Das Glück ist aus Glas

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Aus der Reihe: Lindemanns #77
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Das Glück ist aus Glas
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für Isa,

die mir ihre Erinnerungen geschenkt hat,

& für Max, Leo und Victoria Sophia

Petra Hauser, geb. 1950 in Karlsruhe, hat in Heidelberg Germanistik und Anglistik für das Lehramt an Gymnasien studiert. Sie unterrichtet heute in verschiedenen Institutionen der Erwachsnenbildung Englisch und Literatur.

Petra Hauser

Das Glück

ist aus Glas

Ein Karlsruhe-Roman


Dass sie einander haben,

einander in den Armen halten können,

ist wie ein Panzer um ihre verwundeten Seelen;

trübe Gedanken prallen ab

und fallen in das Loch einer Nacht,

die sie wie viele überleben.

Erster Teil

1

„Nein, Vater, ich will nicht zu den Soldaten!“

Im August 1877 sitzt der Lehrer Andreas Wolf am großen Esstisch in seiner Wohnung in der Karl-Friedrich-Straße 4, bei ihm nur noch sein dritter Sohn, der vierzehnjährige Albert.

„Maler will ich werde! Die Louis’ sagt, ich hab Talent. Sie hebt alles auf, was ich zeichne und male und guckt es immer und immer wieder an, grad, als ob es sie glücklich machen würd’.“

Louise ist die älteste Tochter von Andreas Wolf. Sie wurde nach seiner Frau benannt. In jener Zeit benennt man älteste Kinder nach dem Vater oder der Mutter. Einmal deshalb, weil man während der Schwangerschaft viel zu abergläubisch ist, um sich Gedanken über Namen zu machen, und dann deshalb, weil man nach den Hausgeburten so erschöpft ist, dass man einander nur noch selig in die Augen blicken kann, dann auf das Kindchen, und jeder den Namen des anderen haucht, voll Dankbarkeit, dass alles vorbei ist. Das erste Kind heißt also Louise.

Beim zweiten ist das Wunder nicht mehr so groß und der Verstand hat sich leise eingeschaltet. Es mag sogar zu Gesprächen gekommen sein zwischen den Eheleuten. „Emil würde mir gefallen“, sagt der Vater. Seit Wochen liest er wieder in dem französischen Roman, der Frau Wolf gar nicht gefällt; viel zu schwierig ist er für sie. Aber sie liebt ihren Mann und stimmt zu. Der dritte Sohn heißt Friedrich, weil es in jeder Karlsruher Familie mindestens einen Karl oder einen Friedrich gibt. Dann kommt wieder ein kleines Mädchen an. Es heißt Ida. Der Name ist in Mode. Und warum nicht. Andreas Wolf kann zustimmen. Immerhin ist der Berg Ida die Geburtsstätte des Gottesvaters Zeus. „Andreas!“, schimpft Frau Louise und schüttelt den Kopf über ihren Mann, der vor lauter Gelehrtheit so manches Mal vergisst, dass er ein Christ ist!

Dann kommt ganz zum Schluss noch ein kleiner Junge an. Er heißt Albert, nach dem Lieblingsdichter des Herrn Andreas Wolf, Adelbert von Chamisso. Frau Louise erinnert sich an damals, an ihren Hochzeitstag, an dem sie nach den Reden des Brautvaters und des Bräutigams aufgestanden ist und auswendig zitiert hat: „Ich werd ihm dienen, ihm leben, ihm angehören ganz, hin selber mich geben und finden verklärt mich in seinem Glanz.“ Als Anerkennung an ihn, ihren Ehemann, als Dank für die vielen schönen Zeilen, die er gedichtet hat für sie in der Zeit der Werbung. Und als trotzigen Schutz gegen ihren Bruder und den Vater, die statt einem Gelehrten lieber einen Kaufmann gehabt hätten in der Familie.

Albert sagt also dem Vater, dass er nicht Soldat werden wolle. Der Vater ist nicht sehr traurig darüber. Es war ihm nicht ernst, als er seinem jüngsten Sohn vorschlug, zu den Soldaten zu gehen, nachdem er gerade von der Einweihung des Kriegerdenkmales am Ettlinger-Tor-Platz gesprochen hatte. Wenn er es recht bedenkt, war dieser Hinweis auf den Soldatenberuf in der Tat nicht besonders klug gewählt. Die Ehre der Namensnennung auf einem solchen Denkmal setzt schließlich den Tod voraus. Einen gewaltsamen, vorzeitigen Tod.

