Seifengold

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Seifengold
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Über dieses Buch

Es geht um Millionen. Gold wird unterschlagen, aus dem Land geschmuggelt, gewaschen, eine Schweizer Bank bietet ihre Dienste an. Ein paar wenige scheffeln ein Vermögen. Die Hände schmutzig macht sich kein Reicher, den Dreck erledigen andere.

Der kenyanische Kriminalbeamte Tetu, in die Wüste strafversetzt, untersucht die Ermordung eines Geheimagenten. Die Spur führt in die Hauptstadt, im Dickicht der Stadt ermittelt er gegen eine Bande korrupter Politiker und deren weiße Beraterclique. Trotz Erfolgen scheitert er am Ende doch.

Der ehemalige Privatdetektiv Mettler, der seit ein paar Jahren in Lamu ein Hotel besitzt, steckt in privaten Schwierigkeiten. Sein Sohn Ali heiratet in der Schweiz, ein Kind ist auch schon da. Mettlers Freundin Alice reist in die Schweiz, sie will ihren Enkel sehen. Daß Ali und Alice sich vor einen Karren spannen lassen, der ihnen zum Verhängnis wird, kann Mettler nicht verhindern.

Eine Geschichte von zwei Enden angepackt, die wohl einen glücklicheren Ausgang nähme, fänden ihre Helden zusammen.


Foto Anne Buergisser

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen, -aufgewachsen in Belgien und der Schweiz, Schauspielstudium in Hamburg und Schauspieler u. a. in Basel, Bremen und -Berlin. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, 1986–1990 -Afrikaaufenthalt. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern.

Peter Höner

Seifengold

Limmat Verlag

Zürich

Seifengold. Goldseifen sind in Flußbetten, im Sand oder Kies zu finden. Das Gold kommt in Form von Staub, kleinen Körnern oder Klumpen (Nuggets) vor.

Aus dem ABC der Schweizerischen Bankgesellschaft: Begriffe rund um das Gold

Die Handlung des Romans ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und Firmennamen sind zufällig. Vor allem soll sich niemand dazu verleitenlassen, in Kenya nach Gold zu suchen.

1

Kurz vor Mitternacht entlädt sich das Gewitter. Der Regen trommelt auf die Blechdächer und schlägt den Staub zu Boden, den Windböen soeben noch um die Baracken fegten. Schon nach wenigen Minuten wird der Wüstensand in den Gassen und auf dem Markt zu Schlamm. Ein schmutziger Brei aus Abfällen und Dreck rutscht auf der Straße ins ausgetrocknete Flußbett.

Seit Tagen flackerten die schäbigen Häuserzeilen Lodwars Nacht für Nacht im Widerschein der Blitze, zuckte das dürre Schattengeäst der Baumriesen über den leeren Marktplatz. Doch die Wolken jagten über die Oase und stauten sich jenseits der Wüste vor einem Gebirge, dessen Flüsse im salzigen Sand versiegten.

Der Polizeichef von Lodwar, Robinson Njoroge Tetu, steht nackt am Fenster seiner Kammer und träumt in die Nacht hinaus. Der Regen hat ihn aus dem Bett gelockt.

Das Gewitter erinnert ihn an Lamu, wo der erste Sturm jeweils eine wahre Erlösung bedeutete. Nicht nur von der Hitze des Aprils. Die Hotels wurden geschlossen, und die Insel gehörte wieder den Einheimischen. Die wenigen Weißen, die in Lamu eigene Häuser besaßen, störten ihn nicht.

Ein Blitz schlägt in einen der Eukalyptusriesen unterhalb des Busbahnhofs. Das grelle Licht gespenstert mit den Fassaden der Hütten. Im Turm der Presbyterianer auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlägt die Glocke an.

Im kaltblauen Geflacker entdeckt Tetu eine Gestalt, die rasch näherkommt. Ihr Mantel flattert im Wind. Eine Hand über dem Kopf, den Oberkörper seltsam schief und nach vorne geduckt, hetzt ein Mann die Straße hoch. Er stolpert, strauchelt. Seine Hand fährt zum Rücken, greift in die Luft, verkrampft sich zur Faust. Er fällt, stürzt auf die Knie und kippt in den weichen Schlamm.

«Saufkopf, blöder!» brummt Tetu.

Der Mann rappelt sich wieder auf, stützt sich auf seine Ellenbogen und kriecht durch den Schlamm auf die nächsten Häuser zu.

«Gut, so ist es gut. Und nun mach, daß du weiterkommst.»

«Njoroge? – Was ist denn? Was brummst du? Warum stehst du am Fenster?» fragt leise und beunruhigt eine Frauenstimme.

