Augen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Inhalt

AUGEN

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Intermezzo 1928

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Intermezzo 2008

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Unterwegs zu Monch

Epilog

Tina Kiko

Hannes Sonntag

AUGEN

Keines verbleibt in derselben Gestalt,

und Veränderung liebend

Schafft die Natur stets neu aus anderen

andere Formen,

Und in der Weite der Welt geht nichts

– das glaubt mir – verloren.

Ovid, Metamorphosen

Prolog

Meinst Du, dass wir uns danach noch blicken lassen können?

Meinst Du, man nimmt es wirklich ernst?

Wovon sprichst Du?

Ich meine natürlich unser Buch – wie Du auch.

Dann sind wir uns ja einig. Also, können wir uns noch blicken lassen?

Ich weiß es nicht. Die ernsten Dinge nimmt man häufig auf die leichte Schulter.

Findest Du, dass wir ernste Dinge sind?

Sagen wir vielleicht nicht – Dinge. Aber sind wir ernst?

Ich glaube ja. Denk daran, wie sehr wir geschwankt haben, ob sich unsere Geschichte erzählen lässt. Ein solcher Berg von Zeit, nur für uns zwei.

Und eigentlich sprechen wir nur über etwas mehr als zwei hintereinander gelegte Lebensspannen.

Mit einer kurzen Nacht dazwischen.

Also werden wir über die Straße gehen, wie wir schon immer über die Straße gegangen sind.

Das letzte Mal, als wir uns kennenlernten …

Kapitel 1

Habe ich mir Hallen und Arenen selbst verboten? Bin ich ein geborener, schlecht-meinender Abständler? Jedenfalls weiß ich, dass ein möglicher Platz für mich an solchen Orten eigentlich nie zu finden ist. Ich sehe Picasso tumultumschlungen vor einem Stierkampf sitzen, – und wäre selbst allenfalls der Stier. Ich sehe den Volkstribunen, Schaumspuckern und Heiligen Vätern bei ihrer frevelhaften Arbeit zu, – aber ich spräche unverwandt nur meine eigenen Sätze vor mich hin und würde nicht unter die tausende ohrleihender Schafe zu zählen sein. Zehn stinkende kleine Jungen, die im Namen von Reck und Barren mitten unter mir waren, reichten mir als Kind vollkommen, auf das Duschen mit ihnen zu verzichten und schweißnass alleine aus dem Umkleideraum nach draußen zu fliehen, die Knöpfe von Hemd und Hose noch zwischen den Fingern.

Fünfmal bestimmt bin ich um den Komplex herumgefahren, den parkenden Autos tief innen dankbar. Sie schlossen mich weise aus, und wie es meiner Schwester gelang, mich während meiner entschieden letzten Runde von außen her zum Stehenbleiben zu manipulieren, bleibt das kleine Geheimnis ihrer unbedingten Einladung.

Was dann unter den Leichtmetallkuppeln nicht zu übersehen war: Pferde, um derentwillen jedermann hier war. ›Turnier, Turnier‹ muss man den hochfahrend leidenden Wesen eingeflüstert haben, denn schon hatten sie die quadratischen Marmorhöfe, die Zauberwälder und fliegenden Steppen verlassen, um ihren kollektiven Erinnerungen an klappernde Ritter, zuckerstreuende Burgfräulein und geschmeidige Indianer zu folgen, ihre Nüstern weit in die Vergangenheit gedehnt.