Heute hat die Badische Zeitung die 266 Namen der gefallenen Soldaten abgedruckt und dem Stolz der Stadt, dieser kleinen Provinzhauptstadt, Residenzstadt, Ausdruck verliehen, ihren Beitrag geleistet zu haben zu jenem einmaligen großen Sieg, dem die Gründung des deutschen Reiches folgte, das nun blüht und gedeiht von seiner Hauptstadt Berlin bis hierher ins badische Ländle.

Herr Wolf drückt seinen Kneifer auf die breite Nase und greift in die kleine Seitentasche an seiner Weste, um mit dem Daumen den Ring zu fühlen, der die silberne Kette in einer Schlaufe hält. Das hätte ich mir denken können! Der Albert ist anders. Kein Kaufmann, kein Gelehrter. Er ist ein sehr sensibles Kind und hat ein schönes, in sich ruhendes „Ich“. Aber es fehlt ihm die Energie seiner Brüder und deren schnelles Mundwerk. Sein Bedürfnis nach Liebe und Beachtung ist dennoch mindestens ebenso groß wie das ihre, wahrscheinlich aber um einiges größer. Seit er entdeckt hat, dass er ein anerkennendes Lächeln auf die Gesichter zaubern kann mit seinen Zeichnungen, die er, im Winkel eines Zimmers sitzend, in wenigen Sekunden verfertigt, strichelt und zeichnet er den ganzen Tag. Man muss dem Einhalt gebieten, sonst wird er in diesem Jahr das Klassenziel nicht erreichen.

Herr Wolf ist ein lieber, sanfter Mann. Einer, der seine Kinder nicht schlägt, sondern sie an die Hand nimmt, mit ihnen in den nahen Schlosspark geht und sie dort auf die prächtigen Rosenblüten in den Rabatten hinweist, sich hinunterbeugt mit ihnen zu den Gräsern und Kleeblättern am Wegrand, ein Blättchen abzupft, es nah ans eigene Auge führt, dann den Kindern überlässt und mit ihnen zusammen den Bauplan der Natur bewundert, wie er es nennt. Andreas Wolf ist ein selbstbewusster Bürger seiner Stadt, auch ein ergebener „Sohn“ seines Landes, der den Großherzog mit gezogenem Hut grüßt, wenn er in seiner Kutsche vorüber fährt, und seinen Söhnen erklärt, dass auch sie einen „Diener“ machen sollen, denn das ist unser Landesherr, der die väterliche Hand über uns hält. Andreas Wolf weiß, dass Güte und Milde weiter bringen als Zwang. Die beste Taktik bei der Kindererziehung ist Geduld und stille Wachsamkeit, das ist seine Meinung. Er ist ein Schöngeist, der an seinem Schreibtisch sitzt, die Korrekturen zur Seite schiebt und Gedichte auf lose Blätter kritzelt. Der diese Blätter heftet mit einer Kordel und sie seiner Frau zum Geschenk macht, obwohl er weiß, dass sie seine Poesie aus Liebe zu ihm lesen wird, nicht aus Interesse, obwohl er weiß, dass sie sich von ihrem Bruder ab und zu Sticheleien einhandelt, die auf ihren reimenden, sanften Mann zielen.

Sie ist eine kluge Frau. Sie weiß, dass sie auf ihren Bruder zählen kann, wenn es ernst wird. Immerhin, der Bruder ist „Kommerzienrat“, Firmengründer der „weltberühmten“ Kosmetikherstellung „Kaloderma“, wie Louise ihn ab und zu stolz verteidigt. Aber er ist Kaufmann, das Künstlerische ist ihm fremd. Er verwaltet den Teil ihres Geldes, den sie vom Vater geerbt hat, und er hat mit einer gewissen Großzügigkeit verfügt, dass sie dieses Haus allein besitzen soll, zum Ausgleich wurden ihre Geschäftsanteile gekürzt, aber in einem kunstvoll gedrechselten Vertrag steht es auch schwarz auf weiß, dass der Kommerzienrat Wolff dereinst seinen Neffen Friedrich, genannt Fritz, in seine Firma aufnehmen wird und neben seinen eigenen Söhnen am sich vermehrenden Vermögen beteiligen wird.

Durch Heirat hat Frau Louise eines ihrer „f“ eingebüßt. Aus Louise Wolff wurde Louise Wolf. Sie ist in die zweite Reihe gerückt, aber immer noch gehört sie und damit ihr Mann und ihre Kinder zu jenem Zirkel wohlhabender Familien, die der Stadt ihr Profil geben, zu denen man aufschaut, weil sie sichtbarer sind als der Adel und interessanter als die Kleinbürger, die mit vorsichtigen Schritten durch die Hauptstraßen huscheln, schnell wieder dem Osten, dem Süden der Stadt zustreben, wo sie sich in hohen Stadthausblöcken eingerichtet haben mit ihren Kohldüften, ihrem Kindergeschrei, den stinkenden Toiletten im Hof, mit ihrer derben Aussprache und den schwelenden Protestgelüsten vergangener Tage.

