Religion und Religionskritik

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Religion und Religionskritik
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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich


Dr. theol. Dr. h.c. Michael Weinrich ist Professor für Systematische Theologie, Ökumenik und Dogmatik an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied in zahlreichen ökumenischen Dialogen und Gremien der EKD (DÖSTA, Meißen-Kommission, Dialog mit der Orthodoxen Kirche), auf europäischer (KEK, GEKE) und auf Weltebene (ÖRK, RWB, jetzt: WGRK).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A.

Internet: www.v-r.de

ISBN 978-3-846-33453-9 (E-Book)

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-8252-3453-9 (UTB-Bestellnummer)

Hinweis zur Zitierfähigkeit

Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl hinter dem im EPUB zusammengeschriebenen Wort.

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Hinweis zur Zitierfähigkeit Vorwort § 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff 1. Ein grundlegender Bedeutungswandel

1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis 1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus 1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis

2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion

2.1 Definitionen 2.2 Wie sinnvoll ist eine Definition von Religion?

§ 2 Die Kritik der Religion 1. Die Aufklärung 2. Thomas Hobbes 3. Baruch de Spinoza 4. John Locke 5. John Toland 6. Voltaire 7. Jean-Jacques Rousseau 8. Gotthold Ephraim Lessing 9. Immanuel Kant 10. Der Idealismus

10.1 Johann Gottlieb Fichte 10.2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel

11. Kurze Zwischenbilanz

§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung 1. Die Neologie

1.1 Friedrich Germanus Lüdke 1.2 Johann Joachim Spalding 1.3 Johann Salomo Semler

2. Der Rationalismus

2.1 Hermann Samuel Reimarus 2.2 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 4. Philipp Konrad Marheineke 5. Kurze Zwischenbilanz

§ 4 Die Religionskritik 1. Eine vorläufige Begriffsbestimmung 2. Die philosophische Religionskritik 2.1 Religionskritik in der Antike 2.2 Die Aufklärung

2.2.1 Jean Meslier 2.2.2 David Hume und der Empirismus 2.2.3 Paul Thiry d’Holbach

2.3 Auguste Comte 2.4 Ludwig Feuerbach 2.5 Max Stirner 2.6 Friedrich Nietzsche 2.7 Philosophische Religionskritik im 20. Jahrhundert

2.7.1 Nicolai Hartmann 2.7.2 Helmuth Plessner 2.7.3 Ludwig Wittgenstein und die analytische Philosophie 2.7.4 Der kritische Rationalismus

3. Die gesellschaftskritische Religionskritik

3.1 Moses Heß 3.2 Pierre Joseph Proudhon 3.3 Karl Marx 3.4 Friedrich Engels 3.5 Vladimir Iljitsch Lenin

4. Die psychologische Religionskritik

4.1 Sigmund Freud 4.2 Theodor Reik 4.3 Wilhelm Reich 4.4 Tilmann Moser 4.5 Horst Eberhard Richter

5. Der radikale Existenzialismus

5.1 Albert Camus 5.2 Jean-Paul Sartre

6. Kurze Zwischenbilanz

§ 5 Die Ambivalenz der Religion 1. Differenzierungen im Umgang mit der Religion 2. Arthur Schopenhauer 3. Emile Durkheim 4. Max Weber 5. Ernst Bloch 6. Karl Jaspers 7. Karl Löwith 8. Kritische Theorie

 

8.1 Max Horkheimer und Herbert Marcuse 8.2 Theodor Wiesengrund Adorno

9. Vítězslav Gardavský 10. Kurze Zwischenbilanz

§ 6 Die funktionalistische Verteidigung der Religion 1. Die funktionale Konzentration der Religion 2. Die philosophische Verteidigung: Hermann Lübbe 3. Die soziologische Verteidigung

3.1 Niklas Luhmann 3.2 Peter Ludwig Berger

4. Die psychologische Verteidigung: Erich Fromm 5. Kurze Zwischenbilanz

§ 7 Religion als Thema der neueren Theologie 1. Theologiegeschichtliche Entwicklung und systematische Typologie 2. Religion als fundamentaltheologischer Ausgangspunkt 2.1 Religion als frommes Selbstbewusstsein: Friedrich Schleiermacher 2.2 Religion als Konstitution der sittlichen Persönlichkeit: Wilhelm Herrmann 2.3 Religion als anthropologisches Spezifikum