In welchem unsichtbaren Wandbild hast Du gesteckt? In welcher abseitigen Schablone hast Du gewartet? Hast Du gewartet? Man verbirgt sich, um unerkannt zu warten. Du hast also gewartet, denn in meinem Rücken war Sicherheit. Ich hätte mit meiner Augenschere dieses Gefühl von Sicherheit leicht ausschneiden können, frei aus der Luft heraus – es wäre ein Engel geworden, einer, der eine Kapelle in milden grünen Hügeln bewohnt. Meine Schwester wird diese Figur zu mir herüber geschoben haben. Ich weiß, Deine Kleidung war aus Stoff, Deine Schuhe waren aus Leder, farblose Bedeckungen, die Nacktheit verhinderten, mehr nicht. Und Du standst auf einer einzigen Stelle, zu einer kleinen Gestalt verdichtet. Vorn vor Deiner Mitte Deine eine Hand in Deine andere gegeben, warme Verschränkung zu einem montierten Ball. ›Die Apfelbäume im hinteren Teil des Gartens tragen dieses Jahr besonders gut‹ – hättest Du sagen können, und eine blauweiß gewürfelte Schürze wäre Dir von der Gürtellinie herabgeglitten. ›Die Jäger haben ihr Bestes getan, Brot und Geräuchertes stehen bereit in der Diele‹, vielleicht auch so, und ich bemerkte, dass Braun und Grau sich verbünden können. Dein Haar spielte damit, aber Du hattest ihm sein Unruhestiften genommen, als Du es mit festem Zug nach hinten zusammenrafftest. Mir blieben Deine Augen. Sie zählten sich sogleich Jahrzehnte hinter das Alter Deines Haars zurück, geweitete Ellipsen, in Nussbaum, Rost und Tränenlack gebadet. Du wechseltest ein wenig die Stelle, dorthin, wo meine rechte Seite ist, und immer die winzige Spur hinter mir, gerade genug, um leichte, abwesende Worte zu tauschen. Wäre aus dem Hinterhalt aber ein Hornruf zum Angriff gekommen, hättest Du die Scheunentür mit aller Macht zugeworfen, – und ich bin sicher, Du hättest mich ohne Zögern hinter ihren Schutz mitgerissen. Was nicht nötig war, denn wir standen in einem harmlosen, schmalen Gang. So erklärtest Du mir stattdessen den Auftritt der nächsten Tiere. Schwarze Pferde, die nennt man Rappen, rote sind Füchse, die weißen heißen Schimmel, und haben sie graue Flecken und Kringel, sind es wohl Apfelschimmel. Das war alles, was ich wusste. Aber Dein sanftes Wissen operierte von der Seite. Der nächste Auftritt, die nächste hart erworbene Pirouette – und meine Märchentiere arbeiteten schwebend. Und zweifellos in diesem Augenblick, denn Du hattest sie mit wenigen Worten für mein untrainiertes Zuschauen gesattelt.

Dass Du schreibst, ahnte ich gleich, – schon nach Deinen ersten Sätzen, die hinter ihrem Klang bereits wie gedruckt erschienen. Fragen kann ich Dich nicht danach, ich kenne Dich erst seit zehn Minuten.

Deine Schwester hatte mir nicht viel von Dir erzählt. Du seist in einer schlechten Phase und Ablenkung würde Dir gut tun. Doch Du willst Dich nicht ablenken lassen. Nicht hier. Denn dies ist nicht Dein Ort, Du gehörst hier nicht hin, man sieht es gleich. Unter Locken und Wollmantel bewegst Du Dich fern der Menge.

Auch mir stehst Du hier räumlich zu nah und geistig zu fern. Durch meine innere Brille sehe ich Dich nur verzerrt. Mein Blick rutscht von nutzloser Vergrößerung ohne Übergang in milchige Verschwommenheit. Immerhin erscheinen mir Deine Locken lockig und Deine Sätze geschrieben genug, um Dir mit klarerem Abstand wiederbegegnen zu wollen. Wir werden uns also treffen, vereinbaren wir, bald, aber ohne irgendetwas Genaueres zu bestimmen.

Und so sind wir nur unverfänglich verabredet, so unverfänglich, dass wir nicht einmal miteinander sprechen müssen, um abzusagen. Eine SMS genügt. Nicht einfach bei Deinem SMS-Stil, der keiner ist, korrekt in Großschreibung und Kommasetzung erscheint Deine Absage fast handschriftlich auf meinem Display, irgendwo zwischen Telegramm und Brief. Aber auch ich muss absagen, eine Eselstute nimmt ihr Fohlen nicht an, ländliche Frühjahrssorgen. Du antwortest amüsiert und spöttisch. Ein paar Mal geht es hin und her. Nicht zu oft, wir halten beide inne, bevor wir deutlicher werden müssten. Unser Treffen verschieben wir auf ungenau.

Offenbar ist es Deine Schwester, die sich für unser Wiedersehen entschieden hat. Ihre Ostergesellschaft besteht nur aus uns beiden, und so finden wir uns in ihrer Gartenlaube wieder. Zuerst einmal Brötchen und Sekt und was man beim Frühstück so spricht.

