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Dr. Paul Plener:

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Aufgezeichnet von:

Dr. Silvia Jelincic

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz

ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-523-0

ISBN E-Book 978-3-99001-524-7

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

INHALT

Der Zustand der Jugend

Die übersehene Generation

Was wir tun können

Die Rolle der Politik

DER ZUSTAND DER JUGEND

»Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.« Dieses aus der Antike überlieferte Zitat, das vermutlich fälschlicherweise Sokrates beziehungsweise Platon in den Mund gelegt wurde, zeigt, dass sich schon seit Jahrhunderten die jeweils aktuelle Jugend aus Erwachsenensicht stets in beklagenswertem Zustand befindet. Sie wird immer fauler und kaputter, glauben auch heute vor allem die Babyboomer, also jene Menschen, die zwischen 1945 und 1964 zur Welt kamen und die gerade an der Reihe sind, Teenagern besonders kritisch gegenüberzustehen. Doch wer sich im dritten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends nach Christus mit der »Jugend von heute« befasst, dem drängt sich rasch ein weiterer Schluss auf: Sie wird psychisch immer instabiler. Psychische Erkrankungen breiten sich demnach unter jungen Menschen geradezu pandemisch aus und als Ursachen dafür gelten meist Smartphones, Soziale Medien, Broken Homes, steigender Leistungsdruck an den Schulen oder ein loser Umgang mit Alkohol und Drogen. Aber stimmt das so? Wie stand es um die psychische Gesundheit der »Jugend von heute« vor Ausbruch von COVID-19 und der damit verbundenen Lockdowns wirklich? Wohin ging die Entwicklung und was bedeutet »psychische Erkrankung« bei Kindern und Jugendlichen überhaupt?

Wir lesen, hören und sehen regelmäßig Berichte über steigende Zahlen an Depressionen, Essstörungen, Selbstverletzungen, Burnouts oder Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Die Meldungen sind so häufig und so eindringlich, dass sich viele ältere Menschen bereits fragen, wem sie diese Welt zur weiteren Verwaltung und zur Lösung ihrer Probleme eines Tages eigentlich anvertrauen sollen.

Studien scheinen die Jahrtausende alten Vorbehalte der jeweils Alten gegenüber der jeweiligen »Jugend von heute« objektiv abzusichern und besonders bitter scheint zu sein, dass diese Jugend nicht nur verwahrlost, unmoralisch und leistungsfeindlich ist, sondern medizinisch diagnostiziert gestört. Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden demnach an psychischen Erkrankungen und brauchen Psychiater, Psychotherapeuten oder Psychologen, um mit ihrem Leben noch irgendwie klarzukommen. Früher war es viel besser, glauben vor allem die Babyboomer, deren jüngste Vertreter allmählich das Rentenalter erreichen.

Als einer der Beweise für diese These gilt, dass die Nachfrage nach psychiatrischer Behandlung für Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren explodiert ist. Was tatsächlich stimmt, so viel sei vorausgeschickt. Dieses Faktum hält jeder Überprüfung stand. Die zuständigen Fachabteilungen der Krankenhäuser platzen aus allen Nähten und Kinder- und Jugendpsychiater sind überall dringend gesucht. Bloß lassen sich daraus leicht die falschen Schlüsse ziehen.

Junges Fach

Bei der näheren Betrachtung dieses Phänomens ist es wichtig zu wissen, dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die sich mit der Vorbeugung, Diagnostik und Behandlung von psychischen, psychosomatischen und neurologischen Störungen in der Kindheit und Adoleszenz befasst, in vielen Ländern ein noch relativ junges Fach ist. Psychiatrische Betreuung für diese Altersgruppe gab es auch schon früher, als Spezialfach mit eigenen Fachärzten existiert sie aber zum Beispiel in Österreich erst seit 2009.

Der Bereich ist also noch im Aufbau. Notwendige Infrastruktur, von Ambulanzen in Krankenhäusern bis zu niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern, kann nur langsam entstehen und lange fehlte es an politischem Willen, ihren Ausbau voranzutreiben. In den vergangenen Jahren kam etwas Dynamik in diesen Diskurs, doch vor allem die Ausbildung des benötigten Fachpersonals zieht sich hin.