«Nichts, es ist nichts. Ich schau' dem Regen zu.»

Die Frau schlüpft aus dem Bett und tastet sich durch die Dunkelheit. Der Polizist streckt die Hand nach seiner Wirtin aus und zieht sie an sich.

Der Regen rauscht auf die Oase nieder, eine Wassermusik, die alle übrigen Laute übertönt. Selbst im Zimmer riecht es angenehm nach feuchter Erde, nach nassem Holz, Rost und Staub.

Plötzlich und mit einem Schlag springt die Hüttentüre auf. Tetu und seine Freundin fahren auseinander.

«Was war das?»

«Der Saufkopf», murmelt Tetu. «Ich sah ihn vorhin durch die Straße torkeln.»

«Soll ich Licht machen?»

«Warte. Erst zieh' ich mich an.»

Tetu schlüpft in seine Hosen, angelt nach seinem Uniformhemd. Die Frau verknotet ein Tuch über der Brust. Dann sucht sie nach Streichhölzern und macht Licht. Tetu öffnet die Kammertüre.

Auf der Schwelle zwischen Veranda und Küche kauert eine Gestalt. Aus ihrem Rücken ragt der Griff eines Messers, eines Dolches, wie ihn die Nomaden der Wüste unter ihren Gewändern tragen. Das Gesicht liegt flach auf dem nackten Boden, Ziegendreck hängt in seinen Haaren, der durchnäßte Mantel, vom Schaft des Messers festgehalten, ist bis zum Kragen mit Fasern, Strohstückchen und winzigen Schmutzsplittern übersät, die sich im Gewebe des Stoffes verhaken.

Die Frau schreit und flüchtet ins Zimmer zurück. Tetu fährt dem Mann mit beiden Händen unter die Arme, reißt ihn hoch und zieht ihn ins Haus. Mit dem Fuß schlägt er die Türe zu und schleppt den Verletzten durch die dunkle Küche in die Kammer, wo er ihn, so wie er ihn unter der Türe gefunden hat, vorsichtig auf sein Bett legt.

Der Fremde stößt einen gurgelnden Laut aus. Blut stürzt ihm aus Nase und Mund. Von einem Hustenanfall geschüttelt, würgt er einen Klumpen hervor, endlos, ein zähflüssiges Band aus dunklem Schleim.

«Er braucht einen Arzt! Fatuma, schnell! Nein. Er erstickt. Wir müssen ihn umdrehen. – Los, so hilf mir doch.»

Tetu kippt den Verletzten zur Seite und stopft ein Kissen unter seinen Kopf. Blut und Schleim besudeln das Laken. Dann, jäh und ungestüm, bäumt sich der Mann auf. Ein Blutschwall schießt über Kissen und Bett. Er schreit:

«Lomazzi! Salvatore Lomazzi.»

Einen Augenblick später ist er tot.

Der Regen hat nachgelassen. Manchmal schüttelt ein Windstoß aus den Palmwipfeln eine letzte Tropfenkaskade und läßt sie auf die Dächer prasseln. Das Gewitter hat die Wolkendecke aufgerissen, und aus dem hellen Sturmfenster fällt ein schwaches Licht, gerade stark genug, um die Straße zu erkennen. Zwischen Pfützen und Schlammlachen hasten der Polizeichef von Lodwar und seine Freundin durch den Ort zum Krankenhaus. Sie holen Hilfe, einen Arzt, die Polizei. Damit man den Toten aus ihrem Hause schafft.

Seit der Gewitternacht hofft Robinson Njoroge Tetu auf einen neuen Fall. Eine Aufgabe. Doch heute, eine Woche nach dem häßlichen Tod des Mannes, weiß er kaum mehr als den ominösen Namen.

Er hockt in seinem Büro hinter Lodwars einziger Tankstelle gleich neben der Hauptstraße und spitzt seine Bleistifte.

Aus dem grauen Kraushaar des Polizisten lecken feine Schweißbahnen, kleine Bäche, die den Speckfalten seines Halses entlang fließen und im Kragen der Uniform versickern. Die Augen sind verquollen, die Lider gerötet. Selbst auf der Nase perlt der Schweiß.

Tetu ist nicht freiwillig hier. Weiß Gott nicht. Seine Beförderung zum Polizeichef von Lodwar war die Strafe für einen Erfolg, den niemand gewollt hatte. Zugegeben, er hatte sich schuldig gemacht. Zusammen mit Jürg Mettler. Eine Kompetenzüberschreitung. Er wurde vom Dienst beurlaubt und erwartete eine Geldstrafe. Aber Nairobi hat ihn in die Wüste geschickt. Buchstäblich.