2.3.1 Otto Pfleiderer 2.3.2 Wolfhart Pannenberg 2.3.3 Paul Tillich

3. Die religionsgeschichtliche Schule

3.1 Ernst Troeltsch 3.2 Rudolf Otto

4. Theologische Religionskritik 4.1 Karl Barth 4.2 Das religionslose Christentum

4.2.1 Dietrich Bonhoeffer 4.2.2 Die Säkularisierung des Christentums 4.2.3 Dorothee Sölle

4.3 Helmut Gollwitzer 4.4 Hans-Joachim Kraus

5. Theologische Renaissance der Religion

5.1 Falk Wagner 5.2 Friedrich Wilhelm Graf 5.3 Wilhelm Gräb

6. Kurze Zwischenbilanz

§ 8 Die Religion und die Religionen 1. Zivilreligion

1.1 Civil Religion: Robert N. Bellah 1.2 Problemanzeigen

2. Wiederkehr der Religion?

2.1 Die Rückkehr der Religionen: Martin Riesebrodt 2.2 Problemanzeigen

3. Theologie der Religionen

3.1 Pluralistische Religionstheologie: John Hick 3.2 Problemanzeigen

4. Kurzer Ausblick

Ausgewählte Literatur Abkürzungen

Vorwort

Seit einiger Zeit – verstärkt nach dem 11. September 2001 – ist zu beobachten, dass die Religion wieder ein besonderes Interesse auf sich zieht und zwar weit über die mit ihr von Amts wegen befassten Zirkel hinaus. Damit wird eine Debatte (wieder-) belebt, welche die Neuzeit von ihren Anfängen an begleitet.

Der heute verwendete allgemeine Religionsbegriff hat seine Wurzeln in den unversöhnlichen Konflikten des nachreformatorischen Konfessionalismus. Die aus den Verwerfungen des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Konfessionen erwiesen sich als unfähig, für ihre gegeneinander stehenden Wahrheitsansprüche eine gemeinsame Ebene für eine produktive Auseinandersetzung zu finden. Es waren vor allem Philosophen und sich gegenüber den Kirchen emanzipierende Politiker, die im Zuge des um sich greifenden Elends, das die Konfessionskriege anrichteten, disziplinierend auf die Streitparteien einwirkten. Ohne sich in den Wahrheitskonflikt einzumischen plädierten sie für eine den Konfessionen übergeordnete allgemeine Ebene, der sich diese unterzuordnen hatten. Das war die Religion. Im Horizont des allgemeinen Religionsverständnisses ging es um Spielregeln, die auf ein gedeihliches Zusammenleben ausgerichtet waren. Alle Glaubensrichtungen sollten sich ihnen fügen, wenn sie ihre öffentliche Akzeptanz nicht gefährden wollten. Die Streitparteien sollten dazu gebracht werden, jenseits ihrer vorläufig unabgleichbaren Wahrheitsansprüche anzuerkennen, eine Religion zu sein, von der grundlegende Standards eines friedlichen Zusammenlebens im entstehenden modernen Nationalstaat nicht in Frage gestellt werden. – Diese Frage nach den Standards der Religion hat übrigens durchaus ihre Aktualität behalten bzw. rückt heute wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit, beispielsweise in der Diskussion um die Gewaltbereitschaft fundamentalistischer Orientierungen (nicht nur im Islam) oder über die Verfassungsgemäßheit von Scientology. Ein Schlüsselproblem bleibt das Verhältnis zwischen Religion und Rechtsstaatlichkeit.

