Das Geheimnis der goldenen Brücke

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Das Geheimnis der goldenen Brücke
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Michael Kunz

Das Geheimnis

der goldenen Brücke


Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2011 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei Michael Kunz (Autor)

© Rechte Coverfoto bei Michael Kunz

Herausgeber: www.Verlag-Kern.de, Bayreuth Umschlagdesign und Satz: Brigitte Winkler – www.winkler-layout.de 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012 ISBN 9783944224145

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Für meine Mutter, die mir das Leben geschenkt hat.

Ich danke allen meinen Weggefährten. Den einen, weil sie mich links stützten und den anderen, weil sie mich rechts stützten. Den linken danke ich, weil sie mich verließen, als sie die Sümpfe in der Nähe witterten. Durch sie habe ich die Gefahr rechtzeitig erkannt. Den rechten danke ich, weil sie mich durch die Sümpfe begleiteten.

Prolog

Das Leben ist wie eine Welle auf dem Meer. Sie trägt uns ruhig und sanft an einen rätselhaften Ort, der wie eine einsame Insel von Sandbänken umgeben ist, damit die Welle all die Dinge, die sie von weit hergebracht hat, dort ablegen kann. Auch ich werde eines Tages dort liegen.

Angelehnt an einen Baum blicke ich schweigend in den Himmel und betrachte den zarten Saum der Wolken. Ist das nicht ein wunderschöner Augenblick, wie sie anmutig dahinschweben, durchflutet von goldenen Sonnenstrahlen? Könnte ich doch nur auch eine Wolke sein, mich wie ein flaumiger Schal an den blauen Himmel schmiegen, mit ihm verschmelzen, spüren, wie das Ticken der Zeit allmählich erlahmt und nur noch diesen einen Augenblick ausatmet: das Hier und Jetzt.

Ich würde endlich meinen Schmerz vergessen, der sich jeden Tag wie eine Zange an meine Gelenke krallt und mein Herz mit beißenden Stichen durchbohrt, um mir die Gewissheit zu geben, dass ich schon ein altes, schwaches Herz in mir trage.

Schläfrig senke ich den Kopf und mein Blick fällt auf eine alte, hölzerne Schatulle, die auf meinem Schoß liegt und von meinen Händen umklammert wird. Sie ist übersät mit kleinen Löchern, von Holzwürmern über die Jahrzehnte eingraviert. Das Motiv ist verblasst, aber ich erkenne noch die roten Blumenköpfe an den Ecken, die verbunden sind durch goldbraune Ornamente. Und weil es das Leben so bestimmt hat, ist diese Schatulle ein Geschenk meiner Mutter und ein Erbstück meines Vaters und somit auch etwas ganz Besonderes in einer so modernen Zeit wie dem Jahr 2066. Meine müden Augen fallen langsam zu und während mich allmählich meine Lider von dieser Welt trennen und in eine Dunkelheit sperren, erschlafft mein Körper und die Schatulle löst sich aus meinen Händen, fällt zu Boden und sie muss sich wohl dabei geöffnet haben, denn mir steigt ein unverwechselbarer, blumiger Duft in die Nase. Wie sehr erinnert er mich doch an meine Mutter!

Ich stelle mir vor, wie ich in das Schwarz hineinspringe, der Wind durch den Fall an meinem Haar und an meiner Kleidung rüttelt, ja, er zupft an allem, was er zu fassen bekommt. All das, was mich beschwert und überhaupt zum Fallen bringt, bröckelt Stück für Stück von mir ab. Je tiefer ich falle, desto leichter werde ich, und desto langsamer wird mein Fall. Bald würde mich nichts mehr belasten, dann würde ich nur noch schweben, frei und gelöst und friedlich davon treiben.

Erinnerungen und alte Träume kommen mir in den Sinn, manches ist belustigend, manches ist schmerzlich. Aber nichts von alledem ist in irgendeiner Weise beängstigend. Nein, nein! Alles ist vertraut, wie in einem Film, den man schon so oft angesehen hat, dass jede Gefahr etwas Entspannendes und jeder Humor etwas Nachdenkliches birgt. Aber egal wie unbedeutend diese Gedanken auch sind: Jeder von ihnen ist Teil einer geheimnisvollen Geschichte, die mich wie eine Fessel umarmt.