Sein Freund Mettler hatte sich für ihn eingesetzt. Vergeblich. Auch Hemed S. Lali, der mittlerweile zum stellvertretenden Minister im Innenministerium aufgestiegen war, wollte seinen Einfluß geltend machen. Zu Mettler soll er allerdings gesagt haben, daß er Tetus Trotz nicht verstehe. Der Entscheid entspreche der gesetzlichen Praxis. Der Staat berufe seine Beamten und entscheide, wo sie gebraucht würden. Abgesehen davon sei Lamu doch nicht der Nabel der Welt.

Aber was zum Teufel soll er als Kriminalbeamter in Lodwar? In der Wüste. Was hat ein Polizist in einem Nomadenkaff zu tun?

Die Einheimischen haben ihr eigenes Recht. Von einem Polizisten aus der Hauptstadt halten sie nichts. Sie verstehen weder seine Sprache noch seine Gesetze. Wenn sie irgendwelche Händel haben, um Vieh oder Frauen, fragen sie ihre Chiefs.

Auch die Goldgräber und Lastwagenfahrer, die sich um Lodwars Huren streiten, brauchen die Hilfe des Kriminalbeamten nicht. Schlägereien, Raub, Betrug, ja selbst einen Mord regeln die Banden unter sich.

Alle sind froh, wenn er in seinem Büro am zerschlissenen Plastiküberzug seines Stuhles klebt, den Telefonapparat poliert und die Bleistifte spitzt.

Eine erste Untersuchung des Toten noch in der Mordnacht erbrachte wenig. Selbstverständlich war von Tetus Kollegen niemand bereit, die Ermittlungen zu übernehmen. Obwohl die Leiche auf seinem Bett lag, im Haus seiner Wirtin, und er nicht nur als Zeuge, sondern auch als Täter hätte in Frage kommen können. Doch das kümmerte in Lodwar niemanden. Selbst der Arzt der Krankenstation begleitete ihn nur widerwillig.

Auffällig war die Kleidung des Mannes. Mantel und Hose, obschon verdreckt und durchnäßt, waren von guter Qualität, die Schuhe kaum getragen. Tetu durchsuchte die Taschen des Mantels, der Hose. Alle Taschen waren leer. Er fand weder einen Ausweis noch sonst ein Papier, kein Geld, gar nichts. Dann fiel ihm der Ledergürtel des Mannes auf. Ein Uniformgürtel. Ein Gürtel, wie er seit Jahren an Polizisten und Soldaten abgegeben wird. Er öffnete die Schnalle des Gürtels und zog das Leder aus den Hosenschlaufen. Sollte der Gürtel einem Beamten gehören, so müßten auf seine Innenseite eine Nummer und die Initialen des Empfängers eingestanzt worden sein.

 

005 89-B / S.L. Sein Verdacht bestätigte sich. 005. Die Abkürzung für ihren Geheimdienst.

Tetu verfaßte ein Protokoll, das er sich vom begleitenden Arzt unterschreiben ließ. Danach wurde die Leiche weggebracht.

Auch die anschließende Befragung seiner Freundin Fatuma verlief so gut wie ergebnislos. Die Frau saß verstört in der Küche und starrte auf das besudelte Bett, in dem sie und Tetu vor kurzem gelegen hatten. Der Polizist fragte seine Wirtin, ob sie den Ermordeten kenne? Fatuma schüttelte entsetzt den Kopf und sagte:

«Ja, es heißt, daß er im ‹Eiffeltower› wohnt. Er kaufte Bananen bei mir.»

«Wann war das?»

«Vor … Vor drei Tagen. Er ging von Kiosk zu Kiosk und fragte nach den Goldgräbern. Den Lastwagenfahrern. Die Goldgräber würden die Einnehmer in Sigowa betrügen, weil sie ihr Gold an die Lastwagenfahrer verkaufen.»

«Ein Kontrolleur aus Sigowa?»

«Ja. Aus Sigowa. Er kommt aus Sigowa.»

«Und Lomazzi? Kennst du einen Lomazzi?»

Fatuma schwieg und wollte nichts mehr sagen.

Später hat sie das Haus verlassen und ist zu einer Bekannten gegangen. Bei dem Polizisten konnte sie nicht länger bleiben.

Es ist kurz nach zehn, und das Thermometer in der Polizeibaracke zeigt schon wieder über vierzig Grad. Mit zusammengekniffenen Augen, sich immer wieder den Schweiß aus dem Gesicht reibend, kämpft Tetu gegen die lähmende Glut, die ihm das Gehirn verstopft.

