Sweetland

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Für Stan Dragland

Inhaltsverzeichnis

Der Königsstuhl

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Das Wärterhaus

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Der Königsstuhl

Denen will ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben …

– JESAJA

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Er hörte sie, bevor er sie sah. Stimmen im Nebel, so undeutlich, dass sie ihm zunächst wie eingebildet vorkamen. Eine akustische Halluzination, der Verstand bemüht, das Fehlen eines Sinnes zu kompensieren. Wie ein einsamer Mann irgendwann mit den Möbeln redet, wenn er zu lange allein bleibt.

Da draußen jedenfalls Stimmen.

Er war am Samstagmorgen für eine Ladung Holz rüber aufs Festland gefahren und dort vom Nebel über Nacht festgehalten worden. Hatte unter einer alten Decke im Ruderhaus geschlafen, ein paar zusammengerollte Overalls als Polster. Beim ersten Tageslicht klarte es ein wenig auf und er dachte, dass er sich auf den Weg nach Hause machen konnte. Die Insel war schon in Sicht, da umfing ihn dichter Nebel, sodass er keine drei Meter weit über den Bug hinaussehen konnte. Er stellte den Motor ab, um das Boot etwas treiben zu lassen, horchte blind nach anderen Booten. Eine ganze Weile nur nach den Wellen gegen den Bootsrumpf. Das Heulen des Nebelhorns am Burnt Head. Und in der Windstille dazwischen ein Murmeln, das entfernt menschlich klang. Dann ein gerufener Laut, wie Hundebellen.

Er erschrak. Eine Stimme mitten aus dem Ozean, kilometerweit draußen auf dem Wasser. Er musste seinen Mut zusammennehmen, um etwas zu erwidern, und hoffte, dass ihm nichts aus jener Leere antwortete. Hallo, rief er. Ein halbes Dutzend Stimmen schrie wild herüber und er wich zurück, als hätte ihn eine Hand aus dem Nebel heraus angestoßen. Gott verdammt, sagte er.

Er startete den Motor und die Stimmen wurden lauter, wollten über den Lärm hinweg gehört werden. Tuckerte in die Richtung, aus der sie vermutlich kamen, den Kopf geneigt, um dem Geschrei zu folgen, das wie ein Leuchtzeichen ausgesandt wurde. Langsam nahmen die Umrisse vor ihm Gestalt an, ein dunkler Fleck im Nebel, die leuchtend rote Farbe des Rettungsboots.

Er legte den Rückwärtsgang ein, um das offene Boot nicht breitseitig zu rammen. Auf dem Boot standen Gestalten und winkten hektisch. Es schien ein Dutzend zu sein oder mehr und keiner davon einheimisch. Dunkle Haut und schwarze Haare. Irgendein ausländischer Trawler, der auf den Banks untergegangen war, dachte er, ein Containerschiff auf dem Weg in die Staaten. Alle in Straßenkleidung und ohne Rettungsweste.

Als er näherkam, neigte sich ein Mann in einem solchen Winkel über den Bug, dass Sweetland sich fragte, weshalb er nicht mit dem Kopf voran ins Wasser kippte. Er wirkte indisch, dachte Sweetland, oder etwas Ähnliches, er konnte diese Leute nie auseinanderhalten. Unterhalb des Dollbords hockten noch mehr, keiner von ihnen passend für das Wetter angezogen, sie schienen halb erfroren zu sein. Sweetland reichte ein Schlepptau herüber, das der Mann an den Bug des Rettungsbootes band und dann eine Geste zu seinem Mund machte und den Kopf nach hinten neigte. Sweetland suchte nach den zwei großen Clorox-Flaschen mit frischem Wasser, die er bei sich hatte, nahm die Decke und eine gefaltete Leinenplane und reichte alles rüber.