Ich werde euch diese Geschichte erzählen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät und ihr sie euren Kindern weitererzählen könnt. Und euren Kindeskindern. Und wiederum deren Kindern. Eine Geschichte, die an dem wohl bedeutungsvollsten und dennoch ungewöhnlichsten Ort auf dieser Welt beginnt. Dort, wo vielleicht noch keine Geschichte ihren Anfang nahm.

Kapitel 1

Der Raum um ihn herum war sehr weich, eng und finster, aber auch angenehm warm gewesen. Er hatte seine Beine angewinkelt und sich nach vorne gebeugt, um den Raum besser auszunutzen. Dieser Raum war etwas ganz Besonderes. Manchmal begann dieser leicht zu vibrieren und erzeugte dabei eine schöne Melodie. Und es gab auch noch etwas anderes zu hören, aber für eine Melodie war dieser Nicht-Klang viel zu lebendig.

Er hatte festgestellt, dass meistens dann, wenn der Raum einen Nicht-Klang erzeugte, fernab von seinem Platz ein anderer Nicht-Klang entstand, aber bedeutend leiser und dumpfer. Manchmal war der Nicht-Klang lauter oder leiser, meistens war er schnell und bemerkenswert entschlossen. Dann wiederum war er bebend und impulsiv, und manchmal musste er lustig sein. Denn er brachte ihn zum Lachen. Aber warum, das wusste er nicht. Es war einfach so. Und in manchen Augenblicken war dieser Nicht-Klang zart, ruhig und sehr einschmeichelnd. Er spürte dann sehr deutlich, dass es wegen ihm so war, und um gewissermaßen zu antworten, drückte er vorsichtig mit den Füßen gegen die Wand des engen Raumes. Es war also ein Raum, der ihn immer ansprach: durch Melodien und Nicht-Klänge. Und wenn all das nicht stattfand, dann war zumindest das unermüdliche, gleichmäßige Klopfen zu hören, von welchem er spürte, dass es um ihn herum und zugleich in ihm war.

Plötzlich umschlang ihn der Raum wie eine Fessel. Das Klopfen wurde hektischer. Der Raum erhitzte sich, begann zu beben, weitete sich wieder, um sich dann gleich von neuem zusammenzuziehen. Die weiche Wand quetschte und drückte so stark an jedem einzelnen Glied, dass es ihm Schmerzen bereitete. Er wurde ruhelos, fühlte sich bedrängt. Er brauchte mehr Platz und drehte sich, damit sein Kopf nach unten kam. Er spürte, dass er sich trennen musste. Von diesem Ort, an dem er immer glücklich war.

Der Raum bebte auf und ab, wollte ihn zermürben, ihn, diesen Störenfried, loswerden. Sein Kopf wurde in einen engen Kanal gedrückt, dann unsanft von etwas Kaltem gepackt und durch den Kanal gezerrt. Es war grauenvoll, fühlte sich kalt, rau und grob an. Etwas wollte ihn um jeden Preis aus diesem Leben reißen. Er verstand nur nicht, warum. Was hatte er denn falsch gemacht? Mit ganzer Kraft versuchte er sich dagegen zu wehren, wollte sich festkrallen, strampelte mit den Beinen. Aber es war völlig zwecklos. Er fand einfach keinen Halt.

Wie ein übermächtiges Ungeheuer peitschte plötzlich ein unvorstellbar grelles Licht in sein Gesicht und durchbohrte seine Augen. Panische Angst überkam ihn. Er schrie, weinte, versuchte mit den Füßen, dieses Ungeheuer wegzustoßen, schaffte es aber nicht, war zu schwach und ein Gefangener an diesem Ort der Verdammnis. Es war kalt. Und laut. So viele Geräusche stürzten auf ihn ein, dass er tief in seinem Herzen beschloss, aus dieser verfluchten Welt, in welche er ohne Grund verbannt wurde, zu flüchten. Eines Tages wollte er auf jeden Fall wieder zurück in die Dunkelheit und Wärme. Das war sein erster Gedanke nach seiner Geburt!

 

*

ES hatte sich heimlich in einem Schatten der Menschen versteckt, die sich um das Baby gestellt hatten und beobachtet, wie das Kind sich quälte. „Gut so, mein Kind. Nur das Leid wird deine Sinne schärfen.“ ES trat aus dem Menschenschatten hervor, beugte sich mit seinen knochigen Fingern über das Baby und lachte heimtückisch, wie eine alte Hexe.