Das vorliegende Arbeitsbuch führt in den neuzeitlichen Religionsdiskurs in seiner ganzen Breite ein. Sowohl die kritische Kraft des allgemeinen Regionsbegriffs gegenüber allen Selbstverabsolutierungen als auch die im 18. Jahrhundert vehement einsetzende Religionskritik werden in verschiedenen Facetten präsentiert, ebenso wie auch die verschiedenen Wege der sich gegen die Religionskritik behauptenden Religionsbegründung insbesondere seit dem 19. Jahrhundert. Dabei wird einerseits eine dem Gegenstand angemessene Differenzierung angestrebt, um nicht in konventionalisierten Typologisierungen stecken zu bleiben, wie sie sich etwa in der Religionskritik in der Kanonisierung von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud finden lässt. Anderseits bleibt das Arbeitsbuch weit davon entfernt, Vollständigkeit auch nur anzustreben. Es bemüht sich um eine differenzierte Exemplarität, die gelegentlich auch Positionen mit geringerer theoretischer Explorationskraft, aber einem einflussreichen Wirkungspotenzial berücksichtigt. Nicht selten sind es die popularisierenden Vereinfachungen, die neuen Differenzierungs- und Vertiefungsbedarf aufdecken bzw. geradezu aufdrängen. Deshalb können schwache Positionen bisweilen auch von einem hohen didaktischen Rang sein.

Die an Einzelpositionen orientierte Systematik des Buches stößt zum Ende hin mehr und mehr an ihre Grenzen, weil in der Gegenwart immer weniger einzelne Entwürfe und individuelle Religionsprofile die Diskussionen bestimmen als eben unterschiedliche Diskurse, die jeweils von verschiedenen Zuträgern leben. Eine systematisierende Präsentation kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Auch wäre diese angesichts des fehlenden Abstandes zu den gegenwärtig diskutierten Herausforderungen wohl zu sehr von eigenen Interpretationsoptionen geprägt. Gewiss greift der Anspruch auf eine vollständig neutrale Präsentation grundsätzlich zu hoch, aber im Blick auf die weiter zurückliegenden Debatten ermöglicht der größere Abstand aufgrund der bereits greifbaren Wirkungsgeschichte doch eine abgeklärtere Darstellung.

Die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln geben über die Benennung der jeweils eingenommenen Perspektive hinaus einige Interpretationshinweise, die auch indirekt eine Auskunft über die getroffene Auswahl der vorgestellten Positionen erteilen. Es empfiehlt sich nach dem Durchgang durch ein Kapitel die jeweilige Einleitung erneut zu lesen, weil davon ausgegangen werden kann, dass die dort gegebenen Hinweise nach dem Gang durch die einzelnen Unterkapitel im Blick auf ihre ganze Reichweite noch differenzierter verstanden werden können. Die jeweiligen kurzen Zusammenfassungen am Ende der Kapitel stellen vor allem einen Diskussionsvorschlag dar und sollen zu eigenen, auch abweichenden Wahrnehmungen anregen. Es handelt sich bewusst um ein Arbeitsbuch und nicht im strengen Sinne um ein Lehrbuch mit abgepackten und einfach zu reproduzierenden Wissenspositionen.

Wichtiger Hinweis: Die in Klammern gesetzten Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Literaturangabe in der jeweils letzten unmittelbar vorausgehenden Anmerkung. Im Fall von unvollständigen Literaturangaben in den Anmerkungen finden sich die vollständigen bibliographischen Hinweise im Verzeichnis der ausgewählten Literatur am Schluss des Arbeitsbuches.

Mein Dank für stets verlässliche Unterstützung dieses Projektes gilt Karen Lutz, Ulrike Scholz und Holger Domas als meinen MitarbeiterInnen am Lehrstuhl und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, vornehmlich Ulrike Gießmann-Bindewald und Jörg Persch für die kompetente und professionelle Begleitung.

Bochum, im Juli 2010

Michael Weinrich

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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff

1. Ein grundlegender Bedeutungswandel

Wenn wir heute den Begriff „Religion“ in einer sehr allgemeinen Bedeutung verwenden, unter den sich recht verschiedene Phänomene fassen lassen, so geht das auf einen Bedeutungswandel zurück, der sich sachlich vor allem im 17. Jahrhundert vollzogen hat. Der historische Grund für die Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs liegt vor allem in den teilweise unerbittlichen nachreformatorischen Aggressivitäten zwischen den Konfessionen. Unterschiedliche Wahrheitsansprüche standen sich gegenüber oder prallten weithin unversöhnlich aufeinander. Die konfessionellen Antagonismen gefährdeten den inneren und äußeren Frieden, was sich in besonders drastischer Ausprägung in den Konfessionskriegen zeigt, aber weit darüber hinausgeht. Die überkommene enge Verknüpfung von Religion und Wahrheit ließ sich nicht weiter festhalten. Vielmehr wurden an das Religionsverständnis neue Ansprüche gestellt, die den gegeneinander stehenden Wahrheitsansprüchen übergeordnet wurden. Der dafür verwendete, nun konfessionsübergreifend verstandene, zum Oberbegriff gewordene Religionsbegriff entspringt gleichsam dem Friedensbedürfnis gegenüber den von der nachreformatorischen Konfessionalisierung ausgegangenen Gefährdungen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der allgemeine Religionsbegriff seinen Ursprung weniger in der Theologie als vielmehr in der modernen Staatsphilosophie (→ § 2,2 Hobbes) hat.