„Warum nicht“, kommentiert Andreas Wolf also die Ankündigung seines jüngsten Sohnes und denkt, wir werden schon sehen. Die halbherzige Zusage und der verschwiegene Zweifel kommen bei seinem Sohn an wie ein Segen für seine Zukunft. Eines Tages wird er sich darauf berufen.

2

Major Spoerin steht in seinem Arbeitszimmer, hat den Uniformrock noch an, aber aufgeknöpft, den Kragen abgenommen. Die Hände hat er auf dem Rücken ineinander gekrampft, er starrt aus dem Fenster. Er war dabei, er hat vor dem Denkmal gestanden, als es enthüllt wurde, direkt neben seinem Duzfreund, dem Prinzen Wilhelm und dessem kleinen Sohn Max.

„Sorgen?“, fragte der Prinz seinen „Babbel“- und Zechkameraden, denn der Major sah abgespannt aus und verstört.

Dass der Major vor wenigen Wochen seinen um einiges älteren Bruder begraben hatte, hätte dem Prinzen geläufig sein müssen, wenn er etwas mehr Interesse aufbrächte für diese Stadt, zu der er gehörte, denn immerhin war der Bruder des Majors der Leiter des örtlichen Bahnhofs gewesen und als solcher durchaus auch ab und zu vorstellig im Schloss. Aber der Prinz ist ein Prinz von Gottesgnaden wie in alten Zeiten vor den Revolutionen, also ein Prinz von Geburt an, nicht aus Überzeugung, und als Berufung betrachtet er seinen Stand schon gar nicht. Als dritter Sohn steht er im Schatten anderer und kann dort ein ganz behagliches Leben führen. Sich auch mit bürgerlichen Militärs durch die Kneipen trinken und dabei schwadronieren über die Jagd, die Berliner Etablissements, die er regelmäßig und gerne aufsucht und die, wie ganz Berlin, Welten – wirklich, mein Lieber, Welten! – entfernt sind von Karlsruhe, diesem verschlafenen Operettennest mit all seiner bürgerlichen Behaglichkeit, seinem lobenswerten Mittelmaß, seiner Provinzialität.

 

„Ja, in der Tat! Sorgen.“ Aber will der Prinz wirklich wissen, was ihn bedrückt?

Der Tod des Bruders hat ihm vom einen auf den anderen Tag eine Familie beschert. Diese brüderliche Familie, diese Hinterlassenschaft, die Witwe und die beiden Kinder, ein Mädchen und ein Junge, liegt nun auf den gestrafften Schultern des Majors. Er hat seine Schwägerin immer bewundert für ihre heitere Ausgeglichenheit, mit der sie gegen das schwere Blut seines Bruders und gegen dessen düstere Skepsis anhielt. Nun aber scheint sie ihm unerreichbar. Sie schlägt die Augen nieder, wenn er sie um ihre Meinung bittet, errötet gar wie eine Jungfer, sie spricht nur das allernötigste mit ihm und mit ihren Kindern. Stundenlang sitzt sie am Klavier. Bach-Präludien perlen wie romantische Elegien durch die verschlossene Tür. Ganz selten auch singt sie mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme „Ach, ich habe sie verloren“ oder singt sie „ihn verloren“? Hat sie ihn geliebt? Den um vieles älteren Mann, diesen ein bisschen sturen, fadengeraden Beamten?

Jetzt jedenfalls lebt sie in seinem Haus, in seiner Wohnung. Die Kinder sind für zwei Wochen bei Verwandten in Mannheim. Das Mädchen hat seinen freien Tag. Er öffnet das Fenster und lässt die milde, warme Sommerluft ins Zimmer wehen. Dann setzt er sich und windet seine Füße am Stiefelknecht aus den engen Lederschäften, wirft den Uniformrock auf eine Stuhllehne, wechselt Hemd und Hose. Mit festem Griff öffnet er die Tür, schnell hinüber über den Flur, ein kurzes Klopfen, dann betritt er das Wohnzimmer.

„Gertrude, wollen wir spazieren gehen?“

Sie gehen oft spazieren. Sonst mit den Kindern zusammen. Aber heute nur zu zweit.

Schnell erreichen sie den Stadtrand. Obstbäume säumen den Erdweg, das Gras ist gelb, die Wiesenblumen lassen schon die Köpfe hängen. Es hat schon viele Tage nicht mehr geregnet. Die Luft ist eine warme Hülle, die die innersten Impulse nach außen lockt.

