Landung einer Seele

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Landung einer Seele
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Hannes Sonntag

Landung einer Seele

Literatur der Zukunft

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Widmung

Landung einer Seele

Impressum

Widmung

Einem unbekannten kleinen Jungen, den ich neulich sah

Den rechten Arm schiebt er die bauchige Glaswand der Backtheke hinauf. Oben angelangt, zieht ihm die Verkäuferin den Fünf-Euro-Schein aus den Fingern.

»Brötchen bitte«, sagt er.

»Wie viele denn?«, fragt die Marzipanige nach unten.

»Für fünf Euro Brötchen«, antwortet er, die kleine Stimme etwas in trockenes Gras gewickelt.

»Und welche sollen es sein, junger Mann?«

»Mischen Sie einfach«, lächelt er in sich hinein.

Er hat es geschafft. Er hat seinen Auftrag erfüllt. Er ist groß und hat, so klein er ist, das Gespräch nach Plan geführt. Sogar der Dicken die Freiheit der Wahl gelassen. Sein ganzer Stolz: wie gut die Welt funktioniert, wenn man ihr richtig kommt. Alles hat gepasst, denkt er, und fühlt sich aufgehoben in den Sätzen, die man ihm nahelegte.

Halb aufgerichtet hänge ich im Bett. Beinah ist Abend. Mir zugewandt steht Hety vor dem Bügelbrett. Das Bügelbrett teilt Hety und ihre Schürze in zwei Teile. Alles, was Hety anfasst, ist weiß. Was sie weglegt, ist flach und kleiner als vorher. Über Hetys Kopf leuchtet ein milchiges Glas, eine Lampe mit gelb absteigendem Licht. Darin schwimmt eine Fliege. Sie macht den tanzenden Fleck. Ich schaue nur ins Licht. Bis Hety ganz darin verschwindet.

»Du lügst«, sagt Hety. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Ich weiß nicht, wann ich etwas gesagt habe. Ich weiß nicht, was das ist: Lügen. Aber ich fühle einen Stein gegen meine Brust geworfen. Ich fühle, dass nun sein Schlag als Schatten in mir ist. Eigentlich müsste ich aus dem Zimmer gehen. Stattdessen sinke ich ins Kissen zurück. Ich bin jetzt krank.

Das Fenster zur Straße ist geschlossen. Eine durchsichtige Wand. Mit dem Ellenbogen stütze ich mich auf die Fensterbank, ganz in die linke Ecke gestrichen. Draußen ist alles in Bewegung. Mitten im Bild ist ein großer Baum umgestürzt. An der Stelle, wo der Stamm zerborsten ist, ragen rötlich-gelbe Wolfszähne ins Freie. Das Milchgeschäft gegenüber ist nun ganz offen zu sehen. Aber es sieht aus, als sei es zu. Niemand geht gerade die paar Treppenstufen zur Ladentür hinauf. Die große silberne Milchkanne, die laut über den Platz rollt, hat ihren Deckel verloren. Und überall springt Papier durch die Luft. Kein einziger Mensch ist da. Links neben dem Haus, in dem das Milchgeschäft ist, wird ab und zu die Gardine beiseitegeschoben. Eine Frau schaut durchs Fenster, schüttelt den Kopf, dreht sich zur Seite weg und zieht die Gardine wieder vor.

Irgendwann wende ich mich nach rechts. Neben mir lehnt mein Vater. Sein Haar um die kleine Glatze ist zerrauft. Ich sehe nicht, wohin er sieht. Unter seinen Augen kleben Tränen. Mein Vater weint.

Ich liege im Fenster. Demselben, durch das ich auch auf das Milchgeschäft blicke. Nun schaue ich ein wenig nach links in die Schräge. Ich bin der Mittelpunkt. Kein Zug kann sich unbemerkt an mir vorbeistehlen. Ich könnte keinen aufhalten, ich könnte keinem entgegentreten, die Hand heben und Halt gebieten. Aber alle fahren durch mich hindurch. Sie gleiten über die gelbgeziegelte Überführung, unter der die Straße zum alten Friedhof verläuft. Gedrungen ist diese kleine fette Brücke, die sich wie ein dunkel gekrümmter Rücken einrollt und nach oben wölbt, um so viel Last zu tragen. Immer sind die Bahnen langsam. Kommen sie von links, vom Bahnhof, sind sie noch kaum in Fahrt geraten, kommen sie von rechts, von Bremen und Hamburg, haben sie längst ihre Geschwindigkeit auf ein Stadttempo gedrosselt. Manchmal begegnen sich zwei Züge und bauen meine Brücke mit Fernweh zu. Manchmal muss einer anhalten, die Leute drinnen machen sich bereits fertig zum Ausstieg, halten Zeitungen in Händen, zwängen sich in Mäntel und Hüte. Es kommt vor, dass jemand die Handfläche als Schirm über die Augen hält und auf den kleinen Platz unter sich runterschaut. Keiner sieht jemals mich. Es wird also Zeit, selbst in einem solchen Zug zu fahren.