Zornig stemmt er sich aus seinem Sessel und stapft zum Fensterbrett.

Vor Wochen hat er im Kampf gegen die Langeweile eine Sammlung von Kakteen angelegt. Winzige Pflänzchen in sandige Erde gedrückt. Töpfchen, die er auf der Fensterbank hin und her und in die Sonne rückt. Eine Mühe, die ihm die stacheligen Dinger nicht lohnen. – Nie hätte er gedacht, daß Müßiggang ihn einmal derart drangsalieren könnte.

Selbstverständlich hat er den Tod des Geheimagenten der zuständigen Amtsstelle in Nairobi gemeldet.

Glücklicherweise hatte der Sturm weder die Telefon- noch die Telexleitung in die Hauptstadt unterbrochen. Die Bürodame, mit der er schließlich verbunden wurde, behauptete, ihr Vorgesetzter sei nicht da, und sonst gebe es niemanden, der für Todesfälle während des Dienstes zuständig sei. Überdies müsse ja auch erst einmal abgeklärt werden, ob der Mann wirklich ihr Mann sei.

«Lomazzi? Und wo soll der gewesen sein?» Und bestimmt zum dritten Mal erkundigte sie sich nach dem Namen der Oase, den sie sich nicht merken konnte. «… Selbstverständlich sind mir die verschiedenen Aufgaben der einzelnen Detektive nicht bekannt, ich bin nur die Sekretärin des Chefs. Aber daß einer unserer Leute in den Norden geschickt worden ist, kann ich mir nicht vorstellen. Was soll er dort?» Und geradezu entwaffnend fügte sie hinzu: «Wir können Ihnen erst sagen, wer der Tote ist, wenn Sie uns sagen, was da oben los ist.»

Tetu ärgerte sich. Die Sekretärin schien seine Meldung nicht ganz ernst zu nehmen. Ungehalten wiederholte er die Nummer des ermordeten Agenten und sagte:

«Vielleicht gibt es ja bei euch einen S.L. 89-B. Auch wenn ich nicht annehme, daß unser S.L. Salvatore Lomazzi heißt. Warum sollte mir der Mann seinen Namen sagen? Aber wenigstens das könnten Sie ja einmal feststellen.»

Die Frau, vorsichtiger geworden, vielleicht auch beleidigt, nahm, ohne weitere Ausflüchte zu machen, Tetus Personalien auf und versprach, die Angelegenheit ihrem Chef zu melden.

Das war vor einer Woche.

Gut, 24 Stunden nach seinem Gespräch wurde die Telefonleitung unterbrochen, kurz darauf brach auch die Telexverbindung zusammen. Trotzdem. Ein Wagen nach Lodwar braucht zwei Tage. Ein Einsatz, den er eigentlich erwartet hätte.

Unmittelbar nach seinem Gespräch mit Nairobi stürzte sich Tetu in die Arbeit. Woher kam der Mann? Was wollte er? Wie lebte er? Wo hatte er sein letztes Bier getrunken? Routine. In Nairobi vielleicht, in Lamu. Aber nicht in Lodwar.

Wo immer Tetu auftauchte, verschwanden alle Erwachsenen. Schlagartig. Frauen und Männer. Man machte sich aus dem Staub, verdrückte sich zwischen den Lattenzäunen der Hinterhöfe, versteckte sich in Rumpelkammern oder lief in die Wüste hinaus. Tetu fand immer wieder nur ein plärrendes Kind oder stand einem zahnlosen Greis gegenüber.

Das Hotel ‹Eiffeltower›, in dem der Fremde abgestiegen war, besaß einen guten Ruf. Das erste Hotel am Ort. Es war kein Bordell wie die meisten Herbergen der Oase, deren Räume an Dirnen und ihre Kinder vermietet wurden, und in deren Kneipen sich die Lastwagenfahrer mit den Goldgräbern rauften. Die bevorzugten Gäste des Wirtes waren die Ingenieure und Besucher des Balesa-Staudammprojektes. Auch Ärzte, Entwicklungshelfer und Journalisten, die sich von den Eindrücken des Bürgerkriegs im nahen Südsudan erholen wollten, bezahlten für ihre Ruhe. Und so fiel es dem Wirt des ‹Eiffeltowers› leicht, auf den zweifelhaften Kundenkreis der Lastwagenfahrer und Goldgräber zu verzichten.