„Bist du zufrieden mit deinem Leben, Gertrude? Vermisst du ihn?“ Ruhig geht sie neben ihm her. Wird sie ihm antworten?

Sie hat ihm geantwortet, ein erstes Wort gefunden als Brücke zum Schwager. Es ist ein Liebespaar aus ihnen geworden. Für eine gewisse Zeit. Und nach etlichen Jahren soll sie ein Kind erwartet haben von ihm. Damit war der Schein gesprengt, die Wohlanständigkeitsfassade zerbrochen. So machte sie sich eines Tages auf, nahm nur ihre Handtasche mit und einen Schirm und fuhr mit dem ersten Zug am frühen Morgen zurück in ihre Heimatstadt Mannheim. Dort wusste sie einen Ort, den sie geliebt hatte als Kind, dorthin zog es sie, sie packte sich Steine in die Manteltaschen und überließ sich langsam dem grauen Wasser, ohne oder mit Gewissensbissen, denn ihre Tochter hätte die Mutter noch gebraucht. Sie war jung und schön und musste sich doch einen Mann wählen, oder sich wählen lassen. Wer also konnte sie nun beraten, welcher der richtige für sie wäre?

Der Sohn vermisst sie, die Tochter vermisst sie. Dann fordert das Bewusstsein der eigenen Lebendigkeit seinen Tribut, das Leben geht weiter.

Zwei Waisen sind nun also zurückgeblieben. Gertrude Annas Sohn hatte gerade auf Anraten des Majors, seines Onkels, die Schule mit dem Einjährigen beendet, um eine kaufmännische Lehre bei einem angesehenen Betrieb zu beginnen. Der Onkel hatte seine Beziehungen spielen lassen. Gertrude Annas Töchterchen war bereits als junges Mädchen eine Schönheit, ihr Haar hatte einen warmen Goldschimmer, die Augen etwas Kesses, sie war schlank und doch rundlich dort, wo es gebraucht wird, sie war intelligent genug, zu schweigen, wenn sie nichts wirklich Wichtiges zu sagen hatte, und zu reden, was den anderen gefiel, sie konnte sticken, häkeln, stricken, sie war musikalisch, spielte Klavier, besser als all ihre Freundinnen, und sie hatte eine schöne, warme Sopranstimme. In der Tanzstunde folgten ihr die Blicke der am Rande aufgereihten Mütter mit Respekt, der schon fast in Neid umschlug, es sei denn, diese Mütter hatten auch noch einen wenige Jahre älteren Sohn, für den man Vorschau halten musste. Immerhin, sie war eine Waise, aber doch die Tochter des Bahnhofsvorstehers und Nichte des Majors, den man im Dunstkreis des Hofes gesehen hatte.

3

Die 48er-Revolution des 19. Jahrhunderts wirkte in Karlsruhe kaum nach. Ein paar Gesetzesretuschen ergaben sich, aber wer sprach darüber? Das Heer der Armen, die klagend durch die Straßen zogen, passte nicht hierher. Die Bevölkerung, auf die es ankam, das satte Bürgertum, blieb dem Hof treu, und diese Treue prägte das Klima in der Stadt.

Die Karlsruher Bürger sahen auf die großherzogliche Familie mit Stolz und Achtung, sie kopierten manches und distanzierten sich von vielem, was sie dort sahen, das war der Bürgerstolz, das war auch das Selbstbewusstsein der Handwerker, mit ihrer Hände Arbeit und gekrümmtem Rücken das Leben der hohen Damen und Herren wesentlich mitgestalten zu können, wenn es vielleicht auch nur um das Funktionieren der Wassertoilette oder des elektrischen Lichtes ging.

Die Karlsruher Bürger schielten auch nach unten, bestaunten das wachsende Proletariat, welches sich in den schnell aufschießenden Häuserblöcken der „Bahnhofsvorstadt“ einrichtete und rasch vermehrte.

Man sah auch auf die „Künstler“, das Theater mit den Schauspielern und Musikern. Man sah auf die Maler und Bildhauer, die Schriftsteller. Viele von ihnen kamen in Anzügen, mit Hut und Spazierstock daher, gerade so wie die Beamten und die Herren Fabrikbesitzer. Bürgerlich.

Karl Spoerin und seine Schwester Elisabeth, die beiden Kinder der durch Selbstmord geendeten Schwägerin des Majors Spoerin, essen, trinken, leben.