 

1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis

Zur Unterscheidung vom neuzeitlichen Religionsbegriff verwenden wir für das bis dahin geltende Religionsverständnis den lateinischen Begriff religio. Der Blick in ein Wörterbuch instruiert über die beiden Hauptbedeutungen dieses Begriffs. Sie lassen sich einerseits auf „Bedenken, Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht“ und andererseits auf „Gottesdienst, Kultus, Heiligkeit“ konzentrieren. Darin deuten sich die beiden für unseren Zusammenhang bedeutungsvollen Dimensionen der Verwendung des Begriffs religio an:1

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1. Das Verständnis von religio war stets mit einem bestimmten Glaubensverständnis und dem damit verbundenen Wahrheits- und Legitimitätsanspruch verbunden. Es wurde zwischen ‚wahrer Religion‘ (religio vera) und ‚falscher Religion‘ (religio falsa) in Sinne einer Grenzziehung zwischen rechter und verkehrter Gottesverehrung unterschieden. In diesem Sinne steht religio für eine anzuerkennende Glaubensgewissheit (synonym gebraucht mit fides). Wenn Martin Luther schreibt: Extra Christum omnes religiones sunt idola2 (Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst), so liegt der Akzent auf den Vollzügen der Gottesverehrung. Religio wird synonym zu cultus gebraucht. Aller Kult sei so lange zu verdammen, wie er sich nicht allein auf den Glauben an Christus stützt.3 – Kommen andere Glaubensgewissheiten in den Blick, so wurden als Oberbegriffe vor allem secta oder lex verwandt. Von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam wurde als den tres leges gesprochen – ein Sprachgebrauch, der bis in Gotthold E. Lessings Nathan der Weise nachgewirkt hat, wo es heißt: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?“4

2. Mit religio wurde in institutionellem Gebrauch derjenige Stand bezeichnet, der seiner beruflichen Bestimmung nach die rechte Gottesverehrung repräsentierte, nämlich die Orden.

Noch für die Reformationszeit ist von diesen beiden Gebrauchsweisen von religio auszugehen. So stellt etwa Huldrych Zwingli seine grundlegenden Einsichten über den reformatorischen Glauben unter den Titel De vera et falsa religione commentarius (1525). Das gilt ebenso für die deutlich umfänglichere Dogmatik von Johannes Calvin mit dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion; letzte Fassung 1559). Es geht allein um die (reine) Lehre ([sana] doctrina) zur rechten Verehrung Gottes nach dem christlichen Glauben, ohne dass Calvin dabei auf die Idee gekommen wäre, eine interkonfessionelle oder gar interreligiöse Dimension ins Auge zu fassen. Die älteste Verteidigungsschrift des christlichen Glaubens, die religio im Titel führt, stammt von Augustin (um 390): De vera religione.