In Deutschland ist deshalb der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine der meistgesuchten Fachrichtungen am Stellenmarkt. Österreich steht sich bei der Ausbildung auch noch selbst im Weg. Ein normaler Facharzt darf hier jeweils nur einen einzigen Assistenzarzt ausbilden, selbst Abteilungsleiter dürfen nur vier ausbilden. Deshalb waren in Österreich mit Stand Frühjahr 2021 nur knapp hundert Assistenzärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ausbildung. Mehr Plätze gibt es einfach nicht. Altersbedingte Ausfälle lassen sich damit ausgleichen, mehr geht nicht. Wenn dann auch noch Stellen für niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater entstehen, kannibalisiert sich das System selbst. Denn wer kommt dafür infrage? Nur die Fachärzte aus den Krankenhäusern, die dann dort zusätzlich fehlen.

Jedes fünfte Kind

Die Gesundheitssysteme Österreichs und Deutschlands sind also mit der Nachfrage nach kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung tatsächlich überfordert. Aber was sagt das über die Entwicklung der psychischen Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen aus? Geht es der »Jugend von heute« psychisch wirklich schlechter als den Jugendlichen von einst? Ist sie psychisch instabiler, weniger resilient, belasteter oder weniger gut in der Lage, Belastungen zu meistern? Ist sie von den Belastungen durch die Welt, in der sie lebt, einfach überfordert, in einem Ausmaß, das tatsächlich längst pandemisch ist?

In Österreich gibt es bisher nur eine aktuelle, epidemiologisch saubere Studie zu diesem Thema, die sogenannte MHAT-Studie, publiziert 2017. Sie besagt, dass etwa 22 Prozent der Schülerinnen und Schüler zumindest einmal an einer psychischen Erkrankung leiden. Das ist ein dramatischer Befund. Er bedeutet, dass mindestens jedes fünfte Kind beziehungsweise jeder fünfte Jugendliche in einem Klassenzimmer so stark betroffen ist, dass eine Behandlung notwendig wäre.

Wobei zu klären ist, was »psychische Erkrankung« überhaupt bedeutet: Genau wie eine körperliche Erkrankung bringt sie eine Funktionsbeeinträchtigung mit sich. Erkrankte Kinder oder Jugendliche können zum Beispiel aufgrund von Angststörungen oder Depressionen das Haus nicht mehr verlassen. Liegt keine Funktionsbeeinträchtigung vor, handelt es sich auch nicht um eine Erkrankung.

Wir sprechen also bei psychischen Erkrankungen nicht von kleinen Leiden wie psychischem Unwohlsein etwa durch vorübergehende Gefühle wie Bedrückung oder Wut oder vom Rebellieren, sondern von tiefergehenden Zustandsbildern, die sich zumeist der einfachen willkürlichen Kontrolle der Betroffenen entziehen. Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass man sich eben »nur zusammenreißen« müsste. Wäre es so einfach, würde wohl niemand an einer Depression leiden.

Bedeutet diese hohe Fallzahl an psychischen Erkrankungen, dass die Jugend in Österreich, dem Land, in dem Sigmund Freud die Psychotherapie erfand, besonders stark von diesem Phänomen und allen seinen Ursachen betroffen ist? Sind die österreichischen Kinder und Jugendlichen besonders »gestört«? Was zeigt der Vergleich mit Deutschland?

Die Werte in Deutschland entsprechen den österreichischen. Auch in Deutschland sind etwa zwanzig Prozent der Schüler während ihrer Schullaufbahn zumindest einmal von einer psychischen Krankheit betroffen. Und aus diesem grenzübergreifenden Vergleich lässt sich dank des umfangreicheren vorliegenden Datenmaterials noch ein weiterer äußerst interessanter Schluss ziehen.

Waagrechter Verlauf

In Deutschland reichen die Zahlen fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit. Deutschland misst die psychische Gesundheit seiner Jugend in verschiedenen Studien also bereits seit den 1970er-Jahren und kennt deshalb auch deren historische Entwicklung. Und wie verlief diese Entwicklung?

So alarmierend es auch sein mag, dass etwa ein Fünftel der Schüler mindestens einmal psychisch erkranken, so lässt sich doch sagen: Der Jugend von heute geht es in diesem Punkt genauso gut oder schlecht wie den Jugendlichen von früher. Das dürfte nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf Österreich und die meisten anderen mitteleuropäischen Länder zutreffen.

In den vergangenen fünfzig Jahren zeigten sich jedenfalls entgegen der verbreiteten Meinung keine nennenswerten Abweichungen von den aktuellen Fallzahlen. Die Prävalenz, also die Rate der zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum an einer bestimmten psychischen Krankheit erkrankten Kinder und Jugendlichen nahm in den vergangenen fünfzig Jahren weder zu noch ab.