Als Tetu das Lokal am Morgen nach der Ermordung des Geheimagenten besuchte, war niemand da. Er machte sich mehrmals mit ‹Hallo!› und ‹Ist hier jemand?› bemerkbar und entschloß sich dann, weil er keine Antwort bekam, das Hotel auch ohne Erlaubnis der Besitzer zu durchsuchen.

Die Hotelzimmer waren um einen schmalen Innenhof hinter der Gaststube gebaut. Zehn einfache Zimmer, fünf auf jeder Seite, die hinten durch Toiletten und Duschräume begrenzt wurden. Die Dächer ragten in den Hof hinein und wurden von mehreren Säulen abgestützt, so daß eine Art Klostergarten mit Kreuzgang entstand. Die Zimmertüren standen offen. Vor einem Teil der Räume lagen zerknüllte Bettlaken und Handtücher. In der Nähe der Dusche stand ein Karren mit einem Abfalleimer und ein paar Putzutensilien. Die Zimmer waren kleine, unbehagliche Räume ohne Fenster. Den Wänden entlang waren mehrere Holzpritschen aufgestellt, dazwischen standen wacklige Holzschemel mit Aschenbecher und einem Kerzenstummel. In fast allen Zimmern war von den vielen Betten nur eines benutzt worden. In keinem der Zimmer ließen sich irgendwelche Spuren ihrer Mieter finden. Die Räume waren bereits gereinigt, wenn auch mit jener Lässigkeit, die weder in Zimmerecken fährt noch die Betten anhebt.

Eine Untersuchung des Putzkarrens erwies sich ebenfalls als unergiebig. Ein paar leere Bierflaschen standen neben einem Plastikeimer. Zigarettenkippen und zerknüllte Belege bezahlter Rechnungen schwammen auf der trüben Brühe des Spülwassers. In einem Tontopf lagen ein zerbrochener Kamm, eine ausgepreßte Tube Zahnpasta, mehrere Seifenstückchen, ein Büschel verklebter Haare – wahrscheinlich aus einem Abfluß gefischt – und die aufgeschlitzte Verpackung eines Kondoms. Neben dem Eimer war ein Stoß Zeitungen aufgeschichtet, von denen die meisten bereits mehrere Tage alt waren. Hotelexemplare, die die Gäste mit aufs Zimmer nahmen und die fern der Hauptstadt auch Tage nach ihrem Erscheinen noch mit Interesse gelesen wurden.

Tetu entschloß sich, auf die Wirtsleute zu warten, ging in die Gaststube zurück und setzte sich an einen Tisch. Das Restaurant war winzig, ein düsterer Raum mit zwei kleinen Fenstern. Ein paar Tische und Bänke. In einer Ecke des Raumes eine Theke. An der Wand hinter dem Schanktisch eine Bierreklame: ‹Tusker Premium›. Darüber ein Jugendbild seiner Exzellenz des Präsidenten.

Nach etwa einer Stunde schaute ein kleiner Junge vorsichtig um den Türpfosten. Er spähte lange in den Raum, ohne sich hineinzuwagen. Tetu hockte regungslos hinter seinem Tisch. Er hoffte, der Kleine würde ihn nicht sehen und seinen Eltern melden, der dicke Mann sei nicht mehr da. Vergeblich. Der Knirps entdeckte ihn. Er drehte sich blitzschnell um und rannte davon.

Rund um das ‹Eiffeltower› hatte sich der Alltag längst wieder eingependelt. Aus den Kneipen und Läden der Hauptstraße schmetterten die Kassettenrekorder die immer gleichen Lingala-Schlager. Ziegen meckerten, Kinder plärrten, Besen wischten über die Vorplätze, Matten wurden ausgeklopft, und auf dem Marktplatz lärmten die Hupen der Taxis und Kleinbusse. Nur in Tetus allernächstem Umkreis blieb es still. Im Auge des Zyklons.

Kurz vor Mittag, Tetu wartete mittlerweile über drei Stunden, schlenderte ein junger Bursche vor den Fenstern vorbei. Er drehte sich plötzlich um, stemmte sich gegen den Türrahmen und grinste ins Restaurant. Zwei weitere Männer traten auf, von links kam eine Schar Halbwüchsiger, die am Türsteher vorbei in die Gaststube schlüpften. Dann näherte sich die Familie des Wirts. Seine Frauen. Und sein Vater, ein Chief. Ein schlanker, hochgewachsener Greis. Nur mit einer Toga und einem Lendenschurz bekleidet, die um die hageren Glieder schlotterten. Auf dem Kopf eine Kappe aus Lehm, Federn und Kaurimuscheln. Ein Häuptling der Turkana.