Dann endlich läutet das Telefon für Deine Schwester den ersten Moment für uns alleine ein. Das ist mein Moment, Dich nach etwas zu fragen, was seit unserer ersten Begegnung immer stärkere Wellen in mir geschlagen hat: Schreibst Du?

Du stimmst verhalten zu. Veröffentlicht sei eigentlich so gut wie nichts. Es habe auch kaum jemand etwas gelesen. Zwei drei Freunde, ganz sporadisch. Sonst wisse niemand, dass Du schreibst. Schon komisch, lachst Du, wo Du doch immer schon, Dein ganzes Leben lang geschrieben habest.

 

Worüber? Über Erinnerung an Zeiten aller Art und ganz bestimmte Orte … Du bleibst lieber allgemein.

Auch ich verhalte mich in Phrasen, weiß nur zu sagen, was man im Studium so lernt: Erinnerung, ja, kollektive Erinnerung, persönliche Erinnerung … Gibt es eine Erinnerung der Sprache? …

Nun willst Du es plötzlich konkreter: Erinnerst auch Du Dich an eine Sprache? Welche Sprache spricht Deine Erinnerung?

Ich weiß es nicht und gebe Dir die Frage zurück. Das hätte ich nicht getan, wenn ich geahnt hätte, wie Du Dich nun abwendest. Nicht antwortest. Verunsichert versuche ich abzulenken. Nein, Sprachen fühlen sich bei mir nicht zu Hause, aber wann kennt man schon eine Sprache? Mit manchen Augen geht es mir anders: ich habe das Gefühl, sie zu kennen …

Jetzt schaust Du mich nicht mehr an. Entschuldigst Dich in die Küche. Als Du wiederkommst, versprichst Du, mir demnächst etwas von Deinen Texten zu schicken. Am nächsten Tag fährst Du nach München.

Kapitel 2

Ostern ist die Stadt aus einem eiskalten, sonnigen Ei gepellt. Jahrzehnte hatte sie sich nicht bei mir erwähnt, kaum mit einem Gedanken. Aber jetzt will ich an die warme Spaziergehhand meines Vaters erinnert werden, vielleicht auch an die glückliche Melancholie eines Zwanzigjährigen, als ich genug Leben vor mir wusste, um es verschwenderisch in den inneren Regen zu hängen. In München wandern noch einige Stationsbilder meiner Kindheit umher. Sommer für Sommer fuhr dort ein sehr großes, sehr weißes Auto vor und nahm Eltern, Schwestern und mich an Bord. Und sehnsüchtig erwartete ein kleiner Junge die schwache blaue Linie der versprochenen Alpen im abendlichen Dunst, die eigentlich vier Ferienwochen auf dem entlegenen bayrischen Hof der Freunde meinte. Von dort gab es später die geliebten Ausbrüche, die rasch alle Almwiesen, Arnika, den Gebirgsbach und die Blumenbalkone hinter sich ließen und zurück in die Stadt drängten.

Im Nymphenburger Park etwa verheimlichte sich ein kleines Schloss, das meine Phantasie sofort für sich erwarb, traumglänzende, aller Zeit entwundene Räume, deren Himmel in zartesten privaten Farben schienen, einem kalkkühlen Blau aus hohen Luftschichten, einem Gelb, in das gezähmte Sonne und südliches Ei verrieben waren. Darüber wucherte Vegetation aus reinem Silber, – Farne, Laub und Wein, und die Spiegel öffneten Nebenzimmer, in denen man immer mehr erschlankte und den Körper endlich ganz verlor.

Hierher bin ich nun wieder gefahren, Dich in der Manteltasche. Hinter mir liege ich selbst. In den letzten Zeiten hatte ich gelernt, bei Lebzeiten zu Staub zu werden. Alle guten Geister hatten sich von mir zurückgezogen. Was blieb war Abrieb, ein Pulver, das meine Umrisse nur noch als abgeflachte Bodenwelle wiedergab. Über Monate hatten meine Freunde jeden Morgen im Wechsel bei mir angerufen, um mit mir über Nichtigkeiten zu plaudern. Eigentlich wollten sie sich vergewissern, ob es mich noch gab.

