Wenn sich der Himmel wieder öffnet

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Wenn sich der Himmel wieder öffnet
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Titel

Nicolas Koch &

Susanne Hübscher (Hrsg.)

WENN SICH DER HIMMEL

WIEDER ÖFFNET

Menschen mit Schicksalsschlägen erzählen



Copyright

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865064509

© 2012 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Die angeführten Bibelstellen folgen, soweit nicht anders gekennzeichnet, der Lutherübersetzung (1984)

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: shutterstock

Satz: BrendowPrintMedien, Moers

1. digitale Auflage 2013

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

www.brendow-verlag.de

Zitat

Nicht den Tod sollte man fürchten,

sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.

Marc Aurel

Auch wenn ich Leib und Leben verliere,

du, Gott, hältst mich;

du bleibst mir für immer!

Aus Psalm 73

Inhalt

Cover

Titel

Copyright

Zitat

Vom Umgang mit Verlust und Trauer. Eine Einführung

Thomas Klappstein

„Wir konnten dem Täter vergeben“

Sandra Schlitter

Herbstzeitlose

Fabian Vogt

Winterseele – Frühlingsherz

Christina Brudereck

Nicht das Ende der Liebe

Anne und Nikolaus Schneider

Etwas, das nicht ersetzt werden kann

Frank Bonkowski

Kinder, Kinder

Elke Werner

„Ich höre immer noch die Worte der Richterin in meinen Ohren“

Dave S.

„Aber was ist, wenn sie Dave dann doch töten?“

Elisabeth Deutscher

„Warum hast du mir das angetan, Gott?“

Heinrich Silber

Salome

Sabine Herold

Reich an etwas ganz Neuem

Sigrid Röseler

Sicher in der Liebe Jesu, sicher im Leib Christi

Adrian Plass

Gibt es ein Leben vor dem Tod?

Thomas Klappstein

Menschen am Abgrund Ein seelsorgerlicher Beitrag zu Verlust und Trauer

Harald Petersen

Vom Umgang mit Verlust und Trauer.
Eine Einführung

Von Thomas Klappstein

Es gibt Momente im Leben, da steht die Welt für einen Augenblick still, und wenn sie sich weiterdreht, ist nichts mehr, wie es war. So einen Moment haben die Menschen erlebt, die in diesem Buch zu Wort kommen. So einen Moment haben auch viele der Leser dieses Buches schon erlebt. So einen Moment erleben Menschen in besonderer Weise immer dann, wenn sie einen Verlust erleiden. Ob der Verlust eines lieben Menschen, der einen über viele Jahre begleitet hat, der Verlust der Gesundheit, die so vieles im Leben erst möglich gemacht hat, oder die Trennung von einem Ehepartner, mit dem man den Rest seines Lebens verbringen wollte ... Im ersten Moment steht man dem immer hilflos gegenüber. Es fällt schwer zu verstehen, warum dies so passiert ist.

Oft bohrende und schmerzende „Warum?-Fragen“ kommen einem in den Sinn, auf die es kein einfaches und eindeutiges „Darum!“ gibt. Eigentlich überhaupt keine Antwort.

Auch weil solche Verlusterfahrungen Momente sind, auf die man sich nicht wirklich vorbereiten kann, die eigentlich immer zu früh kommen. Ob nun absehbar oder unvermittelt. Die eine Lücke hinterlassen im Leben. Der Arbeitgeber braucht einen nicht mehr. Die Ehe, die „für immer“ halten sollte, ist nur noch ein Scherbenhaufen. Der Platz eines lieben Menschen bleibt leer, seine Stimme ist verstummt.

Man wird zum ersten Mal oder erneut mit dieser Tatsache und unumstößlichen Lebenswahrheit konfrontiert, die man in guten Zeiten so gerne ausblendet: Alle unsere Wege haben ein Ende.