*

Ein wohltuender Schatten hatte sich endlich über ihn gebeugt, hatte das Ungeheuer besiegt und in die Unterwelt zurückgedrängt.

Als er endlich in zwei Armen liegend wieder zur Ruhe kam, vernahm er einen einschmeichelnden Nicht-Klang, der von einer wunderschönen Melodie begleitet wurde. Es kam ihm so vertraut vor, dass er sicher war, dieser Nicht-Klang war nur für ihn allein bestimmt.

Töricht Kind, wenn es nicht spürt,

dass ein liebend Herz es führt,

ganz zart sein Gemüt berührt,

wenn ein Traum sein Herz verführt.

Mutter wiegt beglückt ihr Kind,

und Tränen, die entsprungen sind,

reißt hinfort ein süßer Wind,

eilt zum Tränenmeer geschwind.

Er ahnte nichts von der großen weiten Welt. Von den vielen Gefahren, die auf ihn warteten. Und von den schönen Momenten, die er – wie es für Menschen üblich ist – nicht genießen würde, weil er mit den Gedanken immer über die Zukunft grübeln würde. Eine Zukunft, die er zwar eines Tages nicht mehr erleben würde, weil auch für ihn das Leben nicht endlos währte, aber welcher er dann zumindest im Geiste schon oft genug begegnet wäre.

Eines Tages würde er von der unersättlichen Gier der Menschen erfahren, besessen von dem Gedanken des Reichtums. Ja, er würde sich vielleicht auch von dieser Besessenheit beflügeln lassen, immer den Dingen nachzueifern, die er noch nicht besaß und vielleicht nie besitzen konnte. Wenn allerdings doch, so würde er spätestens in den letzten Stunden seines Lebens die Zeit bedauern, die er für den Erwerb dieser Dinge verschwendet hatte. Weil auch er diesen Besitz eines Tages auf der Erde zurücklassen musste.

Er würde aber auch Menschen begegnen, die von der Macht besessen waren und darum nichts unterließen, ihn zu erniedrigen. Sie würden ihn als einen einfältigen Dummschwätzer abstempeln, seine Ideen belächeln und ihn dafür verachten. Vielleicht würde er irgendwann diese wirren Dinge glauben, die sie ihm ständig einredeten und dann sein Glaube an sich selbst Stück für Stück zerbröckeln. Es könnte passieren, dass er eines Tages sogar dem Glauben nachhinge, Reife und Alter müsse man sich erst verdienen, so, wie man sich auch Gesundheit und Schönheit verdiene. Und somit wäre sein einziges Bestreben die Verwirklichung dieser Idealvorstellungen, die im Grunde nur vergiftetes Gerede war. Aber vielleicht ist es die Bestimmung des Menschen, dass er über jeden einzelnen Prüfstein des Lebens mühsam klettern muss. Wer weiß schon, ob es sich bei diesen Prüfsteinen nicht zuletzt um die Stufen einer Treppe handelt, an deren Ende der Mensch die Dinge von oben und damit auch von einer anderen, höheren Warte betrachten kann? Nun ja, bei rechtem Licht betrachtet kann man natürlich die Treppe auch abwärts gehen, aber das ist eines von den wenigen Dingen, die der Mensch selbst in der Hand hat.

*

„Wie geht es dir, Anna?“, flüsterte Erik seiner Frau zu, die sich, noch schweißgebadet von der Geburt, aufgesetzt hatte und ein Neugeborenes in den Armen hielt.

„Ich bin sehr glücklich. Ich glaube, unser Sohn ist es auch. Sieh nur, wie friedlich er schläft.“ Anna küsste ihr Baby auf die Stirn und flüsterte: „Ach, mein lieber Peter! Willkommen im Leben!“

*

Mit Argwohn hatte ES diesem Gespräch zugehört. „Das Glück macht euch nur blind für diese Welt!“, murmelte ES verdrießlich, wandte sich dann zu Erik, fuhr mit dem knochigen Zeigefinger über seine Wange, presste seinen Mund ganz eng an sein Ohr und flüsterte hinein: „Pass gut auf ihn auf!“, und deutete dabei mit dem knochigen Zeigefinger auf das Baby. ES sprach nur einmal eine Warnung aus.