Nun bin ich hier, und Du bist das Wunder, das ich mit mir führe. Ziegel um Ziegel wachse ich wieder hoch, zu meinem eigenen maßlosen Erstaunen. Manches erinnert mich an mich selbst, anderes wird nach neuen Entwürfen errichtet, in deren hintergründiger Mitte ich Dich stehen sehe. Du wachst über die Lehmgruben. Deine Arme sind bemuskelt genug, mich gegen Angreifer in Schutz zu nehmen. Kämpfst Du, trägst Du Lasten oder stemmst nur zum Vergnügen ein wenig vom ausgebrochenen Zahngold der Welt? Dir fehlen die schlank und ergeben in den Schoß gewinkelten Arme großbrüstiger Frauen. Dein Haar folgt Dir wie silbern, wenn Du plötzlich mit heftigen Schritten um den Platz kreist. Es sind die weiten, ausgreifenden Schritte eines großen Menschen, – Du aber bist von kleiner Gestalt und schreitest, als besäßest Du die Längenfreiheit eines Capitán Alonso de Contreras. Und Dein Haarsilber, aus der Nähe betrachtet, hat sich eigentlich aus jeder Farbe gestohlen. Weiße Adern, rauchschwarze, erdbraune wechseln ineinander, ohne dass ein einziger Faden für sich selbst eine Melange einginge. Daraus streut ein dunkler Glanz wie von angelaufenen Rahmen und Spiegeln, matt, als hätte ihn ein vertrauter alter Schmied für Dich gehämmert.

Aber Du weißt nichts von der Arbeit, die Du für mich tust. Und in mir reißt manchmal mitten in meiner Versenkung der Film und lässt mich allein mit Deiner Kopf feder zurück, die ich in vollkommen leeren Händen halte. Dann brüte ich über einem Hohlraum, dessen Einsturz jederzeit bevorstehen kann, nur eine Frage der Zeit, – meiner Zeit, die schnell lebt, sprunghaft und mehrgleisig.

Ein Brauhaus ist ganz dem Fleisch gewidmet. Nur seine Wände und Böden sind steinern. Man isst sich aus jeder Stellung in das Tier hinein. Aus dem Hirn ins Herz, aus den Hoden zum Fuß, aus der Zunge ins Schiere aller Schubladen. Ich spüre das Bier über Treppe, Boden und Schuhe rinnen, die nasse, klebrige innere Verbindungslinie vom Hopfenfeld durch warmen Menschen zum Tod. Und ich bestelle, das Schiere kochen zu lassen, damit mir das Fett nicht mein Kinn poliert, wie den Landsknechten und fröhlich behuteten, behüteten Herren.

Aber Du, denke ich, tanzt auf reinem Gras, einer Steppe fast ohne Fleisch. Trägst ein paar getrocknete Früchte zwischen den Falten Deines Umhangs. Ich sehe Dich von rechts her auf ein kleines braunes Pferd springen und zwischen meinen zusammengekniffenen Augen in der makellosen Sternnacht verschwinden. An einem menschenlosen Ort wirst Du die nächsten Jahre Deine Feuerstelle pflegen, wirst Deine Seele im Schatten eines Dorngestrüpps ausrollen und sie doch am Ende der Sonne ungeschützt preisgeben müssen, die sie so weiß gerbt, dass Du jedes Insekt darauf sofort entdeckst. Wenn es hoch kommt und genug Sprache in Dir aufsteigt, wirst Du mit unsichtbaren Göttern rechten. Und ist die Zeit der Einsamkeit vorüber, wirst Du vergessen haben wie man zählt, und alle Menschen, denen Du begegnest, werden Dir wie erste Menschen sein.

Auch mich wirst Du nicht wiedererkennen. Ich werde mich einreihen in den Pulk Deiner Begrüßer. Alle wirst Du gleich behandeln, gleich freundlich und gleich lange in Deiner Ansprache. Und der Handschlag, den Du mir zuteilst, wird sich in nichts von Deinen Handformeln für die anderen unterscheiden. Ich werde meinen Mantelkragen etwas steifer stellen und den Schock wie eine Metallkugel in meinen Magen sinken lassen.

Ich esse meinen Tafelspitz und habe Angst. Ich lasse den Meerrettich an der Zunge beißen und wäre, wenn möglich, hier weg wie ein ertappter Geist, um Dir mit dringlichen Gesten vor Augen zu führen, dass wir uns nicht verpassen dürfen. Die Sichtluke aus dem Dunkel hinein in unseren zeitübergreifenden Film ist plötzlich aufgegangen, – und für einen wunderbaren persönlichen Augenblick haben sich all unsere Muster entblößt und alle Konfigurationen zu erkennen gegeben, so absolut klar, dass sich für diesen heilignüchternen Moment des Fernblicks und Durchschauens beinahe bereitwillig wieder sterben ließe.