Jedes Leben ist es wert, gelebt zu werden. Und jeder Verlust hinterlässt eine Lücke darin. Lässt Menschen die Endlichkeit schmerzlich spüren. Im ersten Moment mag man gar nicht so sehr an die Zukunft denken. Immer wieder geht man alte Wege, sucht alte Plätze auf; schwelgt in Erinnerungen an die Zeit davor, an all die Möglichkeiten, die man hatte. Und man spürt einen Stich in seinem Herzen. Nicht selten Einsamkeit. Man geht die alten Wege und hofft, dass der Weg für einen doch eines Tages weitergehen wird.

Doch bei jedem Abschied, egal, ob von einem geliebten Menschen, einer alten Umgebung, dem Ehepartner oder auch der eigenen Gesundheit, wird zugleich deutlich, wie kostbar das Leben ist. Es ist ein Geschenk, das jeder von uns für ein paar Jahre aus der Hand des Schöpfers, aus Gottes Hand, erhält. Und nach der Zeit der Trauer – deren Länge sehr individuell ist – wird man sich auch wieder über dieses Geschenk freuen können.

In der Phase unmittelbar danach hadert man aber nicht selten mit dem Schicksal. Da mag auch Wut sein und Unverständnis über so manche Dinge, manche Entwicklungen. In so einer Phase beten viele, weil Sie Antwort und Frieden suchen. Dieses Gebet kann manchmal eine einzige, bittere Klage sein. Aber trotzdem wird man spüren, dass es guttut. Der Schöpfer des Lebens hält so etwas aus. Es ist wichtig, Trauer zuzulassen. Auch seine Wut und sein Unverständnis mitteilen zu dürfen.

Zu gegebener Zeit wird man neben dem Schmerz ein zweites Gefühl spüren: Dankbarkeit. Dankbarkeit für gute Zeiten und Jahre. Und man wird froh darüber sein, dass einem unvergessliche Zeiten geschenkt worden sind. Die alte Lebenssituation, von der man sich nun verabschiedet, hat einen auf seine Weise geprägt und beschenkt. Etwas davon wird für immer zurückbleiben. Man darf Gott, den Schöpfer des Lebens, darum bitten, dass er einem, nach der wichtigen Zeit der Trauer, diese Gesinnung schenkt und erhält. Auch die Gedanken der Erinnerung. Denn solche Gedanken der Erinnerung bilden eine Brücke über das Leben hinaus. Sie sorgen für eine Art Verbindung und dafür, dass Erlebtes im Herzen bzw. in den Gedanken präsent bleibt.

Aber gerade in Verlustsituationen stellt sich dem Betroffenen auch die Frage nach dem, was am Ende bleibt. Mehr als nur Erinnerung. Das nicht vergänglich ist. Das keine Kündigung, kein Scheidungsanwalt und keine Krankheit einem nehmen kann.

Kafka hat einmal gedichtet:

„Das eigentlich Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit.“

Ein Auftritt, ein Leben, das die große weite Welt äußerlich scheinbar nicht verändert hat. Ein Tod, den in der Relation wenige zur Kenntnis nehmen. Das ist scheinbar oft die Geschichte vieler normaler Menschen. Man kann sich schon fragen, ob Kafka recht gehabt hat: Gibt es überhaupt irgendwas in unserem Dasein, das nicht vergänglich ist, das nicht der Vergessenheit anheimgerät?

Jemand anderes hat mal geschrieben:

„Gott wird das Gesicht eines Menschen auch dann noch sehen, wenn keiner mehr nach ihm fragt.“

Der Satz von Kafka stimmt dann nicht mehr, wenn einem der durch seinen Sohn Jesus Christus menschgewordene Gott ins Gesicht schaut. Denn in Jesus eröffnet er uns eine Perspektive, die über dieses Leben hinausgeht.

Wir tragen für den Schöpfer des Lebens längst ein unverwechselbares Gesicht, das er herausfindet und ansieht unter zahllosen anderen. Er freut sich über jedes Gesicht, das er entdeckt. Er möchte es entdecken. Mit all den Narben und Furchen, die das Leid darin gezeichnet haben. Und wenn sich die Nebelschwaden der Trauer und anderer Dinge lichten, kann man vielleicht auch wieder seins erkennen. Im Hier und Jetzt.