Ein Linoleumsee. Ein weites schwarzgünes Meer. Rennstrecke und Schlinderparadies. Die zweite Etage eines alten Stadthauses. Viel Flur, Zimmer nach Norden und Süden. Eines nicht getroffenen Hauses. Die zuständige Bombe kam nach nebenan. Die Außenhaut ist grau gegerbt. Farbe in weitem Umkreis unüblich. Die Fenster haben Sprossen. Hinter ihnen wächst Grünes. Seitlicher Eingang und dann eine Welt voll Treppenhaus. Rote Läufer mit Messingstangen. Meterhohe Pflanzen ohne Rücksicht auf Platz. Platz ist da. Wie ein aufgeschossenes Treibhaus. Unterwasserlicht: warum schwimmen keine Goldfische in der Luft?

Mein Spielfriedhof hat ein Tischtuch bekommen. Wie leichter, kalter Staub, worin wir uns wälzen, Hety, die meine Kinderfrau ist, und ich. Mal sie umgerannt und ich Reiter auf ihr, mal sie, brütend und lachend, über mir. Schnee ist wunderbar, nie wärmer als inmitten. Immer sollte Schnee sein, häufiger. Ein Auge ruht auf uns, väterlich, mütterlich? Es hat nicht mitgespielt.

Das Reißen in meinem Mund ist in drei schwarze Hüllen gewickelt. Ich versuche zu schlafen. Wenn ich in meinen Mund hineinhöre, leuchten in dem engen Dunkel der Höhle meine neuen kleinen Zähne weiß auf, wie plötzlich von einem stumm blitzenden Licht getroffen. Um meine Zähne herum das blutwillige Zahnfleisch, ein böser, knapper Strumpf, der sie gegen ihren Willen festhält. Gleich auf die schmerzende Backe presst sich mein schwarzer Steiff-Hund, schmal und voll einwärts zielender Kraft – bezogen aus meiner rechten Hand.

Um meinen Kopf fließt ein weicher, großer, runder Raum, Nacht hinter meinen geschlossenen Augen, sich ausdehnend ohne mich je zu berühren. Denn ich selbst erschaffe sie, kühl und von mir weggewandt.

Öffne ich die Augen aber doch, steht mein Schlafzimmer fest und viereckig um mich herum, beinah schwarz, bis auf den hellen Spalt dort hinten, wo die Tür mich wissen lässt, dass ein Flur in ihrem Rücken liegt, von Menschen begangen.

Der Balkon liegt nach hinten. Hier scheint oft die Sonne. Heute Mittag ist es heiß. Eine große Schüssel wird auf den Balkon getragen, und ich darf splitternackt in der Wasserpfütze darin planschen. Aber ich setze mich nicht. Ich stehe, ich hocke, ich finde, irgendwie passt es nicht. Ich könnte die Hände als doppeltes Blatt vor meinen Penis legen. Ich träume so hilfesuchend nach Süden, als müsse die Sonne selbst die Situation für mich klären und mir leichte Sommersachen auf den Leib schneidern.

Vor allem stumpf muss sie sein. Mein Vater lässt sich von dem Gedanken verfolgen, ich könne unbemerkt in etwas Spitzes stürzen. Und eine lange, scharfe Schere, wie er sie hat, würde mir schon gefallen und ein kleines Kribbeln in die Finger bringen.

Ich hocke vor der Fensterbank und sehe meinen Vater für mich gewaltsam werden. Gefühllos für den Rest, reist er die Reklameseiten aus dem neuesten amerikanischen Heft. Die sind darin vorn und hinten gebündelt. Ich liebe diese feinen weiß-gelben Hefte. Tante Lotte, eine Cousine meines Vaters, lässt sie von Amerika zu uns herüberschicken. Innen sind farbige Bilder für Erwachsene. Auf den herausgerissenen Seiten für mich – alle haben jetzt einen verzackten hinteren Rand – gibt es strahlend blonde Frauen mit strahlend roten Lippen. Vor allem aber bunte Autos, die alles übertreffen, was ich auf der Straße sehe. Manche dieser Autos haben hinten spitz zugeschnittene Engelsflügelchen mit Lichtern, die aussehen, als seien sie von einer der rotmundigen Frauen dorthin geküsst. Es ist gar nicht einfach, so etwas mit einer kleinen stumpfen Schere auszuschneiden, und ich schneide sie alle aus, diese Straßenkreuzer, umso langsamer und sorgfältiger, je schöner sie sind. Manche tatsächlich sind silbern, obwohl nur Menschen darin fahren. In Amerika muss es wunderschön sein.