Wir dürfen uns nicht verfehlen, um nichts in der Welt, hörst Du, wenigstens ein Mal müssen wir zusammen in diesen Guckkasten schauen, solange er aufgrund einer heimlichen, einer großartigen Regie für uns offen steht. Unser Terrain wird sich vervielfachen, ganze Ebenen, rein aus Prinzip für unbekannt und weiß gehaltene Länder gewinnen wir dazu. Wir können uns bis an den äußersten Rand gegen den Horizont bewegen und sind immer noch mitten unter uns. Also, verpass mich nicht, Liebste, die noch nichts davon weiß, meine Liebste zu sein und Liebste von damals, hinter der magischen Öffnung, – als wir uns schrieben und schrieben und gemeinsame Tage mit äußerster Kunstfertigkeit aus dem Kalender unserer getrennten Leben schneiden mussten. Jetzt wäre Platz in Fülle für ein offenes Hand in Hand und Weltdurchkämmen, und die Limits unserer Zeitrechnung werden sich schneller selbst verwehen als wir sie belächeln können.

Ich habe in München auch eine Pflicht. Auf dem Nordfriedhof liegt der älteste meiner Freunde. Er hätte sich seine Asche ins Meer gewünscht, man hat es ihm aber anders gefügt. Ich fahre also hinaus, steige aus, kaufe die Blumen, die er am meisten liebte, und finde sein Grab, vor dem ich zum ersten Mal stehe. Ich weiß nach einigen scheuen Umrundungen: hier ist er selten und heute nur für mich. Ich skandiere ihm stumm seine Verdienste um mich, seine Handstreiche und unzähligen Gehhilfen für den, der ich zu seinen Lebzeiten war.

Warum, Liebste, antwortest Du nicht, hier könntest Du es ungeniert in Gegenwart eines Dritten tun. Ich gab Dir Texte von mir, ungeschützt, nur auf einen vagen Verdacht Deiner wahren Identität hin. Warum meldest Du nicht ›eingegangen‹, wenigstens doch das, und sei es zu meiner kleinen Beruhigung und als Halteseil für meine Geduld. Aber Du schweigst.

Ein Kirchendiener hat mich in der berühmten Gruft entdeckt. Er erklärt mir die Sarkophage der Wittelsbacher als seien es die Behälter mit den Körpern seiner Lieben. Er ist zutiefst von meinem Interesse überzeugt. Und der arme verrückte König kriegt die meisten seiner Sätze.

Wieder am Tageslicht hast Du geschrieben. Du kümmerst Dich um Flaschenlämmer und rührst mit Deinen milchbenetzten Händen in diesem Frühling, den Du irritierend findest. Und gelesen hast Du. Für die Szene hinter dem Film bist Du also nicht verloren. Ich übe es daher schon Mal auf der Straße, den Mund im Schal versteckt. So erfährt niemand, wie es klingt, wenn ich ›ich liebe Dich‹ flüstere.

Kapitel 3

Eine knallrosa Balkonlilie, an der ich schnuppern soll? Sollte das Symbolik sein, weiß ich sie nicht zu deuten, glaube aber doch zu verstehen, dass Du mich soeben eingeladen hast.

Deine Wohnung liegt mitten in der Stadt. Ich meide Städte gerne, aber noch unbedingter möchte ich mit Dir über die Texte sprechen, die Du mir geschickt hast. Die Frage nach Deinem Geschriebenen, meinem Gelesenen liegt in der Luft und wartet auf ihren Moment, auf die richtige Dramaturgie. Du aber spielst mir auf Deinem Bösendorfer-Flügel vor, und Chopin klingt wunderbar hell darauf. Das erste Mal höre ich Dich spielen. Mein Magen reagiert sofort. Ich kann es mir nicht erklären. Meine Ellenbogen werden taub. In meinen Ohren schlagen Wellen. Die Barcarolle endet und endet nicht.

Und als sie endet, reiße ich das Fenster auf. Im Vorbeigehen blinkt mich Dein Anrufbeantworter an. Als ich mich aus dem Fenster löse, weißt Du schon mehr. Langsam reichst Du mir den Telefonhörer. Man hatte versucht mich zu erreichen, all die Zeit schon, die Barcarollenzeit.