Die Etymologie von religio lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Der Religionswissenschaftler Carsten Colpe schreibt: „Das lat. Wort religio wird schon von den Alten verschieden abgeleitet, z. B. von Cicero (De natura Deorum 2, 28, 72) von relegere‚ (wieder)zusammennehmen (was sich auf die Verehrung der Götter bezieht)‘; und von einem beim Grammatiker Gellius (4, 9, 1) zitierten Etymologen von der Nebenform religere ‚rücksichtlich beachten‘; dagegen von Servius (ad Verg. Aen. 8, 349), Lactantius (Inst. 4,28) und Augustinus (Retract. 1, 13,9) von religare ‚zurückbinden, an etwas befestigen‘. Moderne Etymologen neigen der letzteren Ableitung zu (Wurzel lig- ‚binden‘); religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich ‚Verbindlichmachung, Verpflichtung‘. Daneben wird aber auch die Ableitung von leg- ‚sich kümmern um‘ vertreten; dann wäre religio etwas Ähnliches wie diligentia ‚Achtsam-keit‘. “5 Andere Religionswissenschaftler verzichten ganz auf eine Herleitung des Begriffs, nicht nur weil sie sich nicht tatsächlich klären lässt. Sie weisen darauf hin, dass eine inhaltliche |12◄ ►13| Ableitung den problematischen Eindruck erwecken könne, der Begriff lasse sich auch in nichteuropäische Sprachen übersetzen, um dann zur Selbstbezeichnung entsprechender Inhalte empfohlen zu werden. Die Reichweite des Religionsbegriffs wird dann ausdrücklich auf die europäische Religionsgeschichte begrenzt.6

1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus

Eine fundamentale Voraussetzung sowohl für die Neuzeit als auch für das neuzeitliche Religionsverständnis liegt in der Entdeckung der besonderen Herausgehobenheit und somit des von Gott ausgezeichneten Adels des Menschen, wie sie sich im Humanismus der Renaissance vollzogen hat. Die verschiedentlich vorgetragene Annahme, dass es bereits hier zu einer verallgemeinernden Neufassung des Religionsverständnisses gekommen sei, ist zwar nahe liegend, lässt sich aber nicht tatsächlich ausreichend belegen.7 Aber zweifellos kommt es im Humanismus zu Weichenstellungen, ohne die der allgemeine neuzeitliche Religionsbegriff nicht denkbar ist. Dies gilt vor allem für den mit Pathos vorgetragenen Aufbruch zu einem grundlegend neuen Selbstbewusstsein des Menschen.

Verstand sich der Mensch bisher als hineingestellt in eine fest gefügte, Gott gegebene Ordnung, so tritt er nun aus diesem Gefüge hervor und beansprucht die Freiheit zu eigener Gestaltung seiner Wirklichkeit. Es verbreitet sich ein Überdruss an den nur noch mühselig nachzuvollziehenden Entwicklungen der scholastischen Theologie des Spätmittelalters, die sich immer mehr in Detailfragen verlor oder eben ein spekulativ konstruiertes Wirklichkeitsverständnis propagierte, das sich nicht mehr mit den Erfahrungen der Menschen plausibel vermitteln ließ. Im Rahmen der zunehmenden Verrechtlichung der Kirche, die durch die Anzeichen des Humanismus dann noch beschleunigt wurde, verschärfte sich die Betonung der zu bewahrenden Tradition. Das führte zu einer rückwärtsgewandten Formalisierung der Autorität der Kirche, die sich einer rapide anwachsenden Kritik gegenübergestellt sah.

Gegen diese sich abstrahierende Autorität der Kirche kommt es im Rückgriff auf die Antike (deshalb Renaissance), wo die verstandesmäßige Durchdringung der den Menschen betreffenden Fragen an die Stelle der mythischen und symbolischen Erfassungsversuche der Weltwirklichkeit trat (Demokrit: „Der Mensch ein Kosmos im kleinen.“8), zu einer selbstbewussten Entdeckung des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit. Während in der Antike die hervorgehobene Anthropologie bis zur ausdrücklichen Kritik des Gottesglaubens reichte (→ § 4,2.1), gestaltete sich ihre Wiederentdeckung im Humanismus in einer teilweise massiven Kirchenkritik.

Im Humanismus wurde vor allem immer wieder der Vorwurf des Götzendienstes |13◄ ►14| erhoben. Petrarca, Boccaccio, Michelangelo, Raffael, Budé, Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam heben gegenüber den Gängelungen von Seiten der Kirche die im Menschen liegenden Begabungen hervor. Dabei steht die über die Natur erhobene Freiheit im Zentrum, die den Menschen dazu befähigt und auch autorisiert, die Welt zu gestalten und zu beherrschen. – Das Epochejahr 1492 symbolisiert dabei sowohl den gefeierten Aufbruch (Entdeckung Amerikas, die Konstruktion des ersten Globus von Martin Behaim) als auch die Ambivalenz des für sich selbst in Anspruch genommenen Pathos (Beginn des Kolonialismus, Vertreibung der Juden aus Spanien).

Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494) war von der Idee durchdrungen, dass es eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Philosophie und recht verstandener Glaubenslehre gebe. Er befand sich im permanenten Konflikt mit der Kirche, wurde aber kurz vor seinem Tod rehabilitiert.

In das Epochejahr 1492 fällt möglicherweise auch eine wirkungsgeschichtlich bedeutungsvolle Schrift (Datierung bleibt unsicher, wahrscheinlich allerdings erst posthum 1496) des italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola mit dem Titel De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) – „eines der edelsten Vermächtnisse“ der Renaissance.9 Diese Schrift soll als Exemplum der „dignitas-hominis“-Literatur ein Licht auf den Neuaufbruch des Humanismus werfen. Pico verstand sich zutiefst im Einklang mit dem christlichen Bekenntnis, wenn auch nicht mit der offiziellen Lehrmeinung der Kirche. Mit Hilfe des biblischen Motivs der Gottebenbildlichkeit sollte der Mensch auf seine eigenen Füße gestellt werden. Die traditionelle Kosmozentrik der Theologie soll in eine Anthropozentrik überführt werden. Dem Menschen werden bisher kaum geahnte Freiheiten zugesprochen und zwar von Gott selbst, der dem Menschen die Welt in seine Hände gelegt habe. Die traditionell dominierende Lehre der Sünde tritt in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt der triumphierende Christus, durch den die menschliche Seele erhoben wird. Nicht die Stimmigkeit mit der überkommenen theologischen Lehre steht im Vordergrund, sondern die praktische Lebendigkeit des Glaubens. All dies sind Elemente, die später von der Aufklärungstheologie aufgenommen und weitergeführt werden. Lassen wir Pico selbst zu Worte kommen:

Also war er [Gott] zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‚Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevor-zugst.|14◄ ►15| Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.‘10

Gott hat dem Menschen alle Möglichkeiten gegeben, nun aber muss er selbst zusehen und daraus etwas machen. Er kann sich verfehlen, nicht nur bis zum Tier, sondern bis hin zur Pflanze, aber er kann sich eben auch erheben und unmittelbar neben Gott platzieren. Ein ungeheurer Optimismus spricht aus den Formulierungen:

Wenn du nämlich einen Menschen siehst, der seinem Bauch ergeben auf dem Boden kriecht, dann ist das ein Strauch, den du siehst, kein Mensch; wenn einen, der blind in den nichtigen Gaukeleien der Phantasie ... verfangen, durch verführerische Verlockungen betört und seinen Sinnen verfallen ist, so ist das ein Tier, das du siehst, kein Mensch. Wenn einen Philosophen, der in rechter Abwägung alles unterscheidet, kannst du ihn verehren: er ist ein himmlisches Lebewesen, kein irdisches. Wenn du aber einen reinen Betrachter siehst, der von seinem Körper nichts weiß, ins Innere seines Geistes zurückgezogen, so ist der kein irdisches, kein himmlisches Lebewesen; er ist ein erhabenes, mit menschlichem Fleisch umhülltes göttliches Wesen. (9)

Die Anstürme der Leidenschaft wollte Pico mit Hilfe der „Morallehre ... zügeln“ (15), um „die Streitlust des Löwen“ in uns zu besänftigen (19). Er weiß um die Ambivalenz der Vernunft, die sowohl zum Guten, aber auch auf verderbliche Wege leiten kann, und erhofft sich deshalb von der Moral einen haltbaren Frieden. Nicht die Philosophie vermag hier wirklich Ruhe zu bringen, weil auch von ihr der Wettstreit befördert wird, „sondern dies sei Aufgabe und Vorrecht ihrer Herrin, der heiligen Theologie“ (19). Gegen die ordnungspolitische Verwaltung des Glaubens von Seiten der zeitgenössischen Kirche stellt Pico in seiner Anthropologisierung der Theologie entschieden die humanisierende Seite des Glaubens heraus.