*

„Ja!“, meinte Erik spontan, wohl aber eher zu sich selbst als zu Anna, hielt dann kurz inne als überlegte er, warum er das gerade sagte und fuhr schließlich unbeirrt fort: „Ob er wohl etwas träumt?“ Erik hatte die Frage zwar an Anna gerichtet, aber er beugte sich zu Peter hinunter, begutachtete wissenschaftlich sein Gesicht und machte dabei den Eindruck, als wollte er sich vergewissern, dass Peter auch wirklich schlief.

„Oh ja, ganz sicher! Und es ist bestimmt sein erster Traum.“

„Leider ein Traum, den er wieder vergessen wird“, seufzte Erik.

„Er wird auch diesen Tag vergessen“, empörte sich Anna über diese ausgesprochen nüchterne Feststellung.

„Mag er vergessen, was er will. Es wird nichts daran ändern, dass er heute seine Geburt erlebt hat und gerade seine erste Geschichte träumt“, erklärte Erik und hob dabei belehrend seinen Zeigefinger.

Anna blickte zu ihm hoch: „Du hast Recht, Erik. Es ändert sich nichts daran.“

„Aber eigentlich ist es auch nicht von Bedeutung.“ Während Erik diesen Satz aussprach, streichelte er Anna über das Haar um das Gesagte zu bekräftigen.

„Ja, von Bedeutung...“, wiederholte Anna leise, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, dass ihr das Wort „Bedeutung“ schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen war und fuhr schließlich fort: „Anscheinend ist der Geburtstag aber wichtig genug, um ihn jedes Jahr zu feiern!“

„Ach Anna, für einen jungen Menschen ist freilich jeder Geburtstag ein tolles Erlebnis, aber ich bin mir sicher, mit den Jahren wird man im Grunde genommen nur noch an das Unaufhaltsame erinnert.“

Anna blickte gedankenverloren aus dem Fenster, legte ihre Stirn in Falten, hob die Augenbrauen etwas in die Höhe und lächelte leicht. Es war ungefähr ein Blick, den Menschen aufsetzen, wenn sie sich über die kurzsichtige Meinung eines anderen eigentlich nur noch belustigen können, aber bemüht sind, jegliche Spur von Belustigung und den Wunsch nach Erklärung der eigenen Sichtweise zu unterdrücken.

„Als ich noch klein war“, begann sie langsam zu sprechen, legte dann eine kurze Pause ein und vollendete ihren Satz schließlich: „wollte ich einmal von meiner Großmutter wissen, ob sie ein Geheimnis habe, von dem niemand etwas wüsste. Sie beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: ‚Es gibt ein Geheimnis, das wir alle teilen: das Geheimnis der goldenen Brücke.’ Ich musste ein ziemlich blödes Gesicht gemacht haben“, lachte Anna. „Jedenfalls sagte sie dann: ,Wenn wir auf die Welt gekommen sind und unseren ersten Traum haben, können wir sie sehen: die Brücke aus purem Gold. Aber niemand weiß, wohin sie führt. Das ist ihr Geheimnis.’“

„Unglaublich!“ Erik hatte diesem Wort einen besonders hämischen und tiefen Klang verliehen und klatschte dabei in seine Hände. „Und das hat dir deine Großmutter erzählt?“ Erik machte eine ungläubige, aber auch belustigte Mimik.

„Was soll das heißen? Glaubst du mir etwa nicht?“, entrüstete sich Anna mit gespielter Empörung und blickte wieder auf ihr Baby: „Nicht wahr Peter, Papa glaubt uns nicht.“

„Ich würde eher sagen, dass ich deiner Großmutter nicht glaube!“, entgegnete Erik und setzte sich zu Anna auf das Bett.

„Das ist doch nur Wortklauberei. Ich habe dich schon längst durchschaut, du Schuft! Willst dich bei uns beiden wieder einschmeicheln.“

„Ach, und wenn schon! Schau, Peter ist gar nicht mehr sauer auf mich“, triumphierte Erik und streichelte Peter vorsichtig über die Wange.