›Dein Schimmel‹, sagst Du. Ein Trümmerbruch in der Fessel. Aus dem Nichts, aus dem Trab, aus freier Bewegung hat er sich die Barcarolle lang auf drei Beinen gehalten, mein Schimmel, mein vertrautes besonderes Pferd.

Mir ist klar, ich kann nicht mehr hinfahren, die Entscheidung muss schnell getroffen werden, lange können sie ihn nicht mehr auf drei Beinen halten. Ich muss mich für seinen Tod entscheiden.

Ohne mich wird er gehen. Gehen, obwohl ich nicht da war – weil ich nicht da war. Wäre ich da gewesen, hätte ich es vielleicht verhindern können, wenn ich nur dort gewesen wäre…

Du hast Dein persönliches Recht auf diesen einstweiligen Schnitt durch unsere Zeit. Wir werden uns lange nicht wiedersehen. Ein uralter Nerv in Dir ist angerissen. Bei Land- und Wasserstürzen nicht dabei zu sein, – so wird Dir der peristaltische Boden Deines Gewissens diesen nur von Dir angenommenen Mangel gestreut haben. Aber unter Deinen immer schon ersehnten wie niemals einzufordernden Pflichten als sprungtuchhaltende Freundin leidest nur Du. Allein dafür wärst Du zu lieben. Ich werde also warten, bis sich die Kopplungen in Dir nicht mehr zu wichtig nehmen. Aber dann bin ich hart und prosaisch, übe mich Dich herzulocken, mit Brot und Wein und seltenen Käsen.

Mit einem kühlen Silvaner auf Deinem Stadtbalkon, etwas Apfelwiese, Erde und Brunnenwasser zur Sommerzeit. Doch bis zu Deinem Balkon kommen wir nicht. Wir stehen immer noch im Flur: vor mir das Flügelzimmer mit all den Bildern und Büchern. Dahinter der große Balkon mit dem gedeckten Tisch, neben uns das Schlafzimmer. Und hinter uns noch immer die Eingangstür. Ich schaue in Deine Augen. Was schwimmt in ihnen? Wo kommen sie her? Denn ich kenne sie. Ich kenne sie doch, Deine Augen? Kein Fragezeichen eigentlich. Du lächelst für uns beide.

Als wir aufstehen, die Rolläden auf Spalt ziehen, fließt der Mond über unsere nackten Füße. Mein Blick ertastet Dich von unten nach oben. Was das Halbdunkel freigibt, ist heimlich und schön. Dann wendest Du Deinen Kopf aus dem Profil zu mir herüber. Ich erschrecke. Deine Augenlider sind wie aufgeblasen, unterschwemmt von liquiden Wulsten. So bist Du mir ungewollt fremd, ein Wesen aus exotischer Region. Aber Du willst unbedingt keinen Arzt. ›Meine Augen lassen sich nicht drängen‹, sagst Du, ›meine Augen wollen Zeit.‹ Ich wüsste nicht, wann je ich Dir Zeit verboten hätte.

 

Später, nach und nach, richten sich meine Augen klarer aus. Mein Blick gewinnt an Tiefenschärfe. Ich lese Deine Texte mit meiner eigenen inneren Lupe. Und allmählich beginnen wir zu sprechen. Über innere Bilder. Erinnerungen. Darüber, wie ich Deine Dinge lese. Über Biographie und Phantasie. Und über die große Ausrede der Fiktionalität. Noch bleiben wir unbestimmt. Wagen keine Namen. Ich will mir erst sicher sein.

Als ich schließlich in Deinem Flügelzimmer vor ein Regal trete, bin ich allein in Deiner Wohnung. Bei Deinen Büchern. Vor Deinen Bildern. Und ich weiß genau, wo ich zu schauen habe. Wusste es schon die ganze Zeit. Nur habe ich mich bislang nicht weiter als aus den Augenwinkeln gewagt. Doch jetzt.