 

Wir wissen also ganz unabhängig von Bauchgefühlen dank standardisierter, in der Allgemeinbevölkerung angewandter Messverfahren, dass der psychische Gesundheitszustand unserer Kinder und Jugendlichen seit fünf Jahrzehnten unverändert ist. Schon immer, auch als die Babyboomer noch die Schulbank drückten, waren in einer Klasse mit zwanzig Schülern mindestens vier mindestens einmal psychisch krank.

Wieso können dann die stationären, ambulanten und niedergelassenen Bereiche der Kinder- und Jugendpsychiatrie gar nicht schnell genug wachsen, um mit der steigenden Nachfrage mitzuhalten?

Geänderte Nachfrage

Das hat zwei Gründe. Erstens generiert das System von sich aus Nachfrage. Gibt es etwas nicht, kommt niemand auf die Idee, es zu nutzen. Ist es einmal da, wird es auch genutzt. Was gut ist. Denn das Leben sehr vieler Kinder und Jugendlicher, auch ihr späteres Leben als Erwachsene, kann sich so verbessern.

Der zweite Grund für die steigende Nachfrage nach Behandlungen ist die seit einigen Jahren laufende Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und entsprechender Behandlungen. Es wird allmählich genauso normal, sich bei Depressionen oder Essstörungen Hilfe zu holen wie bei Bauchschmerzen oder einem Beinbruch, und auch das ist gut.

Während Familien mit Migrationshintergrund vor allem der ersten Generation noch selten in unsere Abteilung kommen, tun sich autochthone Mitteleuropäer beziehungsweise Familien mit Migrationshintergrund der zweiten oder dritten Generation damit inzwischen sehr viel leichter. Die Nachfrage nach kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen steigt also auch, weil die Hemmschwelle im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten sinkt.

Früher haftete der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein Hauch von dunklen Gemäuern mit Zwangsjacken und Eisengittern an. Es ist tatsächlich gar nicht so lange her, dass psychisch kranke Menschen von der Gesellschaft ausgegrenzt waren, in einer Art Gefängnis landeten und als unheilbar galten. Dementsprechend konnten Sätze wie »Hol dir Hilfe« noch vor einigen Jahren nicht als freundlicher Hinweis, sondern als Beleidigung gemeint sein.

Doch inzwischen zeigt die moderne Psychiatrie insgesamt, wie sie ist und was sie kann. Allein die Möglichkeit, in einem freundlichen, modernen Umfeld mit gut ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten Probleme besprechen und Strategien entwickeln zu können, ist für viele betroffene Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien ein Segen. Hier können Eltern dann auch die für sie wichtigste Frage stellen: Wird mein Kind wieder gesund?

Behandelbare Krankheiten

Etwa die Hälfte der psychischen Erkrankungen, die über eine Lebensspanne hinweg auftreten, zeigen sich bis zum 14. Lebensjahr zum ersten Mal, 75 Prozent bis zum 25. Lebensjahr. Denn die ersten 14 beziehungsweise die ersten 25 Jahre im Leben eines Menschen sind der Zeitraum, in dem viele Umbauvorgänge im Gehirn gleichzeitig ablaufen. Vorgänge, die auch destabilisierend wirken und dadurch psychische Erkrankungen zum Vorschein bringen können. Auch deshalb ist Kinder- und Jugendpsychiatrie so wichtig.

Eine in diesem Alter behandelte Krankheit kommt im besten Fall gar nicht oder wenn, dann mit besser kontrollierbarem Verlauf wieder. Einschneidende, ungeplante und überraschende traumatische Erlebnisse können allerdings immer etwas wieder aufflammen lassen, was eigentlich schon geheilt und erloschen war.

Wie gut die Chancen auf Heilung stehen, hängt von der Art der Erkrankung, vom Kind selbst und den Familien ab, und davon, wie gut die individuelle Therapie anspricht. Wichtig ist außerdem genau wie bei körperlichen Erkrankungen die Früherkennung.

Beispiel Essstörungen: Etwa ein Drittel der Kinder, die daran leiden, steigt ohne weitere Probleme ins Erwachsenenalter ein. Ein Drittel hat immer wieder Rückfälle und bei einem Drittel bewegen sich die Patienten an der Grenze zu einer psychischen Erkrankung und haben immer wieder Probleme mit ihrem Essverhalten, können aber ohne grobe Einschränkungen leben.