Von überallher drängelten nun Leute in den Raum und scharten sich um den Tisch des Polizeichefs. Sie starrten ihn an, als sei er ein katholischer Pater. Tetu blieb auf seiner Bank hocken und glotzte zurück.

Noch nie hatte er eine solch tiefe Abneigung gegen diesen Ort empfunden. Er sah lauter häßliche Menschen.

Zur Hälfte geschorene Frauenköpfe mit Zöpfchen und Federn im Haar. Männer mit Lehmhauben. Dreiste Gesichter mit schmalen, vom Wüstensand geröteten Augen. Die Ohren von Dornen und Knochen durchbohrt oder voller Ringe. Überall Spangen, Ketten. Die Frauen mit einem wahren Halskranz aus Glasperlen, Dreck und Muscheln. Dumm grinsende Münder mit ausgebrochenen Schneidezähnen. Hagere Körper mit Narben übersät, Verzierungen, die sie sich auf den Bauch und in die Arme schnitten.

Naserümpfend musterte er die notdürftig von Lumpen verhüllte Blöße der Männer, die nackten Brüste der Frauen. Lodwar, ein Reservat.

Tetu zeigte auf eine der wenigen Frauen, die bekleidet waren, und verlangte einen Tee. Die Frau lächelte ihn an und senkte den Blick. Er wiederholte seine Bitte. Die Frau rührte sich nicht. Sämtliche Köpfe drehten sich nun nach dem Alten um. Der Greis murmelte etwas, worauf die Frau mit gesenktem Kopf den Zuschauerring verließ.

Tetu stand auf und streckte dem Häuptling die Hand entgegen. Er begrüßte ihn in dessen Sprache. Der Alte erwiderte seinen Gruß, ohne freilich seine Hand zu nehmen. Ein Mißverständnis, das mehrere Männer dazu veranlaßte, Tetu begeistert die Hand zu schütteln. Der Turkana hielt nun eine längere Rede, von der Tetu kein Wort verstand. Danach verneigte er sich, gab einem seiner Leute ein Zeichen, verneigte sich ein weiteres Mal und verließ, ohne sich noch einmal nach Tetu umzuschauen, den Raum. Die meisten Leute folgten ihm.

Ein paar Frauen blieben, Kinder und der Mann, dem der Alte zugenickt hatte. Offensichtlich der Wirt. Er jagte die Kinder aus dem Haus und schickte die Frauen in die Küche. Er befahl, dem Polizeichef den gewünschten Tee zu bringen, verlangte ebenfalls eine Tasse und setzte sich zu Tetu an den Tisch. Mit dem Arm über die Tischplatte fahrend, als wolle er andeuten, daß nun über alles gesprochen werden könne, fragte er auf englisch:

«Was weiter nun?»

Tetu bat um eine Übersetzung der Ansprache, worauf der Wirt achselzuckend meinte:

«Das Geschwätz eines Greises. Er begrüßte Sie und wünschte Ihnen einen guten Aufenthalt.»

«Weiß er denn nicht, daß ich seit zwei Jahren hier bin, daß ich die Polizeistation leite, daß ich …»

«Doch, er hat davon gehört. Mein Vater ist einer der Chiefs. Er war ein bißchen beleidigt, daß Sie sich so lange nicht bei ihm gemeldet haben.»

Tetu schwieg. Man hatte ihm vor zwei Jahren geraten, sich mit den lokalen Führern zu verständigen. Er ließ sich von seinem Fahrer von Dorf zu Dorf kutschieren und begrüßte reihum alle alten Männer. Die Chiefs lernte er nicht kennen.

Die Frau brachte ein Tablett mit Tassen und Tee, schenkte ihnen ein und verschwand wieder.

Tetu fand, er dürfe nun, ohne deswegen als unhöflich zu gelten, zur Sache kommen, schließlich wollte er nicht viel mehr als eine Auskunft. Und ohne Umschweife fragte er, ob dem Wirt bekannt sei, daß einer seiner Gäste letzte Nacht mit einem Messer im Rücken auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben sei?

Der Mann, der eben noch fließend Englisch konnte, wollte plötzlich nichts verstanden haben. Er wischte mit seinem Arm über den Tisch, mehrmals, und wiederholte sein blödes ‹Was weiter nun?›. Eine Floskel, die er wohl für beschlagen hielt.