Und auch davon erzählen die Beiträge in diesem Buch. Wie Menschen erfahren haben, dass Gott sie anschaut. Wie sie ihn erlebt und sich neue Perspektiven aufgetan haben. Wie sich der Himmel wieder geöffnet hat.

 

Thomas Klappstein ist geboren und aufgewachsen im Großraum Hamburg. Gelernter Groß- und Außenhandelskaufmann, studierter Theologe, studierter Diplom-Verwaltungswirt. Ordinierter Pastor im Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden (MVFEG). Derzeit freiberuflich aktiv als Autor, Prediger, Presse- u. Öffentlichkeitsarbeiter, Redner, Trauerredner, Moderator. Lebt mit Frau Claudia und seinen zwei Kindern in Duisburg.

„Wir konnten dem Täter vergeben“

Mirco Schlitter war zehn Jahre alt, als er gegen Abend mit seinem Fahrrad unterwegs ist und nicht zurückkehrt. Fünf Monate später nimmt die Polizei einen 45-jährigen Mann fest, der die Beamten kurz darauf zur Leiche des Jungen führt. Mircos Familie sind gläubige Christen und Mitglieder einer Pfingstgemeinde. In diesem Beitrag berichtet die Mutter, Sandra Schlitter, wie sie das Unglück mit ihrer Familie erlebt und überstanden hat.

Von Sandra Schlitter

Es war ein Freitagabend, der 03.09.2010, an dem unser Mirco auf seinem Heimweg entführt wurde. Ich wollte am nächsten Morgen zur Arbeit gehen, als ich bemerkt habe, dass er nicht in seinem Bett liegt. Auch stand sein Fahrrad (das er niemals alleine lassen würde!!) nicht im Schuppen. Sofort schossen mir unzählige Fragen durch den Kopf: „Ist er bei seinen Kumpels? Was ist passiert?“ Ich habe zuerst seine Freunde angerufen, um mich schlau zu machen, ob er vielleicht über Nacht dageblieben sei. Fehlanzeige. Wir dachten daran, dass ihm vielleicht etwas passiert sein und er in einem umliegenden Krankenhaus liegen könnte. Also habe ich auch dort angerufen, aber wieder ohne Erfolg. Sofort sind auch mein Mann und Mircos Bruder mit dem Fahrrad losgefahren, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf ihn – oder sogar Mirco selbst – zu finden. Als auch das nichts brachte, habe ich mich an die Polizei gewandt, die sofort mit der Suche startete!

„Macht euch keine Sorgen, sondern wendet euch in jeder Lage an Gott und bringt eure Bitten vor ihn.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Familie im Hintergrund schon begonnen zu beten, dass es Mirco doch gut gehen möge und wir ihn so schnell wie möglich finden würden. Am Tag von Mircos Verschwinden stieß ich in meiner Morgenandacht auf Vers 31 in 2. Samuel 22: „Alles, was dieser Gott tut, ist vollkommen, und was der Herr sagt, ist unzweifelhaft wahr. Wer in Gefahr ist und zu ihm flieht, findet bei ihm immer sicheren Schutz.“ Dieser Vers hat mir Trost geschenkt und mich durch die folgende Zeit begleitet.

Nachdem wir Mirco vermisst gemeldet hatten, begann eine Zeit des Hoffens, Wartens und ständigen Bereitseins. Viele Polizeibeamte gingen bei uns ein und aus und nahmen Sachen von Mirco mit, damit die Spürhunde seine Fährte aufnehmen konnten. Ab Sonntagabend war dann die gesamte Familie zusammen: Vater, Mutter, Geschwister, Omas und Opas, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen haben unsere Sorgen gemeinsam im Gebet zu Gott gebracht. So wie es in Philipper 4,6 heißt: „Macht euch keine Sorgen, sondern wendet euch in jeder Lage an Gott und bringt eure Bitten vor ihn. Tut es mit Dank für das Gute, das er euch schon erwiesen hat.“ Der Vers hat sich seit meiner Taufe tief in mein Herz gebrannt. Diese Austausch- und Gebetsabende waren für uns als Familie prägende und wichtige Zeiten. Für die Kinder war es zudem gut, ihre Cousins und Cousinen da zu haben, so waren sie nicht so alleine.

