichkeit ein. Es ist wohl auch schwer vorstellbar, dass er draußen eines natürlichen Todes gestorben ist und heute Nacht von irgendwem hereingetragen und ins Wasser gelegt wurde. Warum sollte man das tun?“

„Ja, ja, Sie haben ja recht, Forza“, sagte der Commissario, „ich wollte lediglich ausdrücken, dass wir keine vorschnellen Schlüsse ziehen sollten.“

„Und im Wasser ertrunken kann er auch nicht sein“, dachte Forza weiter laut nach, „denn gestern war die Therme geöffnet. Wie aber die gute Nase unseres Wachmannes hier bestätigt hat und man auch jetzt unschwer feststellen kann“ – er rümpfte die Nase –, „muss er schon länger tot sein als ein paar Stunden. Sonst würde er ja nicht so streng riechen.“

„Gut“, gab sich Camilieri gegenüber der Logik seines Kollegen geschlagen, „gehen wir also davon aus, dass er vor einiger Zeit irgendwo da draußen ermordet wurde. Stellt sich also die Frage, warum irgendjemand das Risiko in Kauf nahm, beim Versuch entdeckt zu werden, die Leiche hierher zu transportieren. Warum hat er sie nicht in den Wäldern, die sich ringsum erstrecken, gefahrlos verscharrt? Oder einfach liegen gelassen? Bis ein Jäger oder ein Schwammerlsucher sie gefunden hätte, könnten Monate vergehen.“

„Diese Frage ist berechtigt, Commissario. Warum schleppt man sein Opfer einige Tage nach der Tat an einen Platz, wo eine Entdeckung ziemlich wahrscheinlich ist?“

„Weil man will, dass es entdeckt wird.“