„Woher willst du das jetzt schon wieder wissen?“

„So lieb und friedlich wie er guckt, kann er gar nicht sauer sein. Also, nun ja, so friedlich siehst du jedenfalls nicht aus, wenn du sauer auf mich bist.“

„Wie bitte?“, entfuhr es Anna, die für einen Augenblick sprachlos war über eine derart uncharmante Äußerung. „Du ja nun auch nicht gerade, Erik!“

Erik zog seinen Fotoapparat heraus und fotografierte die beiden. Es war einer von diesen Dingern, aus denen die Bilder gleich ausgedruckt wurden. Der Auslöser klickte, der Apparat summte einen kurzen Augenblick, spuckte dann ein weißes, viereckiges Blatt aus und Erik zog es aus der Halterung heraus. Er wedelte das Blatt etwas in die eine Richtung, dann in die andere Richtung. Man gewann ein wenig den Eindruck als versuchte er zu verhindern, dass sich das Foto von selbst entzündet. Mit der Zeit deutete sich eine leichte Schraffierung an, die erst dunkler, dann von verschiedenen Farbtönen eingekreist wurde und schließlich ein blasses Farbfoto angefertigt hatte. Am Ende erkannte man Anna und Peter, eingekuschelt in weißen Bettlaken. Hinter ihnen bäumte sich eine weiße Wand auf, an der ein kleines Bild mit einem unbekannten Gesicht hing. Erik begutachtete das Foto wie einen Geldschein. Er ärgerte sich über den Schatten, den er an der Wand fotografiert hatte. Ein Schatten, der weder vor dem Auslöser noch danach an dieser Stelle zu finden war, was den einzigen Schluss zuließ, dass Erik wieder einmal einen Finger vor das Objektiv gehalten hatte. Trotzdem kam es ihm etwas merkwürdig vor.

„Du siehst richtig süß aus, wenn du dich ärgerst“, scherzte Erik, sah auf die Uhr und stand unvermittelt auf: „Ach du meine Güte, ich muss noch zu einem Kunden! Pass auf, Anna, ich muss jetzt los. Ich rufe dich von unterwegs aus an, versprochen.“ Dann gab er Anna einen Kuss, verabschiedete sich von beiden und verließ das Zimmer.

„Ach Peter“, seufzte Anna und liebkoste ihr Baby liebevoll, „wenn du nicht aufpasst, ergeht es dir eines Tages genauso und du hetzt von einem Termin zum nächsten. Lass dir Zeit mit dem Erwachsenwerden. Das Leben hat so viele Farben, aber mit den Jahren wird man blind. Du bist noch jung, du hast noch alle Zeit der Welt, die Farben zu bestaunen. Deine Urgroßmutter hat einmal gesagt: Manche Menschen haben am Tag der Geburt das Glück, alle Farben auf einmal zu sehen. Ich wüsste zu gern, ob du gerade von ihnen träumst, mein Schatz.“ Anna gab Peter einen sanften Kuss und schlief vor Erschöpfung ein.

Kapitel 2

Die Jahre vergingen schnell und eigentlich war bis zu Peters sechstem Lebensjahr nichts Bemerkenswertes geschehen, was man nicht hätte auch bei jedem anderen Kind beobachten können: In diesen Jahren begreifen wir unsere Umwelt, nicht aber die Umwelt uns. Von den Eltern lernen wir das Sprechen, von den Freunden das Fluchen. Begeistert machen wir unsere ersten kleinen Schritte und zeigen Oma und Opa stolz unsere ersten Zähne, wenn sie uns besuchen. Wir sind leicht zornig, aber dafür schwer zu bändigen. Und nicht zuletzt nerven uns die Regeln, mit denen man uns bezwingt, denn schließlich haben wir schon unsere eigenen Regeln, die uns von den Zwängen lösen werden.

Das Schönste, was das Leben uns in dieser Zeit als Kind zu bieten hat, dürfte wohl die unbeschwerte Fröhlichkeit sein. Wir tollen, spielen, entdecken und lachen. Alles, was wir entdecken, genießt unsere grenzenlose Aufmerksamkeit und weckt in uns eine unbeschreibliche Freude und Neugier. Es ist eine Zeit, in der wir uns zwar bemühen, alles irgendwie einzuordnen, aber unser Einfallsreichtum macht aus jeder Ordnung wieder ein Durcheinander. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht für neue Abenteuer zu gebrauchen wäre. Seien es die Spielzeugautos im Sandkasten, die sich ihren Weg durch den Wüstensand bahnen. Sei es das Dreirad, auf dem wir das Fahren lernen, damit wir Papa endlich morgens in die Arbeit folgen können. Sei es das Karussell auf dem Spielplatz, bei dem wir uns auf eine Rundbank setzen und uns so schnell drehen, dass wir wie ein Weltraumfahrer schwerelos im Kreis schweben, manchmal etwas benommen und von Übelkeit geplagt, wenn wir aus dem Karussell wieder aussteigen. Aber das ist eben etwas, das man in Kauf nehmen muss, wenn man Weltraumfahrer werden möchte.