Schon am ersten Tag nach Mircos Verschwinden fragte die Polizei an, ob sie sein Fahndungsbild in den WDR-Nachrichten bringen dürfte. Für uns war klar, dass wir das unterstützen, denn wir wollten Mirco ja so schnell wie möglich wiederhaben. Dass schon die Veröffentlichung seines Bildes so weite Kreise zieht und er sich in so viele Herzen brennt, hatten wir aber nicht gedacht. Wir bekamen von Menschen aus aller Welt Post, wo uns mitgeteilt wurde, dass sie in ihren Gemeinden/Kirchen für uns beten. Andere wollten durch Wahrsagerei oder Wünschelrutensuche etwas für uns tun. Mit diesen Dingen konnten wir uns natürlich nicht identifizieren.

„Wir haben mit herabgelassenen Jalousien gelebt, damit uns die Medienvertreter nicht durch die Fenster filmen.“

Es war in diesen ersten Wochen nach Mircos Verschwinden schwierig, einen normalen Alltag zu führen. Wir haben während dieser Zeit mit herabgelassenen Jalousien gelebt, damit uns die Medienvertreter nicht durch die Fenster filmen. Schon wenn man mit dem Hund rausgehen wollte, musste man erst schauen, ob keine Presse vor der Tür steht, die einen abfängt. Durch den Medienrummel war Mirco in aller Munde. Oft wurden dort Dinge verbreitet, die gar nicht wahr waren. Menschen, die uns überhaupt nicht kannten, meinten auf einmal, mit uns befreundet zu sein und der Welt irgendwas über uns erzählen zu müssen. Das war alles nicht so einfach. Aber wir durften es an unseren Vater im Himmel abgeben – und auch an den Opferschutz, der von Anfang an für uns da war. Zudem haben wir für die „SOKO Mirco“ gebetet, dass sie immer wieder Freude und Kraft für ihre Aufgaben haben. Gerne haben wir ihnen Fragen zu unserem Sohn beantwortet, um ihn ihnen näherzubringen. So hatten wir das Gefühl, auch etwas tun zu können.

Wir haben in dieser Zeit immer wieder neue Hoffnung geschöpft, dass Mirco zu uns zurückkehren würde, besonders, wenn neue Spuren auftauchten. Etwa als seine Hose oder sein Fahrrad gefunden wurde. Zudem gab es Hinweise auf den PKW des Täters. Auch aus der Bevölkerung gingen jede Menge Hinweise bei der Polizei ein.

Als dann die Herbst- und Winterzeit kam und wir noch immer keinen Hinweis auf den Verbleib unseres Sohnes hatten, haben wir uns für einen Fernseh-Appell entschieden. Irgendwas musste passieren. Wir hofften, der Täter würde sich vielleicht melden oder der Polizei wenigstens einen Hinweis geben. Der Auftritt im Fernsehen ist uns nicht leichtgefallen, denn alle Erlebnisse um den Verlust unseres Kindes kamen dabei wieder extrem hoch. Es fiel mir auch deswegen schwer, weil ich es nicht gerade gewohnt bin, vor der Fernsehkamera zu stehen. Alles war fremd, die Redakteure (die aber superlieb zu uns waren), das ganze Umfeld und dann der Gedanke, dass in ein paar Minuten die ganze Welt weiß, wer man ist. Aber ich habe es gemacht, weil es um meinen Mirco ging.

Wieder war die Reaktion überraschend stark. Jetzt war man geoutet, und die Welt hat mehr auf einen geschaut als vorher – denn jetzt hatten die Eltern ein Gesicht. Nach dem Appell kamen jede Menge Fernsehanfragen, die wir aber dankend abgelehnt haben, da wir uns nicht mit zu vielen Dingen belasten wollten.