Das für Betroffene oft stark limitierende Tourette-Syndrom etwa, das in der Symptomatik meistens zwischen dem 12. und dem 13. Lebensjahr auftritt, ist meist gut therapierbar und kann sich mit fortschreitendem Alter auch von selbst bessern. Bei Depressionen sehen wir einen Verlauf, der häufig mehrere Episoden aufweist. Etwa sechzig Prozent der depressiv erkrankten Kinder und Jugendlichen erleben als Erwachsene zumindest eine zweite Erkrankung dieser Art.

Doch selbst dann kommt es ihnen zugute, wenn sie als Kinder oder Jugendliche in Behandlung waren. Das versetzt sie später in die Lage, Frühwarnzeichen zu erkennen, darauf zu reagieren und schneller wieder zu genesen. Sie bewältigen die Situation häufig besser als depressive Erwachsene ohne Behandlung im Kindes- und Jugendalter, da sie ihre Symptome besser erkennen und unter Kontrolle bringen können.

Bei Angststörung begegnen wir häufig dem Phänomen, dass Erwachsene, die als Kinder oder Jugendliche an einer manifesten Erkrankung litten, auch in ihrem weiteren Leben eher ängstliche Charakterzüge beibehalten. Dennoch ist die Prognose, nicht mehr an einer funktionell beeinträchtigenden Angststörung zu erkranken, gut, wenn Betroffene die Mechanismen bei einer Therapie einmal erkennen und den Umgang mit Ängsten erlernen.

Eine Verlaufsprognose der Schizophrenie wiederum ist beim ersten Auftreten häufig schwierig. Manche Kinder und Jugendliche erleben einen einzigen Schub. Andere erleben mehrere Schübe hintereinander, ehe die Symptomatik beendet ist. Bei wieder anderen zeigt die Erkrankung sägezahnartige Verläufe: Schub, Pause, Schub, Pause und so weiter.

Im Bereich der ADHS lässt sich beobachten, dass das Phänomen der motorischen Hyperaktivität mit der Zeit einer vor allem innerlich wahrgenommenen Gespanntheit weicht.

Daneben gibt es kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen aus dem Bereich der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, wie etwa die Erkrankungen aus dem Bereich des Autismus-Spektrums, in denen es durch Therapie und vielfach auch Training immerhin zu einer Besserung der Symptomatik (etwa in der Emotionserkennung) kommen kann.

Phänomen Labeling

Für viele Eltern geht der Verdacht auf eine psychische Erkrankung eines Kindes trotz der modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie noch immer mit einer Sorge einher, die den Ruf dieser Erkrankungen betrifft: mit der Sorge vor dem sogenannten Labeling. Denn psychische Erkrankungen sind gemeinhin noch immer schwerer einordenbar als eine Blinddarmentzündung oder ein Meniskuseinriss und die wenigsten Menschen wissen so genau, was eine konkrete Diagnose eigentlich bedeutet. Was wir nicht verstehen, macht uns Angst. Ein ganz normaler Prozess.

Eltern fürchten nun, dass ihre erkrankten Kinder so eine Diagnose als Label wahrnehmen könnten, das ähnlich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt. Die Kinder könnten glauben, dass sie anders sind. Sie könnten ihre Selbstwahrnehmung verändern. Sie könnten sich von nun an als »kranke« Person erleben und es gerade deshalb auch bleiben. Wie können wir solchen Bedenken begegnen?

Zunächst ist zu sagen, dass Diagnosen immer das Leben verändern können. Das gilt auch für körperliche Erkrankungen wie Asthma oder Diabetes. Dennoch sind Diagnosen immer ein Fortschritt. Denn in Wirklichkeit sind sie weder irgendeine Art von Stempel noch belastend oder auf andere Weise negativ. Eine Diagnose ist schlicht der erste Schritt zur Therapie. Und eine Therapie ist genau, was Patienten mit welcher Erkrankung und welchen Alters auch immer brauchen.

Manchmal dauert es auch, bis die richtige Diagnose vorliegt, denn Blutbefunde oder andere Messwerte, die eine Diagnose zweifelsfrei sichern, sind in der Psychiatrie kaum vorhanden. Eltern sollten sie also nicht als Niederlage oder Enttäuschung sehen, sondern als Durchbruch. Als Grund zur Freude und als Anlass zur realistischen Hoffnung auf Besserung.