Doch wir sind nicht unser ganzes Leben mutige Abenteurer, sondern beginnen eines Tages, uns den Fragen und Problemen des Lebens zu stellen. Fragen, die sich anfangs nur auf das magische Wort „Warum“ beschränken, aber mit den Jahren immer durchdachter gestellt werden und irgendwann so tiefsinnig sind, dass es keine erschöpfende Antwort mehr geben kann, wohl aber Vermutungen, die uns wieder zu neuen Fragen führen. Und was die Probleme anbelangt, so werden sie zunehmend schwieriger. Eines Tages haben wir eigentlich nur noch die Möglichkeit, ihnen auszuweichen, sie zu verharmlosen oder aber wir erklären es zu unserer Lebensaufgabe, sie zu lösen.

 

Dies alles nimmt seinen Anfang an unserem ersten Schultag. Mit Stolz tragen wir unsere bunte Schultüte, die nicht zufällig die Form eines kegelförmigen Filters besitzt. Es ist eine Mahnung an uns, das Leben in kleinen Schritten zu bewältigen. Schließlich schneiden wir einen Kuchen auch erst in Scheiben, bevor wir ihn verzehren. Aber eine Mahnung ersetzt natürlich nicht die Erfahrung und was kann wohl schmerzlicher sein, als festzustellen, dass das Leben eine einzige Verpflichtung ist?

Nun, ich will es euch gerne verraten: Es ist die Farbe der Hilflosigkeit.

*

Der Schulgong läutete zum Ende der letzten Stunde. Die Kinder standen auf, zeigten einander ein paar Bilder, steckten ihre Malstifte in ihre Federmäppchen, Stuhlbeine schleiften knarrend über den Fußboden, mit Klick! und Klack! schnalzten die Verschlüsse der Schulranzen zu, die Kinder verließen plappernd das Klassenzimmer, das aufgeregte Schnattern verstummte langsam und hinterließ schließlich eine leere Stille im Raum. Nun ja, nicht ganz. Leichtfüßig pendelte ein Malstift über einem Blatt Papier, über das Peter gebeugt war. Er war der Letzte.

„Du kannst es zu Hause fertig malen“, meinte die Lehrerin behutsam.

„Ich bin... schon fertig!“ Peter wühlte alle Gegenstände auf seinem Tisch zu einem Häufchen zusammen, schob sie wie Brotkrümel in seine Schultasche, die er mit einem Klack! zumachte, auf seinen Rücken schwang, um sich dann mit seinen dünnen Armen durch die Schlaufen zu wühlen. Etwas unbeholfen, wie die Lehrerin feststellte. Anschließend lief er hinaus, durch den Gang, die Treppe hinunter, riss die Eingangstür auf, als ob er um sein Leben rannte und eilte mit kindlichem Übermut auf Anna zu, die bereits auf ihn wartete, ihn nun erkannte, in die Hocke ging und die Arme weit ausbreitete, damit er nicht an ihr vorbei flog.

„Na, wie war dein erster Schultag?“, begrüßte sie ihn, aber Peter war völlig außer Atem und japste nur etwas wie: „Muss ich das schwere Ding jetzt jeden Tag tragen?“ Dabei deutete er mit einem Daumen auf den Schulranzen.

„Wenn du etwas lernen willst, dann ja. Was hast du denn da in der Hand?“ Anna streckte ihre beiden Hände aus und ergriff ein Blatt Papier, das Peter in der rechten Hand hielt.

„Das Bild haben wir heute gemalt. Wir sollten eine Geschichte mit Menschen malen, die wir lieb haben“, erklärte er schließlich, nachdem Anna das Bild einen Moment stillschweigend betrachtet hatte.

„Lass mich raten, das bin ich, stimmt’s?“, lachte sie plötzlich, es schien, als hätte sie sich erst jetzt auf dem Foto erkannt.