„Es ist endgültig, Mirco kommt nicht mehr zu uns, sondern ist schon in seinem himmlischen Zuhause.“

Unser Gebet war natürlich immer, dass der Täter sich meldet oder wenigstens zeigen möge, wo Mirco ist. Dann kam der Tag der Festnahme, und kurz darauf hat der Täter die SOKO tatsächlich zur Leiche unseres Kindes geführt. Dafür sind wir dankbar, denn so konnten wir unter die Zeit des Wartens endlich einen Schlussstrich ziehen. Eine neue Phase des Verarbeitens konnte jetzt beginnen.

„Es ist endgültig, Mirco kommt nicht mehr zu uns, sondern ist schon in seinem himmlischen Zuhause.“ Dieser Gedanke hat uns ganz viel Trost gegeben – dass wir wissen dürfen, dass er von Anfang an bei unserem himmlischen Vater war und dass wir uns jetzt auf ein Wiedersehen mit ihm freuen können.

Die Beerdigung war ein großer Schritt des Abschiednehmens. So viele Menschen haben an uns gedacht. Uns wurde der Bibelvers aus Psalm 95,4 wichtig: „In Gottes Hand sind die Tiefen der Erde und die Höhen der Berge!“ Auch musste ich immer an Mircos Segnungsvers zur Geburt denken, aus Apostelgeschichte 5,29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“

Nach der Beerdigung kehrte langsam der Alltag ohne Mirco ein. Natürlich hat er eine große Lücke hinterlassen. Oft sind es Kleinigkeiten, die uns an ihn erinnern. Nun muss der Rasen selbst gemäht werden, und wenn ich dem Hund Wasser in den Napf fülle, muss ich immer an seinen Kommentar denken: „Mama, denk ans Saubermachen, sonst ist da so ein komischer Film.“ Mirco war einfach unser Praktiker und hat gerne mit angepackt. Auch ist es im ganzen Haus jetzt viel ruhiger, denn wo er stand und ging, hat er immer herumgeklopft, sogar mit dem Besteck am Esstisch. Er hat unsere Familie mit seiner lebhaften Art ganz schön geprägt und Wünsche und Ideen hinterlassen, mit denen wir uns immer wieder auseinandersetzen. Wir erinnern uns noch oft und gerne an ihn. Seine Geschwister vermissen ihn, jeder auf seine Art und Weise. Als wir beispielsweise vor einiger Zeit ein Trecker-Museum besucht haben, war Mirco natürlich Gesprächsthema, weil er Traktoren geliebt hat. So geht es uns bei vielen Dingen, die uns im Alltag begegnen. Wir tragen ihn in unseren Herzen, jeder mit seinen eigenen Erlebnissen und Gedanken.

„Wir konnten dem Täter vergeben.“

Ein halbes Jahr nach der Beerdigung kam es dann zum Prozess­auftakt, und eine neue Zeitspanne begann für uns. Wir mussten das letzte Jahr noch einmal durchleben und uns mit vielen schmerzlichen Dingen auseinandersetzen. Dennoch war es mir wichtig, den Prozess „live“ mitzuerleben, da es der Verarbeitung diente. Von dem ersten Tag an hatten wir für die Person gebetet, die unseren Mirco entführt hat, und Gott gebeten, ihm zu begegnen und an die Wahrheit heranzuführen. An jedem Prozesstag, wo wir da waren, haben wir dem Täter dann gegenübergesessen. Bis heute ist es für uns nicht nachvollziehbar, wie ein Mensch zu so einer Tat fähig ist. Dennoch konnten wir unserem Feind vergeben – was ihn aber nicht von Strafe freispricht. Das war eine bewusste Entscheidung und fiel uns auch nicht gerade leicht. Aber es lehrt uns schon das Vaterunser, wo es heißt: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir jedem verzeihen, der uns Unrecht getan hat“ (Matthäus 6,12).

Dabei hat uns auch geholfen, dass wir während der Zeit des Prozesses Gebet und Lobpreis nicht aus den Augen verloren haben. Bis jetzt fühlten wir uns getröstet und getragen von unserem himmlischen Vater. Viele Geschwister, Freunde und Fremde haben für uns gebetet und uns Karten und Päckchen zur Ermutigung und zum Trost geschickt. Ohne Gebet, Gottes Wort und Lobpreis würden wir heute nicht dort stehen, wo wir jetzt sind.