Mit einem Ausdruck verwirrter Erleichterung starrten die Gesichter zu ihm herüber. Wegen seiner Holzladung lag er tief im Wasser und er befürchtete, dass sie womöglich über das Dollbord auf sein Boot kommen und ihn unter Wasser setzen würden, wie man es von Ertrinkenden erzählte, dass sie ihre Retter nach unten zerrten. Er versuchte, sie mit Gesten zu beruhigen, und fuhr los, bis das Schlepptau gespannt war, dann ging es langsam weiter in Richtung Bucht.

Gelegentlich spähte er zurück und erschrak jedes Mal darüber, was in seinem Fahrwasser schwamm.

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Er sah den Regierungsmann vom Wasser heraufkommen. Hellbraune Hose, Tweedjacke und Krawatte. Derselbe Kerl, der auch bei der letzten Bürgerversammlung dabei war, oder zumindest jemand, der genau so aussah – im Confederation Building in St. John’s schien es eine unendliche Menge davon zu geben. Der Aktenkoffer wirkte so, als hätte er ihn schon bei seiner Geburt in der Hand gehalten. Sweetland wandte sich vom Fenster ab, als könnte er sich vor dem Mann verstecken, indem er nicht in seine Richtung blickte. Sah ihn kurz, wie er zur Vordertür des Hauses kam, hörte das Klopfen.

Niemand in der Bucht klopfte an. Er überlegte kurz, es zu ignorieren, doch das Klopfen kam ein zweites und dann ein drittes Mal, und schließlich stieß er sich vom Tisch ab und ging durch den Flur hinaus. In der Bucht benutzte auch niemand die Vordertür. Die von Sweetland war seit Jahren nicht mehr geöffnet worden und er musste sie erst aus dem Rahmen hebeln. Der Mann stand dort etwas verloren im Sonnenschein, eine Stimme aus dem Nichts, wo sein Mund sein musste. » Mr Sweetland? «

Er wartete, bis die Gestalt aus dem Licht auftauchte, bis er die Augen erkennen konnte. » Gerade von der Fähre gekommen, oder? «

» Ja, in dieser Sekunde. «

Sweetland nickte. » Ich muss ja verdammt wichtig sein. «

Der Regierungsmann lächelte zu ihm hoch. » Sie stehen ganz oben auf meiner Liste. «

Sweetland trat zur Seite, um den Mann hereinzulassen. » Tasse Tee? «

» Sie haben nicht zufällig Kaffee? «

» Ich hab löslichen. «

» Tee ist in Ordnung «, sagte der Regierungsmann.

Sweetland stellte den Kessel auf den Herd, während der junge Mann am Tisch Platz nahm. Er überlegte, wann dort zuletzt ein Fremder gesessen, die Küche zum ersten Mal gesehen hatte. Niedrige Decke, die Balken nur wenige Zentimeter von Sweetlands Kopf entfernt. Gestrichener Holzboden, eine Schlafcouch unter einem Fenster, ein Resopaltisch mit Chrombeinen vor dem anderen. Die Teetassen seiner Mutter an Haken unter den Hänge­schränken. Alles so vertraut, dass er es seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte.

Der Aktenkoffer des Mannes lag wie ein Platzset vor ihm auf dem Tisch, und Sweetland legte einen Löffel und eine Zuckerdose auf die flache Oberseite.

» Kein Zucker für mich «, sagte der junge Mann und schob die Dose beiseite. » Ein Tropfen Milch, wenn Sie welche haben. « Er stellte den Koffer neben seinen Stuhl auf den Boden.

» Keine frische «, sagte Sweetland. » Nur Büchsenmilch. «

» Büchsenmilch ist okay «, sagte der Regierungsmann. Er zog ein Blackberry aus der Manteltasche und hielt es einen Augenblick in Richtung Fenster.

» Sie sind nicht der Typ, der das letzte Mal da war. «

» Ich habe die Akte übernommen. «

» Hier draußen werden Sie kein Handysignal bekommen «, sagte ihm Sweetland.