„Genau! Und das da ist Papa.“ Peter machte einen Fingerzeig auf eine rundliche Gestalt im Bild, an den Beinchen waren braune Stiefeletten, auf seinem Kopf ruhte sich ein Hut aus, der aber klein genug war, um ihn zweimal nebeneinander aufzusetzen.

„Der hat aber einen großen Kopf. Der ist ja größer als sein Bauch.“

„Das hat meine Lehrerin auch gesagt. Da hab’ ich gesagt: Ja, weil er sich gerade ärgert.“

„Jetzt verstehe ich auch, warum sein Kopf so rot ist“, schmunzelte Anna und strich Peter liebevoll durch das Haar.

„Nein, das ist sein Sonnenbrand, den er doch letzten Sonntag bekommen hat. Deswegen ärgert er sich ja auch so, weil du ihm zu wenig Sonnencreme ins Gesicht geschmiert hast.“

„Soso, das hast du dir also gleich zum Thema deines kleinen Kunstwerkes gemacht!“

Anna war eine bildhübsche Frau. Ihr brünettes, gepflegtes Haar war glatt gekämmt und bedeckte Nacken und Rücken bis auf die Höhe der Schultergürtel. Mag sein, dass ihre Bewegungen etwas kantig wirkten, weil ihr der Beruf als Physikerin eine ausgeprägte Entschlossenheit und Zielstrebigkeit abverlangte. Mag auch sein, dass ihre Stimme aus genau diesem Grund sehr verbindlich klang. Und es mag vielleicht sogar sein, dass ihr die humorvolle und völlig unkomplizierte Art eine sehr lebenslustige Ausstrahlung verlieh. Aber eines war ganz gewiss: Ihr Lachen bezauberte ausnahmslos jeden Menschen durch seine Heiterkeit. Es wirkte derart anschmiegsam und herzlich, dass manch einer nicht einzuordnen vermochte, ob er nun mehr ihre dunklen Augen unter ihren elegant geschwungenen Augenbrauen oder eher ihren schmalen und mit Sicherheit auch sehr verführerischen Mund bewundern sollte. Deswegen ergab es sich, dass ihre schlanke und sehr sportliche Figur häufig erst auf den zweiten Blick auffiel. Aber trotzdem ließ ihr Auftreten in keinem Augenblick vermuten, dass sie sich bereits seit einigen Jahren in Karate übte, eine Kampfkunst, die ihre Denkweise sehr stark geprägt hatte.

„Wo hast du denn diese Schramme her?“ Anna begutachtete die roten Kratzer auf seiner Stirn. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass er diese Verletzung heute Morgen schon hatte.

„Auf dem Pausenhof haben sie mich geschubst, von hinten, weißt du? Da bin ich gestolpert und auf das Pflaster gestürzt. Dann haben sie gelacht, ganz doofe Jungs waren das. Der Lehrer ist dazwischen gegangen und hat ihnen gesagt, dass sie was erleben können.“

„Meine Güte! Sag mir, wer das war! Die werden morgen ihr blaues Wunder erleben!“

„Ich kenne diese Schüler nicht, sie sind älter als ich. Ich weiß nur, dass es drei Jungs waren. Einen nannten sie Mirko.“

„Schon eigenartig, dass sie gleich zu dritt sein mussten, um es mit dir aufzunehmen. Morgen zeigst du sie mir in der Pause. Ich komme vorbei.“

„Und was, wenn sie dann übermorgen in der Pause...?“

Peter ließ den Satz ins Leere laufen, denn er hatte Angst, seinen Gedanken auszusprechen.

„Dann wird es für diese drei Typen auf diesem Pausenhof keinen Tag nach Übermorgen geben, das verspreche ich dir!“

„Mama, ich wünschte ich wäre groß und erwachsen. Dann könnte ich mich besser wehren gegen diesen Mirko und die anderen.“ Seine Augen wurden feucht und rot. Peter erlöste sich von der Träne mit einem Lidschlag und dann ergoss sich eine kristallene Perle auf seiner Wange und verlor erst ihren Halt, als sie das Kinn erreicht hatte.