„Ich kann glauben, dass Gott Mirco ganz nah war.“

Die Menschen um uns herum haben in der gesamten Zeit erschrocken reagiert und konnten nicht begreifen, dass so etwas ausgerechnet uns passiert. Aus dem Umfeld kamen Fragen, und die häufigste lautete: Warum hat Gott Mirco nicht schon am Tatabend bewahrt und vor dieser Situation geschützt? Ich dagegen kann glauben, dass Gott Mirco ganz nah war. In Psalm 91,11 lesen wir, dass Gott seinen Engeln befohlen hat, uns zu beschützen, wohin wir auch gehen. Schon bevor Mirco verschwand, habe ich meine Kinder jeden Tag in Gottes Hand gelegt und um seinen Schutz gebeten – denn ich kann meine Kinder nicht immer vor allem bewahren und schützen.

Unsere Familien und Freunde haben uns ganz viel Hilfe angeboten und viel für uns gebetet. Auch Menschen, die wir nicht kannten oder kennen. Das ist einfach großartig, wie Gott Menschen eins machen kann im Gebet. Viele haben sich getröstet und gestärkt gefühlt, wenn sie uns persönlich gesprochen haben. Meist hat sich ihre zunächst negative Einstellung ins Positive gewandelt. Aber auch ein paar skurrile Begegnungen gab es ...

Zum Beispiel habe ich auf dem Weg zur Schule mal mit einer Mutter gesprochen, die total entsetzt war, „wie diese Eltern (gemeint waren wir) den Jungen (natürlich Mirco) einfach haben alleine fahren lassen können, ach, und dann ist die Mutter ja auch noch einfach schlafen gegangen, das geht ja gar nicht ...“ Als meine Jüngste, die auch mit dabei war, mich nur grinsend anschaute, wurde der Frau ganz anders, und sie fragte: „Was ist? Sind Sie etwa ... ?“ Ich antwortete nur: „Ja, ich bin die Mama von Mirco.“ Sie hat sich dann ein paarmal entschuldigt und plötzlich ganz anders gesprochen.

Dies ist kein Einzelfall. Oft kamen falsche Behauptungen von Menschen, die uns gar nicht kannten. Man wurde durch das, was an die Presse gelangt war (angeblich hatte unser 10-jähriger Junge einen Irokesenschnitt und war auf der Skateranlage verschwunden), in eine Schublade geschoben, die mit der Realität meist nicht viel zu tun hatte. Es kamen die tollsten Sachen zu Tage, bis hin zur Behauptung, Mirco sei nicht unser leibliches Kind. In diesen Situationen mussten wir lernen, uns nicht damit zu belasten, sondern uns an der Wahrheit zu orientieren.

 

Ein wichtiger Punkt in der öffentlichen Wahrnehmung war der Auftritt bei „Beckmann“, der einzigen Talksendung, zu der wir dann doch gegangen sind. Das Thema „Glaube trägt“ hatte uns zugesagt, und wir wollten vielen Menschen diesen lebendigen Gott näherbringen. Zudem war der Auftritt für uns der einfachste Weg, die vielen Menschen zu erreichen, die die ganze Zeit an uns gedacht hatten.

„Wir wollen und wollten vielen Menschen diesen lebendigen Gott näherbringen.“

Der Abend war natürlich mit Bauchkribbeln verbunden, aber wir durften in der Sendung „wir“ bleiben und haben uns nicht verstellen müssen. Die Reaktionen der Bevölkerung waren unterschiedlich, eigentlich war von allem etwas dabei. Die einen haben sich gefreut, uns im Fernsehen zu sehen und zu merken, dass es uns gut geht. Andere wiederum haben sich gefragt, warum wir uns das jetzt auch noch antun, irgendwann müsse doch mal ein Ende sein. Und nicht zuletzt waren viele angetan von unserer Stärke, was wir aber immer wieder an Jesus weiterleiten, denn er ist in den Schwachen mächtig (2. Korinther 12,9).