Er zuckte mit den Schultern. » Der Rand der zivilisierten Welt. «

» Vor Jahren hatten sie davon gesprochen, einen Mast aufzustellen. Ist nie dazu gekommen. «

Der Regierungsmann zeigte an ihm vorbei zur Küchentheke. » Sie haben ein Laptop. «

Sweetland spähte bestätigend über die Schulter. » Internet haben wir seit Langem. Mach meine Banksachen damit «, sagte er. » Ein bisschen Online-Poker. Bringt die Zeit rum. « Sweetland goss den Tee ein und setzte sich gegenüber an den Tisch.

» Sie sind nicht auf Facebook, oder? «

» Gucken Sie sich dieses Gesicht an «, sagte er und der Regierungsmann senkte den Blick zum Tisch. » Also, Arschbook «, sagte Sweetland. » Da würde ich mich anmelden. «

» Ich bin mir sicher, das wird auch noch kommen. «

» Daran zweifle ich nicht. Angesichts der Zustände. «

Das war ein gutes Stichwort zur Überleitung auf das eigentliche Thema und er war überrascht, dass der Regierungsmann nicht darauf einging, sondern lächelnd aus dem Fenster blickte. Perfekte Zähne. Heutzutage hatten alle perfekte Zähne. Ordentliche Frisuren und Akzente, die Sweetland nicht einordnen konnte. Dieser kam wahrscheinlich irgendwo vom Festland, soweit er das einschätzen konnte.

» Also «, sagte der junge Mann plötzlich. » Kommen Sie heute Nachmittag zum Treffen? «

Fast hätte Sweetland losgelacht. » Hab ich nicht vor, nein. «

» Könnte ich Sie nicht dazu überreden? «

» Hören Sie «, sagte Sweetland. » Ich bin nicht der Einzige, der gegen diese Sache gestimmt hat. «

» Das ist richtig. Fünfundvierzig dafür, drei dagegen, bei der letzten Abstimmung. Doch seit gestern sind Sie nur noch einer von zwei Haushalten, die sich nicht dazu bereit erklärt haben, das von uns angebotene Paket anzunehmen. «

» Zwei? «, sagte Sweetland.

Der Regierungsmann machte eine Pause und ließ die Information sacken. Langsam rührte er seinen Tee um, das Klirren des Löffels klang wie die gebrochene Stange in der Mechanik einer Aufziehpuppe.

» Nur noch ich und Loveless? «

» So sieht es aus «, sagte er.

Sweetland rieb eine Weile gedankenverloren über die Tischplatte und entschuldigte sich dann. Er ging hinaus durch den Flur und die enge Stiege hinauf zum Badezimmer. Er klappte den Toilettendeckel runter und setzte sich ein paar Minuten hin, einen Ellbogen auf die Fensterbank gestützt. Von dort konnte er die Rückseite von Loveless’ Grundstück sehen, die uralte Scheune, die eine ausgemergelte Kuh mit dem Maul im Gras. Bekanntlich hatte Loveless als Kleinkind einen Pint Kerosin getrunken, was nach Sweetlands Empfinden alles über diesen Mann sagte, was man wissen musste. Er hatte vierundzwanzig Stunden Schluckauf gehabt und seine Windeln stanken nach Öl und Scheiße. Eine ganze Woche lang durfte niemand ein Streichholz in der Nähe des Kleinen anzünden.

 

Und jetzt hing alles nur noch an ihm und dem beschissenen Loveless.

» Entschuldigung «, sagte Sweetland, als er in die Küche zurückkehrte.

Der Regierungsmann winkte ab. Er sagte: » Ich muss zugeben, dass ich neugierig bin, Mr Sweetland. «

» Worauf? «

» Ich will ja nicht herumschnüffeln «, sagte er, was Sweetland so verstand, dass er herumschnüffeln würde. » Doch Sie lehnen eine bedeutende Barauszahlung ab. Im Grunde ist die ganze Stadt gegen Sie. «

» Und? «

» Ich frage mich einfach, was eigentlich dahintersteckt. «

Sweetland beschloss, dass er den kleinen Scheißer nicht mochte. Kein bisschen. Er zeigte mit seiner Tasse auf den Aktenkoffer. » Ich denke mir, dass Sie alles, was Sie über mich wissen müssen, da in Ihrer Tasche haben. «

Der Regierungsmann betrachtete ihn eine Sekunde, dann zog er einen Ordner aus dem Koffer. » Moses Louis Sweetland «, las er. » Geboren am vierzehnten November 1942. Damit sind Sie … « Er sah auf.