Karl findet mühelos Zugang zur Jeunesse dorée der Stadt. Da treffen sich Bürgersöhne, der heranwachsende Adel, Geldadel und die Söhne und Töchter jener Handwerker, die schon kleine Unternehmer sind. Beamter zu sein ist eine gute Sache, Beamtenwaisen haben keine goldenen Betten, aber sie besitzen alles, um sich weiterhin selbstbewusst in ihrer Schicht zu bewegen: die richtige Erziehung und den äußeren Schein.

Karls Charme, sein gutes Aussehen, die Tatsache, dass er um sich Fröhlichkeit und gute Laune verbreitet, machen ihn zum gern gesehenen Gast bei vielen „Gesellschaften“ in Privathäusern und halbprivaten Zirkeln. Er kann Klavier spielen, singt dazu, auch eigene Vertonungen frivoler oder frecher Verse, und besitzt den Takt, seine Darbietungen exakt der Stimmungslage seines Publikums anzupassen, ihrem Alkoholpegel, der Wärme ihrer Wangen, ihres Blutes. Er hat ein Gespür dafür, wie viel er wagen kann, und seine Wagnisse liegen immer gerade so viel vor dem Mut der anderen, dass diese ihn dafür bewundern.

Oft nimmt er seine hübsche kleine Schwester mit, hält ihr die Ohren und Augen zu, wenn es einmal allzu toll zugeht, bringt sie nach Hause, bevor er mit seinen Zechkameraden noch einem „Etablissement“ zustrebt, wo man einen angeregten Abend in eine Nacht münden lässt, in der sich alle bürgerlichen Vorbehalte in blauen Dunst auflösen.

Irgendwann einmal treffen die Spoerin-Geschwister auf Albert Wolf. Auch er hat inzwischen den Vater verloren. Die Familie hat heiße Tränen um den geliebten, sanften Andreas Wolf geweint, seine Witwe hat dafür gesorgt, dass er einen guten Platz bekommt auf dem neuen Friedhof.

Albert sollte nach dem Einjährigen in die Fabrik zum Onkel.

„Nein“, hat Albert gesagt, „ich will Maler werden. Der Vater war damit einverstanden. Er hat’s mir zugesagt.“

Keiner weiß davon, aber man hält für wahrscheinlich, dass es stimmt, denn erstens hingen die zwei aneinander wie Zucker und Zimt, zogen immer Hand in Hand miteinander aus, um die Natur zu bestaunen, und lasen sich gegenseitig Gedichte vor; und zweitens ist der Albert ein grundanständiger und ehrlicher Bursche, er würde nicht lügen; und drittens wirft die Fabrik inzwischen so viel ab, dass man sich einen Künstler in der Familie durchaus leisten kann.

Also darf Albert zuerst die Kunstgewerbeschule besuchen und lernt dort Technik, Perspektive, zeichnen, malen, drucken, Gipsmodelle fertigen und Umgang mit Holz, mit Stein, alles von Grund auf wie ein Handwerk. Seine runden Hände, die kräftigen, biegsamen Finger schmiegen sich um den Werkstoff, packen ihn, um ihn zu formen; den Stift und den Pinsel hält er, indem er Zeige- und Mittelfinger auf den Stift stützt und ihn sich damit sichtbar unterwirft.

Er besteht mühelos die Aufnahmeprüfung der Akademie. Jetzt hat er einen Ruf ans Hoftheater erfahren und wird dort in den Theaterwerkstätten als rechte Hand des technischen Direktors Ludwig Dittweiler für das Herstellen der Kulissen mitverantwortlich sein. Eine feste Stelle! Jetzt fehlt ihm nur noch eine Frau.

Als er Karls Schwesterchen das erste Mal sieht, ist sein Schicksal besiegelt, so drückt er es aus. Sie ist wunderschön, sie ist lieb und sie lächelt wie ..., nicht wie ein Engel, eher wie Susanna in Figaros Hochzeit oder Adina im Liebestrank, so ein ganz kleines bisschen kess, herausfordernd. Aber wenn ihr einer nahekommt, das hat Albert schon bemerkt, dann schlägt sie die Augen nieder, weil sie ein anständiges Mädchen ist. Neben der Arbeit im Theater, den Entwürfen für die nächsten Opernpremieren, neben den Dekorationen für den Hof und seine große Neujahrsgesellschaft wälzt Albert nun Möglichkeiten, wie er sich ihr nähern kann.

Die Tochter der Gertrude Anna fühlt sich wohl in ihrer Haut, das sieht man ihr an, aber nicht immer in Gesellschaft. Einmal hat sie da gestanden und auf die Freundin gewartet, die sich noch einmal pudern musste, da hörte sie hinter vorgehaltener Hand zwei Matronen tuscheln.