Das Zimmer ist abgedunkelt. Ich lehne in einem Plumeau. Um mich herum stehen meine Eltern und an der Bettkante sitzend Doktor Tisske, unser Arzt. Es gibt etwas Außerordentliches an mir zu betrachten. Die Ärmel sind mir beidseits hochgekrempelt worden. Meine Unterarme werden von mehreren feuerroten Hügeln überwölbt, groß wie halbe Pfirsiche. Sie schmerzen und jucken abwechselnd, und ganz heiß ist mir, was das Fieber ist. Das alles ist nicht normal, findet man. Auch Doktor Tisske wirkt besorgt. Er gibt mir eine Spritze, die ich heldenhaft ertrage. Sie scheint mir der Bedeutung der Situation völlig angemessen. Ansonsten billigt Doktor Tisske, was bereits über den ganzen Vormittag geschieht: Taschentücher, eins davon hellbraun mit kreuzweis weißen Streifen, werden in wasserverdünnten Alkohol getaucht, über der Schale leicht ausgewrungen und über meine Feuerpfirsiche gebreitet. Alles zusammen, so vermittelt man mir, wird mich bald deutlich abschwellen.

Dass die länglichen grauen Fliegen, die draußen gerne auf mir kleben und mir meinen Sonderzustand beschert haben, blind sind, macht mich nachdenklich. Bin ich zum Opfer bestimmt, leichte Beute selbst für blinde Fliegen, oder soll ich zumindest ein bisschen stolz darauf sein, derart süßes Blut zu haben, dass sogar blinde Tiere es gleich bemerken?

 

Zum Frühstück gibt es immer Schwarzen Tee mit Milch. Morgens und abends ist alles hell erleuchtet, um mich herum bewegen sich drei viel ältere Kinder unentwegt hin und her. Mir ist warm vor Mensch. Ich fühle mich wohl in diesem andauernden, gut gestimmten Licht.

Da, wo meine Mutter sein müsste, ist ein temperaturloses Loch. Meine Nenntante nenne ich Utti. Indem ich ihrem leicht geringeren Rang ein fehlendes M zuordne. Die wirkliche M-Utti wird vielleicht im Krankenhaus sein, in Cannes, im Schwarzwald oder einfach an einem Ort, wo man seiner Leiden am Kind beraubt wird. Mein Vater hat für diese Phasen eine Familie engagiert. Nur der Nennonkel ist ein bisschen gefährlich. Er warnt nicht, bevor er schlägt. Aber niemals mich. Er spielt Klavier, immer dasselbe Stück. Kurz bevor er damit endet, steht sein Dackel auf und reckt sich. Er weiß: Spaziergang.

Ich flattre durch die Wohnung. Aber die Bewegung ist schon vorher von draußen hereingekommen. Mein Vater gießt Cognac in winzige bauchige Schnapsgläschen. Vor allem Bruno muss unbedingt von dieser apfelsinenfarbigen Flüssigkeit bekommen, mehrmals, wozu er viele schnelle Zigaretten raucht. Aber auch mein Vater trinkt mit. Mein Großvater winkt ab: »Nicht am Vormittag.«

Bruno ist der Fahrer meines Großvaters. Die Herren reden. Die Herren rauchen. Bruno wird gleich noch viele Stellen abzufahren haben. Mein Großvater möchte in der nahegelegenen Drogerie nur noch einige Flaschen hellen Traubensaft einkaufen – die Verdauung. Später. Jetzt hat er Zeit für mich, zwei Stunden, die er liebt. Er setzt seine rostbraune Baskenmütze auf und zieht seinen Mantel an. Ich werde rasch in Warmes gepackt. Und fest beschuht. Dann gehen wir die Treppe hinunter. Er ohne Stock, den er in der Stadt nie benutzt.

Wir schlagen langsame Haken durchs Viertel, nur Häuser seitwärts und gelegentlich noch trümmergrüne Enklaven. Etwas weiter ein sehr alter Friedhof, der allmählich zum Park hochgewachsen ist. »Ilex«, sagt mein Großvater, und ich darf seine Hand loslassen, um ganz zart an der Innenseite von Daumen und Zeigefinger gestochen zu werden. Ein lateinisches Gewächs mehr. Man wird staunen, und meine Mutter das völlig unnötig finden. Belastend für ein Kind.

Die wenigen hundert Meter zu Fuß, bis zur Grünen Freiheit, werde ich gebracht. Die Haltestelle liegt von der Straße abgesondert hinter einem halben Tortenstück Grün. Hier hält der Bus etwas länger, der Fahrer öffnet vorn seine Tür für einen tieferen Schnaufer Luft.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?