Es sind einige Dinge, die uns geholfen haben – und immer noch helfen –, die Zeit zu überstehen. Von Anfang an bis heute hilft uns der Glaube an Gottes Wort, Gebet und Lobpreis. Der Austausch in der Familie und das gemeinsame Gebet in der gesamten Zeit waren und sind prägende Zeiten. Unsere Gemeinde und die vielen Geschwister auf der ganzen Welt, die für uns gebetet haben und auch immer noch beten, möchten wir nicht missen.

Außerdem hat uns geholfen, unsere Kinder als Geschenke Gottes zu sehen und nicht als unseren alleinigen Besitz. Gott hat sie uns anvertraut, für eine unbestimmte Zeit. Er hat immer ein Auge auf sie, gerade dann, wenn wir es nicht können. Ich durfte und darf immer wieder lernen, meine Kinder in Seine Hände abzugeben.

Auch dass unser ganz normaler Alltag irgendwann weiterging, hat uns geholfen. Auszeiten, die von unseren Arbeitgebern gewährt wurden, waren sehr gut, und ebenso war hilfreich, dass wir den Zeitpunkt des Wiedereinstiegs bestimmen konnten. Die Kinder brauchten ihren Schulalltag und ihre Freunde. Aktuell dürfen wir alles sacken lassen und sind dankbar, mit unserer Familie an einem Ort des Friedens sein zu dürfen. An diesem Rückzugsort immer wieder aufzuatmen und Ruhe und Abstand gewinnen zu können, ist ein großartiges Geschenk. Auch Urlaube und Treffen in der Familie und mit Freunden helfen uns dabei, Abstand zum Geschehen zu bekommen.

Ich bin Gott dankbar, dass er uns auch vor Depression und Krankheitsschüben verschont hat. Immer nach vorne zu schauen und zu sehen, was ER auch im tiefsten Leid für positive Dinge tut und tun kann, ist uns ein großer Trost. Wir wollen es halten wie in einem alten Chorus, in dem es heißt: „Richte den Blick nur auf Jesus, schau auf in sein Antlitz so schön. Und die Dinge der Welt werden blass und klein, in dem Licht seiner Gnade gesehen.“

Die Verarbeitung hört natürlich nicht einfach irgendwann auf. Wir werden, so denke ich, unser ganzes Leben in einem Heilungsprozess sein, da natürlich immer wieder Situationen und Tage kommen, an denen wir an unseren Mirco denken oder uns fragen, was jetzt aus ihm geworden wäre. Diese Dinge wollen wir gemeinsam offen und ehrlich angehen. Das ständige Fragen nach dem „Warum?“ würde uns nur kaputt machen, deshalb fragen wir lieber: „Wozu, Gott?“

Für das Jahr 2011 habe ich einen Vers für Mirco aus Matthäus 24,13 gezogen: „Wer aber bis zu Ende standhaft bleibt, wird gerettet.“ Und das wünschen wir uns für die nächste Zeit, dass wir standhaft bleiben bis zum Ende. Und auch, dass Gott durch unser Zeugnis noch zu ganz vielen Menschenherzen reden kann und auch sie errettet werden. Wir freuen uns über Menschen, die jetzt schon einen Neuanfang und eine persönliche Beziehung mit Jesus begonnen haben.

Wenn ich Lieder singe oder Bibeltexte lese, wo es um Frieden geht, werde ich immer an meinen Mirco erinnert, da sein Name „Friede/Ruhm“ bedeutet. Dadurch hat folgender Vers für mich einen neuen Sinn: „Meinen Frieden gebe ich euch; einen Frieden, den euch niemand auf der Welt geben kann. Seid deshalb ohne Sorge und Furcht!“ (Johannes 14,27). Diesen Frieden durfte ich bis jetzt erleben und möchte das auch weiterhin erfahren. Ich bin Gott dankbar, dass er mir Sorge und Furcht nimmt.

(Die Bibelverse dieses Beitrags sind zitiert nach der „Guten Nachricht“.)


Sandra Schlitter lebt mit ihrer Familie in Grefrath und ist Mitglied einer Pfingstgemeinde.