„Das Schennerle hat ja einen Verehrer. Ist das nicht der Sohn vom Bahnhofsvorsteher Spoerin? Der soll sich doch ...“

„Nein, das ist anders. Sie, seine Frau, soll sich ... ist ins Wasser gegangen. Mein Gott, als ob‘s keine dezentere Lösung gegeben hätte. Das ist doch was für Dienstmädchen, das Wasser.“

„Wo kam sie eigentlich her, seine Frau? Nicht von hier.“

„Nein. Eine Fremde. Von Mannheim, glaub’ ich.“

„Ach so! Aber der Sohn ist ein hübscher, netter Kerl. Intelligent, strebsam. Arbeitet bei ‚Junker und Ruh‘. Und soll sich schon einen Namen dort gemacht haben.“

„Also glaubst du, er hat Chancen bei der kleinen Printz?“

„Das glaub ich sicher. Die Jenny ist die dritte Tochter. Und die Brauerei geht sowieso an den Sohn.“

„Aber das Mädchen, die Schwester vom Karl. Sie muss darauf schauen, dass man ihre Mutter ganz vergisst. Sonst sehe ich ziemlich schwarz für sie.“

Plötzlich steht sie da vor den beiden Matronen, macht einen Knicks und schlägt die Augen dabei nieder. Die Musik hat gerade aufgehört, alle sind ein bisschen erschöpft vom Tanzen, vom Schwätzen, vom Trinken.

„Guten Tag“, sagt sie. „Ich bin Lise, die Tochter von Gertrude Anna Spoerin, geborene Mayer, aus Mannheim.“ Dann rafft sie ihre Röcke, greift nach dem Fächer, der an einem rosa Seidenband lose an ihrem Handgelenk baumelt, und öffnet ihn geschickt mit einer schnellen Wendung der Hand. Sie eilt durch den Raum und hält da und dort an, wo andere Frauen und Männer beieinander stehen, sie knickst und sagt ihr Sprüchlein auf, und irgendwann steht sie auch vor den jungen Burschen, die sich um den Flügel scharen, um ihren Bruder Karl. Albert steht auch bei ih-nen, hat gehofft, dass die Schwester die Nähe des Bruders suchen würde und er im allgemeinen Gewimmel auf sie stoßen könnte. Wie zufällig. Er sieht die Röte in ihrem Gesicht, er sieht ihre Augen schimmern, sieht, dass die zierliche Hand, die mit überschnellem Geflatter den Fächer führt, im ellenbogenlangen Glacéhandschuh zittert. Da tritt er an sie heran, greift ganz zart ihren Ellbogen, und bevor sie zu Ende gesprochen hat, zieht er sie weg, hinaus auf den Balkon, stellt sich neben sie, schweigt, wartet, bis sie sich wieder gefasst hat.

„Schenken Sie mir den nächsten Tanz?“

Sie sieht ihn an, ihr Blick kommt wie von weit. Sie sieht ihn das erste Mal, sein Lächeln mit geschlossenen Lippen, die Augen, die humorvoll blitzen. Sie spürt seine Konzentration auf ihre Wünsche, spürt, wie er alles, was er will, zurückhält und nur auf ihre Zustimmung wartet.

„Ja!“, lächelt sie zurück.

Das ist der Anfang. Sie hat das Startsignal gegeben.

Jetzt kann Albert mehr wagen, kann ein Kuvert abgeben in ihrem Haus. „Das muss das Fräulein sofort erhalten.“ Die alte Mina nickt und tut, was ihr der junge Herr sagt.

Die Tochter der Gertrude Anna öffnet das Kuvert und sieht ein großes Blatt, darauf mit Feder in schwungvoller Schrift ein Gedicht. Um die Zeilen ranken sich Maiglöckchen und Vergissmeinnicht, winzig kleine Blütenblättchen. Lise berührt sacht mit den Fingern die Farbe, die sich ihr spürbar entgegenkräuselt, sie nimmt das Blatt näher ans Auge und sieht, was schimmert, ist nur ein Tupfer Grau, ein Tupfer Weiß, winzige Farbpünktchen, es können höchstens zwei oder drei Pinselhaare gewesen sein, die das vollbracht haben. Er ist verliebt in mich, denkt sie, und er ist wirklich ein Künstler, dazu noch ein lieber, freundlicher Mensch, ein sanfter Mann, nicht gerade ein Adonis, doch mit diesem breitrandigen Hut und dem Anzug aus bestem Tuch macht er eine gute Figur. Außerdem gehört er zu einer der angesehensten Familien der Stadt. Lise, die Tochter der Gertrude Anna, lächelt in sich hinein, ist stolz und vergnügt. Es gibt keine Mutter, keinen Vater, denen sie das beichten müsste, damit sie auf das Wohl ihrer Tochter schauen könnten, denn was zwischen einem Mann und einer Frau passiert, muss bestimmte Formen einhalten, und Eltern denken immer gleich an Heirat. Lise will erst einmal die Anbetung all ihrer Verehrer genießen und sich dann den besten aussuchen. Der Onkel ist so abgerückt in seinem Studierzimmer, er wird lange nicht merken, dass es hier einen ernsten Bewerber gibt, wenn der Karl mich nicht verrät, denkt sie. Sie nimmt die Karte und legt sie zwischen ihre Wäsche in den Schrank.