 

Kopfschüttelnd begann Tetu dem Mann aufzuzählen, was er über den ermordeten Agenten wußte. Langsam, Schritt für Schritt und auf Suaheli, immer wieder das begreifende Nicken und bestätigende ‹eh› des Mannes herausfordernd, um zu verhindern, daß sich der Schlaumeier anschließend wieder hinter seinem Nichtverstehen verstecken konnte. Schließlich, nachdem er auch den Ermordeten sorgfältig beschrieben hatte, fragte er, ob seine Beschreibung auf einen seiner Gäste zutreffe? Der Mann schüttelte den Kopf, rief die Frau, der er umständlich alles aufzählte, was ihm Tetu berichtet hatte. Die Frau nickte und verschwand wieder in der Küche, der Wirt sagte:

«Die Frau sagt, daß sie den Mann gesehen hat. Ob er hier übernachtet hat, weiß sie nicht, sagt die Frau, weil sie gestern bei einer kranken Schwägerin ausgeholfen hat. Und es war schon Mitternacht, und wegen des Gewitters ist sie nicht mehr nach Hause gegangen. – Ich war in Sigowa und bin erst heute morgen zurückgekehrt.»

«Und all das hat sie Ihnen soeben zugenickt?»

Tetus Spott ließ den Einheimischen zusammenfahren. Doch er gestattete ihm keine erklärenden Ausreden, sondern verlangte ungeduldig:

«Bringen Sie mir jetzt einmal Ihr Gästebuch. Ihre Unterlagen, die Übernachtungsanzeigen, Quittungen … Und rufen Sie Ihre Frau. Sie soll mir sagen, wo das Reisegepäck des Toten geblieben ist.»

Der Wirt rief nach seiner Frau, worauf die Frau in der Küche durch die Gaststube hetzte und aus dem Haus lief. Tetu verstand überhaupt nichts mehr.

Der Inhaber des ‹Eiffeltowers› fischte nun hinter der Theke nach einem Notizblock, einer schmierigen Kladde, in die sich bestimmt keine Gäste eingetragen hatten. Im besten Fall handelte es sich um einen Block mit Quittungen, ein paar Zahlen. Schreiben konnten diese Leute alle nicht. Der Wirt wälzte eifrig die Zettel des Blocks hin und her, knickte schließlich fast den gesamten Blätterwust um die Leimkante und streckte Tetu eine Quittung entgegen.

«Hier! Das ist die Unterschrift des Mannes. Drei Tage und drei Nächte war er unser Gast.»

Tetu schaute sich den Zettel gar nicht erst an.

«Wissen Sie vielleicht, was der Mann in Lodwar wollte? Wie er heißt? Was er gestern gemacht hat?»

«Nein. Alle unsere Gäste bezahlen im voraus, alles weitere …»

«Essen ihre Gäste hier?»

«Manchmal.»

«Hat der Ermordete hier gegessen?»

«Vielleicht.»

«Gehörte der Tote zu einer Hilfsorganisation?»

«Vielleicht.»

«Vielleicht! Manchmal, vielleicht! – Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, Sie Schlaumeier: Der Ermordete war von der Geheimpolizei. Er war hinter einer Bande von Betrügern her, die zusammen mit den Goldgräbern krumme Geschäfte machten. Er suchte einen gewissen Salvatore Lomazzi. – In seinen Unterlagen, die ich in seiner Manteltasche fand, entdeckte ich einen Zettel. ‹Eiffeltower! Im Auge behalten.› – Können Sie sich vorstellen, warum?»

Der Wirt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, er schmunzelte und goß Tetu einen Tee nach.

«Die Frauen kommen jeden Augenblick.»

Nach ungefähr einer Stunde kamen drei Frauen. Eine hatte einen kleinen dunkelbraunen Koffer bei sich. Sie legte den Koffer vor Tetu auf den Tisch. Der Wirt übersetzte. Das sei der Koffer eines Mannes, der gestern Abend noch einmal weggegangen und nicht mehr wiedergekommen sei. Seine Frau habe den Koffer heute morgen zur Polizeistation gebracht.

Tetu nahm den Koffer und stand auf. Er hätte die Frau gerne noch gefragt, warum sie den Koffer zur Polizei gebracht und ob sie gewußt habe, daß ihr Gast tot sei, und wenn ja, woher? Aber weil er weder vom Wirt noch von seinen Frauen eine vernünftige Antwort erwartete, fragte er nichts mehr. Er bedankte sich für den Tee und ging.

Der Koffer enthielt ein zweites Paar Hosen, drei Hemden, von denen zwei bereits schmutzig waren, Wäsche, einen Schlafanzug und einen Toilettenbeutel mit Seife, Rasierpinsel und Zahnbürste. Irgend etwas Schriftliches fand Tetu nicht.