Ich ziehe eine Biographie und setze mich in den Sessel. Den Sessel an Deiner Bilderwand, voll mit Stichen und Fotografien. Hier will ich mich aufhalten, von Landkarten über ferne Kontinente geleiten und an der Hand von alten Stadtplänen durch vergangene Viertel führen lassen. So besuche ich das Paris der Julimonarchie und London zur Jahrhundertwende, versuche mich an einem kentischen Pachtvertrag und bin beim Earl of Pembroke zum Tee. Die »Allgemeine Kleidungs-Charte der Weltbewohner« von 1782 belehrt mich, wo »Kleidung von Pflanzenzeugen« getragen wird, wo Tierfelle die Baumwollkleider ablösen und wo ich schambewusst das Kolorit aus dicker schwarzer Tinte zu übersehen habe, das nur mühsam die Gebiete »Völliger Nacktheit« verdeckt. Ganz anders empfangen mich da die vielen berühmten Landsitze: diskret verkünden sie ihren Adel und zeigen nur wenig Verständnis, wenn ich sie verlasse, um ein Stündchen den Schäfern in ihre vorgelagerten Idyllen zu folgen.

Einzig vor Rousseaus Eremitage in Montmorency finde ich keinen Einlass, hohe Mauern versperren mir die Sicht, und das übermannshohe schmiedeeiserne Tor bleibt fest verschlossen. Ich schweife also weiter und gelange dorthin, wo der Druckgraphik eine Reihe von Fotografien folgt. Und dennoch wieder Abwehr: ein kleines Haus in weiß gestrichener Bretterverkleidung, seine Gartenmauern nicht so hoch wie die der Eremitage, doch streng genug, sich vor allzu nahetretenden Blicken zu verwahren.

Ein weiterer Blick in die Runde zeigt, dass Deine Fotos, so verschieden auch immer in Format und Motiv, nach langjährigem Sonnenbaden eine beinahe einheitliche Farbe tragen. Alle bis auf eines. Das einzige in schwarz-weiß. Es wirkt seltsam, wohl nur die Wiedergabe eines Fotos, wahrscheinlich aus einem Buch, man sieht es an der grobkörnigen Auflösung, wie aus einem Paperback, wie aus der Biographie, die ich gerade in den Händen halte, es scheint das gleiche Papier zu sein. Ich blättere, suche, beginne zu lesen, ich finde die fehlende Seite, die Seite mit dem Foto, dem Foto aus dem Rahmen, dem Foto an Deiner Wand. Dort wo die Seite fehlt, liegt ein Zettel, handgeschrieben, von Deiner Hand geschrieben. Ich lese ihn nicht. Stelle das Buch wieder zurück an seinen Platz. Das Foto schaut mir noch lange hinterher.

Auch in den nächsten Tagen fühle ich immer wieder seinen Blick in meinem Rücken. Ich weiche ihm aus, erwidere ihn nur selten. Es ist mir fast, als würde ich etwas Verbotenes betrachten. Du sagst nichts. Doch das Foto fordert mich auf. Und immer häufiger greife ich an vorgemerkter Stelle zu den Büchern. Betrachte darin all die Bilder und Fotografien. Viele gibt es, ein gut dokumentiertes Leben.

Die meisten wahren eine altmodische Distanz. Verblichen und vernebelt erscheinen sie im Sfumato vergangener Zeiten, und ich möchte sie unwillkürlich als historische Relikte einordnen. Es gelingt mir nicht. Vielleicht noch am ehesten bei den Jugendbildnissen: Frisuren und Mode lassen ein sanftes Befremden aufkommen und verkünden die Aura entschwundener Zeitzeugen. Anders auf den Bildern mit den vielen Freunden: ich überblättere die meisten, warum auch immer.

Und dann die wenigen, so bekannten Farbfotos. Besonders eines fällt ins Auge: ein seltener direkter Blick in die Kamera, ein wenig aus der Untersicht läuft er aus der Tiefe des Bildes nach oben, läuft über die Zigarette hinweg weit aus dem Bild heraus, läuft direkt in meine Augen. Meine Augen kennen diesen Blick. Sie wissen mehr als ich. Sagen mir, wie dieser Blick sie trifft, in sie eindringt, eine Injektion, die nicht aufzuhalten ist. Sie können sich nicht widersetzen, lassen den Blick passieren, bis er aufschlägt an dem Punkt in mir, an dem es kein Weiter mehr gibt. An dem sich jede Resonanz versagt. Crash der Stille. Und ich weiß, dass sie sich vollkommen decken, dass sie nie Zweierlei waren: Blick und Augen auf dem Foto – Augen und Blick, die ich gleich sehen werde, wenn Du durch die Tür kommst.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?