 

Schöne Menschen stehen anders im Leben. Bevor sie „ich“ sagen oder denken können, erfahren sie so viel Zuwendung, dass sie in eine Hülle von Anspruchsdenken und Erwartung verpackt daher kommen.

Lina Schuberg, die beste Freundin der Lise Spoerin, erfährt als Einzige von Albert Wolf. Da gesteht sie Lise in einem traulichen Gespräch beim Spaziergang unter duftenden Bäumen, wie sehr verliebt sie sei in Karl, Lises Bruder. Das wäre doch schön, wenn sie in einer Doppelhochzeit vereinigt werden könnten.

„Ach Gott Lina, sei nicht so romantisch! Schlag dir den Karl aus dem Kopf. Der passt überhaupt nicht zu dir. Er ist in die Jenny Printz verliebt und die wird er auch heiraten. Sie sind schon heimlich verlobt.“

Lina beißt sich auf die Lippen. „Aber er hat ja noch nie richtig mit mir gesprochen. Er kennt mich doch nicht wirklich.“

„Eben, siehst du. Er bemerkt dich nicht und sein Kopf ist voll von Jenny, der ‚Printzessin‘.“ Für die schöne, stolze Tochter von Gertrude Anna ist das Thema damit erledigt. Vielleicht zieht sie die Freundin ab und zu noch auf: „Na, immer noch Liebesschmerz wegen meinem Bruder oder hast du inzwischen ein anderes Herz erobert?“

Lina schweigt und leidet – die Freundinnen sind entzweit. Wenn sie einander begegnen, zufällig, haben sie einander nichts mehr zu sagen. Höfliche, kurze Briefe, die in Kenntnis setzen über die großen Veränderungen in ihrem Leben, sind alles, was die beiden noch verbindet. Lina begräbt ihren verletzten Stolz, ihren Schmerz über die Aussichtslosigkeit einer innigen, einseitigen Liebe tief in ihrem Herzen. Ihre Freundin macht sich keine Gedanken darüber. Irgendwann, viel, viel später wird Lise herabfinden von ihrem hohen Ross.

Für Lise Spoerin und Albert Wolf beginnt die Zeit der Werbung. Billets werden einander zugesteckt, worauf man sich verschlüsselt Hinweise gibt, wo man sich das nächste Mal treffen kann, und man trifft sich in Begleitung all der anderen jungen Leute, die Feste feiern, die zusammen durch die öffentlichen Gärten der Stadt promenieren, den Tiergarten, den Stadtgarten. Sie spazieren zum Schützenhaus in den Hardtwald, trinken dort Apfelmost und singen Lieder, haken sich ein und schunkeln im Takt der Musik hin und her. In der Dämmerung kann man auch mal richtig nah zusammenrücken, und verstohlen findet eine kleine Hand in eine große, warme mit kräftigen, biegsamen Fingern, die diese kleine Hand packt, um sie zu besitzen.

Für Albert war es eine ernste Sache vom ersten Blick in Lises Augen, für Lise war es noch ein Spiel, sie war gerade achtzehn geworden.

Karl mag den Albert, weil ihn jeder mag, man muss ihn einfach mögen. Karl wäre der Albert lieber für die Lise als jeder andere seiner Spießgesellen, denn von den anderen weiß er zu viel, hat sich zusammen mit ihnen rumgetrieben dort in plüschigen Hinterzimmern der Stadt und hat ihre zotigen Witze mit angehört. So einen will er sich nicht mit der Schwester im Tête-á-tête vorstellen; deshalb macht Karl dem Onkel Spoerin, dem Major, schließlich eine Andeutung, und der richtet es ein, dass sein Spaziergang ihn wie zufällig am Haus in der Karl-Friedrich-Straße vorbeiführt, wo die Schwestern Alberts eine Niederlassung der Parfümeriefabrik führen, ein schönes Geschäft mit den edelsten Accessoires aus aller Welt und dazwischen Kaloderma-Seife, der Verkaufsrenner der eigenen Produktion. Der Major betritt das Geschäft, kauft einen Schildpattkamm und lässt sich die neuen Nagelpolierpolster zeigen. „Aus dem Leder ungeborener Ziegen, mein Herr“, sagt die nicht mehr ganz junge Frau; das muss wohl eine der Besitzerinnen sein. Sie bedient ihn, ohne dabei dienstbar zu sein. Stolz trägt sie den Kopf, die Schultern sind gestrafft und ihr Blick sagt: Du und ich auf gleicher Ebene.