1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis

Es kann überall da von Ansätzen für ein tatsächlich neues Verständnis von religio gesprochen werden, wo sich die bisher charakteristische Bindung an eine bestimmte Wahrheit, einen bestimmten Glauben bzw. eine bestimmte Gottesverehrung zugunsten eines neutraleren, verschiedene Glaubensrichtungen übergreifenden Verständnisses zu lockern beginnt. Die ersten Belege, die in diese Richtung weisen, finden sich im 17. Jahrhundert. Es lässt sich kein klarer Schnitt ausmachen, sondern der Übergang vollzieht sich eher schleichend, auch wenn mit dem Grad der Veränderung die Entschlossenheit zu einer Neufassung des Religionsverständnisses wächst.

Den ausschlaggebenden historischen Hintergrund bilden die zum Teil verheerenden gesellschaftlichen und politischen Folgen der unerbittlichen nachreformatorischen konfessionellen Auseinandersetzungen. Ernst Feil hat gezeigt,11 dass zunächst |15◄ ►16| durchaus überraschend lang versucht worden ist, dieses Problem im entschlossenen Beharren auf der eigenen Wahrheit zunächst der Ethik zuzuweisen. Es wurde also an die Friedfertigkeit der je eigenen Überzeugung appelliert.

Im theosophischen Denken von Jakob Böhme (1575 – 1624), einer Art Mystik des Geistes (im Unterschied zu einer Mystik des Herzens), kommt es gerade angesichts der herrschenden Finsternis darauf an, dem Licht der Herrlichkeit Gottes Geltung zu verschaffen, was nur gelingen kann, wenn konsequent der Friede über unsere immer begrenzt bleibende Einsicht in die Wahrheit gestellt wird. Damit beginnt die für die Neuzeit dann bald charakteristisch werdende Tendenz, in der mehr und mehr entschlossen die Bedeutung der Ethik vor die der Dogmatik gerückt wird.

Es ist die größte Torheit in Babel, daß der Teufel hat die Welt um die Religionen zankend gemacht, daß sie um selbstgemachte Meinung zanken, um die Buchstaben, da doch in keiner Meinung das Reich Gottes stehet, sondern in Kraft und der Liebe. Auch sagte Christus und ließ es seinen Jüngern zuletzt, sie sollten einander lieben. Dabei würde jedermann erkennen, daß sie seine Jünger wären, gleichwie er sie geliebt hätte. Wenn die Menschen also sehr nach der Liebe und Gerechtigkeit trachteten als nach Meinungen, so wäre gar kein Streit auf Erden. Wir lebten als Kinder in unserem Vater und bedürften keines Gesetzes noch Ordens.12

Wenn Herbert von Cherbury (1583 – 1648) „als Vater der Religions- und Offenbarungskritik der Aufklärung“ bezeichnet wird,13 so liegt der Ton auf der rationalen Zähmung des Offenbarungsglaubens und nicht so sehr auf der Neutralisierung des Religionsbegriffs als eines allgemeinen Oberbegriffs. Auch Herbert verfolgt noch – ebenfalls zur Beförderung des Friedens – ein qualitatives Religionsverständnis, das sich zwar ähnlich wie bei Jakob Böhme aus der konfessionellen Bindung gelöst hat, nun aber eben eine übergeschichtliche rationalistische Bindung eingeht, die daraufhin angelegt ist, sich die verschiedenen Konfessionen unterzuordnen. Die Wahrheitsfähigkeit wird unter die Kontrolle der Vernunft gestellt. Die Vernunft vertraut der Natur, und dieses Vertrauen entspricht dem Vertrauen zu Gott: Vernunft-, Natur- und Gottvertrauen werden miteinander identifiziert. Nach De veritate (1624)14 sind es fünf Vernunftwahrheiten (notitiae communes – allgemeine Bemerkungen), an denen sich die Friedensfähigkeit der Religion entscheidet:

1. der Glaube an den einen Gott als ewige und allmächtige Ursache, Lenker und Ziel aller Dinge;

2. die Verehrung dieses einen Gottes – auf durchaus unterschiedliche Weise, d. h. unabhängig von den kirchlich erhobenen Machtansprüchen;

3. der sittliche Gottesdienst (cultus divinus) in der Gestalt frommer Gesinnung und tugendhafter Lebensführung, die sich am Gewissen orientieren;

4. die Wahrnehmung der eigenen Unvollkommenheit (Sündenschmerz) und die Bereitschaft zur Buße für schuldhaftes Fehlverhalten; |16◄ ►17|