Auch seine weiteren Versuche, in Lodwar etwas über den Toten zu erfahren, scheiterten. Auf dem Markt, in den Kneipen, nirgendwo fand er einen Menschen, der ihm etwas erzählen konnte oder wollte. Die meisten taten, als würden sie seine Fragen nicht verstehen. Andere, wie zum Beispiel die Lastwagenfahrer, die in der Oase ihre Löhne versoffen und verhurten, wurden wütend und beschimpften ihn.

Selbst von Fatuma erfuhr Tetu nichts mehr. Sie wollte nichts wissen, nichts sagen. Und Nairobi ließ ihn ebenfalls im Stich.

Am Morgen des vierten Tages entschloß er sich, zusammen mit seinem Adjutanten die Goldgräbersiedlung in den Bergen zu besuchen. Sein Fahrer war entsetzt.

Der Besuch einer Goldgräbersiedlung sei für einen Uniformierten lebensgefährlich. Die Dörfer gälten als Schlupflöcher für Wilderer, Deserteure, enttäuschte Lehrer, Arbeitslose und gescheiterte Politiker.

«Räuber, Mörder, ganze Banden verstecken sich in den Bergen. Sie kennen kein Recht und keinen Gott. – Ein Polizist mit unbequemen Fragen ist dort oben etwa so sicher wie eine Maus unter Füchsen.»

Doch Tetu bestand auf der Fahrt. Sie verpflichteten einen Einheimischen als Führer – einen jungen Turkana, der in Lodwar als Tankwart arbeitete – und beluden ihren Jeep mit einem zusätzlichen Maschinengewehr.

Der Weg in die Berge führte durch die Wüste. Sie rasten über harte Sandpisten quer durch die Ebene. Doch ohne ihren Führer hätten sie sich in den spiegelnden Flächen der Einöde schnell verfahren. Von einer Straße konnte keine Rede sein. Nur ab und zu stießen sie auf Fahrspuren, eine weichere Stelle im Sand oder eine kaum wahrnehmbare Senke, die sich als Furt durch eine ausgetrocknete Wasserader erwies.

Der Turkana hockte neben Tetus Fahrer und zeigte mit seiner Hand die Richtung an. Mit knappen Rechts-Links-Ausschlägen seiner Finger korrigierte er den Polizisten so lange, bis dieser den Wagen in die gewünschte Richtung gelenkt hatte, dann drehte er die Hand in die Waagrechte und deutete mit einem lässigen Schwung der gesamten Hand dem Fahrer an, daß er nun – immer geradeaus! – sein Tempo erhöhen könne. Manchmal streckte der junge Mann seinen Kopf durch das geöffnete Verdeck des Jeeps, stand auf und musterte die Landschaft. Ein junger Krieger unterwegs mit zwei dicken Polizisten in unbequemen Uniformen. Sie waren dem Turkana vollkommen ausgeliefert.

Nach zwei Stunden erreichten sie einen Fluß, der zu ihrer Überraschung ziemlich viel Wasser führte. Hinter dem Fluß schlängelte sich eine Schotterstraße ins Gebirge, und der helle, feste Sandboden verlor sich rasch zwischen einzelnen Lavabrocken, verschwand schließlich unter einer dichten Decke rotbraunschwarzen Schotters. Lavaschutt türmte sich zu Hügeln, durch die sich das rostfarbene Sträßchen in die Höhe schraubte, und im Einerlei der Steinwüste versanken die letzten Grasinseln. Nirgends zwängte sich noch ein Strauchgestrüpp durch die scharfkantigen Gesteinsbrocken der Wüstenei.

Die Straße war steil und schlecht befestigt. Schutt und Geröll rutschten unter den Rädern weg, und größere Blöcke mußten von Hand beiseite geräumt werden. Sie kamen nur sehr langsam voran. Immer wieder mußte der Turkana aussteigen und den Fahrer von Felsbuckel zu Felsbuckel lotsen, über eine ausgeschwemmte Rinne oder durch einen Engpaß. Sie verloren Zeit, schwitzten und fluchten viel.

Bevor sie die Hütten der Goldgräber sahen, rochen sie sie; einen stechend süßlichen Gestank nach Pisse, Scheiße und faulendem Kehricht. Nach einer doppelten Kehrschleife verbreiterte sich das Tal, und unmittelbar vor ihnen standen schief die ersten Hütten des Goldgräberdorfes. Schmutzige Plastikbahnen, alte Bleche, Tierhäute, zerschlissene Matten verwoben sich zu einem Geflecht von Wänden und Dächern, einem wahren Meer allerarmseligster Behausungen. Dicht zusammengedrängt und ineinander geschoben, sich aneinanderlehnend und doch ohne Halt, verstopften sie das Tal.