Anna fasste Peters Kopf mit der freien Hand und drückte ihn tröstend an ihren Bauch: „Es bringt gar nichts, sich zu wünschen, älter zu sein. Wenn du nämlich groß bist, dann ist Mirko auch groß. Glaube mir, auf dieser Welt gibt es viele Mirkos, dein ganzes Leben lang werden sie dir über den Weg laufen.“

„Kennst du auch einen Mirko?“, wollte Peter wissen, aber es war eher die kindliche Neugier, die ihn zu dieser Frage trieb, als eine Schlussfolgerung aus dem Gesagten, das sich eigentlich mehr wie eine Anspielung als ein Ratschlag anhörte. Deswegen darf es nicht verwundern, dass ihre Antwort wie selbstverständlich klang: „Und ob!“ Sie betonte diesen Ausruf mit einer unerschütterlichen Gewissheit und wiederholte ihn noch einmal, diesmal aber etwas langsamer und ernster. „Ich kenne sogar viele Mirkos.“

Es folgte Schweigen. Kein betretenes, wie man es zum Beispiel erdulden muss, wenn man nach einer Begrüßung und einem Wortwechsel über das Wetter nur noch Leere und Verlegenheit verspürt. Nein, dieses Schweigen war mehr ein zeitgebendes, um das Gesagte wie eine Medizin im Körper ausströmen zu lassen.

In ihren Erinnerungen versunken, fühlte sich Anna plötzlich in ihre eigene Vergangenheit zurückversetzt. Sie hatte damals nicht gekämpft und war stattdessen ihrem Wunschdenken nachgehangen, dass sie sich, einmal älter geworden, gegen jeden Widersacher zur Wehr setzen würde. Eben aber erst in einer späteren Zukunft, die sie sich in ihrer Vorstellung oft und gerne ausmalte. Bis sich ihre Träume von einer furchtlosen Kämpferin jedoch zur Wirklichkeit verfestigten, richtete sie sich ihr Luftschloss kuschelig ein. Wenn sie sich schon in eine Ecke zurückzog, dachte sie, sollte dieser Platz wenigstens etwas Gemütliches und Beruhigendes haben.

Älter werden als Lösung des Problems? Diesem Irrglauben hing sie zwar schon lange nicht mehr nach, aber es wäre besser gewesen, sie hätte ihm überhaupt nicht nachgehangen. Und weil sie ahnte, dass Peter allmählich begann, den gleichen Fehler zu begehen wie sie in ihrer Kindheit, beschloss sie, ihm auf dem Heimweg die Geschichte von der Mühle des Alters zu erzählen:

„Es war einmal ein junger Knabe, der ging eines Tages zur Mühle des Alters und drehte an ihr im Uhrzeigersinn, damit sie sich schneller bewegte. Dabei sprach er voller Freude: ‚Ihr Menschen, seht, ich bin schon sieben Jahre! Bald werde ich acht Jahre! Bin ich nicht schon ein großer Junge?’ Die Menschen gingen an ihm vorbei und antworteten ihm: ‚Sieben Jahre? Meine Güte, bist du schon ein großer Junge geworden!’ Diese Worte machten den Knaben sehr stolz. So vergingen die Jahre, bis aus dem Knaben ein stattlicher Mann im Alter von 30 Jahren wurde. Abermals besuchte er die Mühle des Alters, betrachtete sie argwöhnisch und mit prüfendem Blick, setzte sich nieder und sah wortlos zu, während die Mühle sich drehte und drehte. Aber es kam schließlich der Tag, an dem er das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatte und wieder suchte er die Mühle des Alters auf. Noch einmal wollte er sich nicht niedersetzen und wortlos zusehen, sodass er kurzerhand an der Mühle zu drehen begann, und zwar entgegen dem Uhrzeigersinn. Er hatte sich überlegt, dass es so möglich sein müsse, das Altern zu bremsen. Dabei dachte er sich: ‚Nun bin ich schon 50 Jahre gealtert und vermutlich habe ich die längste Zeit meines Lebens bereits verlebt. Wie gern wäre ich noch einmal sieben Jahre und wüsste das, was ich heute weiß.’ Und ehe er seinen Gedanken zu Ende geführt hatte, kam ein kleiner Junge zu ihm und bat, an der Mühle des Alters drehen zu dürfen. Der Mann ließ ab und als der Junge es erkannte, sprach er: ‚Aber mein Herr, ihr habt ja in die falsche Richtung gedreht!’“