Also gut. Der Albert Wolf darf kommen, sich beim Major vorstellen.

Lange sprechen die zwei im Studierzimmer miteinander. Lise ist nicht da, sie erfährt es erst später, als der Onkel sie zu sich ruft und die Stirn in Falten wirft, lange herumdruckst, bevor er herausrückt mit seinem Anliegen.

„Den Albert Wolf, magst du den?“

„Ja sicher. Der ist lieb. Er malt so schön. Und tanzen kann er auch gut.“

„Lisele, der Albert will dich heiraten. Ich sag dir was. Du bist noch jung und es gibt viele Burschen mit schönen Augen und einem strammen Rücken hier. Ich sehe schon, dass sie um dich schwirren wie die Motten ums Licht. Aber das sag ich dir, der Albert, das ist ein ganz besonderer Mensch. Und wenn so einer will, dann soll man nicht lange überlegen. Es könnte sein, dass man nur einmal im Leben so eine Chance hat!“

Also sagt sie Ja und es wird die Verlobung der Lise Spoerin mit Herrn Albert Wolf angezeigt auf schönem Büttenpapier mit Reliefdruck, der ein Maiglöckchen und ein Vergissmeinnicht darstellt, die sich ineinander schlingen.

Jetzt können die beiden sich auch ohne die Eskorte der anderen jungen Leute in der Öffentlichkeit zusammen zeigen und bewegen und können auch hinaus ziehen in die Wiesen vor der Stadt, wo Albert seine Staffelei aufbaut und Lise malt, wie sie ihn anschaut; das rote Sonnenschirmchen hält sie schräg über den Kopf.

Zu Hause hat Lise jetzt viel zu tun. An ihre Aussteuer war bisher nur sporadisch gedacht worden, da fehlt wirklich die Mutter! Aber jetzt, unter Anleitung ihrer zukünftigen Schwägerinnen, die sie sofort ins Herz geschlossen haben und die sich freuen auf diese Hochzeit, füllt Lise ihre Truhe mit Bett- und Tischwäsche, mit Geschirr und Silberbesteck, Messerbänkchen, Zuckerzangen, Eislöffeln und Etagèren. Dann gehen die Brautleute zu Julius Weinheimer, dem Möbelladen, und betrachten dort die Schränke und Betten. Aber nichts gefällt Lise. Die Betten hätte sie gern anders, lieber mit diesen und jenen Schnörkeln, und den Sekretär für ihr Boudoir natürlich in Mahagoni, glänzend, mit vielen kleinen Schubladen und einem Geheimfach. Sicher, das versteht Albert, er kennt sich aus in solchen Dingen. Oft genug hat er mit dem Dittweiler zusammen die Kulissen für die nächste Festvorstellung so geplant, dass die großherzogliche Familie ihren Spaß beim Wiedererkennen von einzelnen Requisiten haben kann, das heißt, er kennt das fürstliche Mobiliar in- und auswendig. Bei solchen Aktionen muss man mit äußerster Vorsicht handeln. Die Anspielung muss eine Huldigung sein. Also darf zum Beispiel der Sekretär der Gräfin in Figaros Hochzeit, an dem sie das Schreiben verfasst – „Wenn die sahanften A-habendlü-hü-hüfte ...“ –, natürlich nicht, das ist ja klar, dem Sekretär Ihrer Hoheit auch nur im Entferntesten gleichen, sonst könnte man ja vermuten, dass der Großherzog wie der Graf gern auf fremden Weiden grast, nein, das geht natürlich nicht, und das weiß der Albert Wolf. Er erzählt seinem „Bräutchen“ alles, was er weiß und was er erlebt. In ihr sammelt sich Stolz über ihren zukünftigen Mann, der so eng mit dem Hof verbunden ist. Bei diesen Gesprächen kann sie auch seinen Humor kennenlernen, seine Empfindsamkeit, auch seine Empfindlichkeiten, seine zarte Seele. Und wenn sie sich verabschieden, küsst sie ihn auf den Mund, atmet dabei den Duft seiner Haut ein, ein bisschen Farbe, ein bisschen Eau de Toilette aus der Familienfabrik und das bisschen Albert darunter, das sie sehr mag, obwohl es fremd ist für sie.