Es kommt dabei nur darauf an, einfühlsam mit den Kindern und Jugendlichen umzugehen und ihnen zu helfen, ihre Diagnose richtig einzuordnen. Es geht um Offenheit, Ehrlichkeit und Authentizität. Sie müssen verstehen, dass eine psychische Krankheit eine wie jede andere auch ist, und dass es wie bei jeder anderen auch Möglichkeiten der Behandlung und Heilung gibt. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen müssen erleben, dass sie wegen so einer Erkrankung weder »komisch« noch »anders« als andere sind, sondern dass sie einfach Hilfe brauchen, und dass diese Hilfe zur Verfügung steht.

Fazit

Die gewachsene Nachfrage nach kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen liegt jedenfalls weder an explodierenden Fallzahlen noch daran, dass wir als Wohlstandsgesellschaft zunehmend verweichlichen, von Generation zu Generation immer unfähiger werden, mit unseren Problemen selbst fertigzuwerden oder uns in Hypochonder verwandeln, sobald es um unsere Kinder geht. Wir sehen in der gesamten Psychiatrie und speziell in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vielmehr einen Trend zur Normalisierung. Heute ist es zum Glück immer selbstverständlicher, sich Hilfe zu holen, und wenn letzte Schatten wie die Angst vor dem Labeling verschwinden, werden es noch mehr Menschen tun.

Wir müssen uns deshalb bemühen, auch psychische Krankheiten, die vielen Menschen immer noch Angst machen, von ihrem Stigma zu befreien. Wer würde mit einer Blinddarmentzündung oder einem gebrochenen Bein auch nur eine Sekunde zögern, damit zum Arzt zu gehen? Genauso selbstverständlich sollte es sein, sich Hilfe zu holen, wenn psychische Belastungen zu groß werden oder bei Kindern und Jugendlichen Phänomene wie Handyspielsucht, Essstörungen oder Selbstverletzungen auftreten.

Steigende Unsicherheit

Es gibt bei der schon jetzt steigenden Nachfrage allerdings noch einen interessanten Aspekt, den unter anderem die 16. sogenannte Shell-Studie dokumentierte. Diese Studie untersucht regelmäßig, wie die Generation der 12- bis 25-Jährigen in Deutschland aufwächst, welche Rolle Familie und Freunde, Schule und Beruf sowie Digitalisierung und Freizeit spielen und wie junge Menschen zu Politik, Gesellschaft und Religion stehen.

Es zeigte sich, dass die Verunsicherung von Eltern bei der Kindererziehung wächst. Mütter und Väter haben nicht mehr die Gewissheit früherer Generationen darüber, was richtig und was falsch ist, wie sie sich ihren Kindern gegenüber verhalten sollen, welche Freiräume sie ihnen lassen und welche Grenzen sie ziehen sollen, oder wie viel Aufmerksamkeit sie brauchen. Auch das kann die Nachfrage nach kompetenter Beratung und Betreuung erhöhen.

Das heißt nicht, dass Eltern inkompetenter werden. Überhaupt sehe ich auch diese Verunsicherung positiv. Denn der Verlust von Gewissheit und das Hinterfragen von Methoden und Entscheidungen geht meist mit einem Paradigmenwechsel und einer Entwicklung zum Besseren einher.

Denken wir an die »g‘sunde Watschn«. Jahrelang war es für Eltern ganz normal, ihre Kinder auf diese Weise zu züchtigen. Bis die aufkommende Diskussion über häusliche Gewalt zeigte, dass auch kleine körperliche Misshandlungen der kindlichen Entwicklung schaden und Schatten über ein ganzes Leben werfen können. Das haben unzählige Studien zu diesem Thema gestützt.

Eltern verstanden zum Beispiel, dass Kinder, die Gewalt als Ausdrucksmittel wahrnehmen, sie irgendwann selbst anwenden, und das, sobald ihre Körpermasse dafür ausreicht, durchaus auch gegen ihre Eltern. Die Notwendigkeit dieser Abkehr von Gewalt in der Erziehung begleiteten auch gesetzliche Maßnahmen. Gewalt gegen Kinder ist in Österreich seit dreißig Jahren und in Deutschland seit etwas mehr als zwanzig Jahren strafbar.

Aber wenn nicht über die »g‘sunde Watschn«, wie können wir dann Autorität ausüben? Das fragten sich viele Eltern. Sie landeten zum Beispiel bei etwas, das zurecht als grundlegende Voraussetzung dafür gilt und mit dem sich viele nun zum ersten Mal befassen mussten: bei der Authentizität. Sie erzeugt Autorität. Doch dann ging es weiter. Denn wie ist man als Vater oder Mutter authentisch? Indem man Dinge offen und ehrlich ausspricht zum Beispiel, aber das mussten Eltern, die oft selbst noch anders erzogen wurden, erst lernen.