» Diesen Herbst neunundsechzig. «

» Mathe ist nicht gerade meine Stärke «, sagte er. » Angehörige: keine. «

» Gott «, sagte Sweetland. » Ich bin mit der Hälfte der Leute in Chance Cove verwandt. «

» Keine unmittelbaren Angehörigen, das ist wohl damit gemeint. Eltern verstorben. Bruder und Schwester? «

» Beide tot. «

» Familienstand: ledig. « Er blickte erneut auf. » Nie verheiratet, ist das richtig? «

Sweetland zuckte mit den Schultern und sagte: » Gucken Sie sich dieses Gesicht an «, was den jungen Mann dazu brachte, sich wieder seinen Papieren zuzuwenden.

» Beschäftigung «, sagte er. » Leuchtturmwärter, pensioniert. «

» Ich wurde entlassen, als sie das Licht vor zehn Jahren automatisiert haben. «

» Davor waren Sie Fischer? «

» Bis zum Moratorium 1992. «

» Dann haben Sie nie woanders gelebt? «

» Ein paar Fahrten nach Toronto zum Arbeiten «, sagte er, » als ich ungefähr in Ihrem Alter war. «

Der Regierungsmann machte eine Handbewegung zu seinem eigenen Gesicht, als fürchtete er sich davor, auf Sweetlands Narben zu zeigen. » Ist das da passiert? «

» Was steht da noch drin? «

Er schloss den Ordner und lehnte sich zurück. » Das ist alles «, sagte er.

» Nicht viel, wenn Sie so wollen. «

» Nicht genug, um mir zu sagen, warum Sie gegen diesen Umzug sind. «

» Einfach starrköpfig, schätze ich mal. «

» Lieber würden Sie hier bei den Toten bleiben, ist es das? «

» Es gibt schlimmere Gesellschaft. «

Der Regierungsmann strich mit den Fingern leicht über die Tischkante, als säße er an einem Klavier und wollte keine Taste anschlagen. » Wie lange leben Ihre Leute schon hier draußen, Mr Sweetland? «

» Seit ewigen Zeiten «, sagte Sweetland und lächelte in sich hinein. » Seit zweihundert Jahren oder länger wird hier gefischt. Ich denke, dass meine Sippschaft die Ersten auf der Insel waren. «

» Wegen des Namens, meinen Sie das? «

Sweetland starrte ausdruckslos vor sich hin.

» Sie ist nach ihnen benannt. Ihre Familie und die Insel haben denselben Namen. «

» Ja «, sagte Sweetland. » Das meine ich. «

Dann blickten sie einander an und Sweetland konnte sehen, wie der Jüngere in seinem Kopf nach einem anderen Zugang suchte. Er stützte das Kinn in eine Hand und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nase. Dann beugte er sich auf die Seite, um die Akte zurück in die Tasche zu stecken. » Wie Sie wissen «, sagte er, » bietet die Regierung den Bewohnern von Sweetland ein Paket an, um sich irgendwo in der Provinz niederzulassen. Ein Minimum von hunderttausend Dollar pro Haushalt, das in Abhängigkeit von der Familiengröße und anderen Faktoren auf hundertfünfzigtausend Dollar aufgestockt werden kann. Dazu Anpassungshilfe und Unterstützung bei der Suche nach Arbeit oder Weiterbildung oder Umschulung. «

» Mein Gott «, sagte Sweetland, » und ich dachte, die Regierung sei bankrott. «

Der junge Mann ignorierte ihn. » Doch wir werden keinen Einzigen von hier umsiedeln, bevor wir nicht von allen eine Zusage für das Paket bekommen haben. «

Sweetland nickte. » Derselbe alte Blödsinn. «

» Es sind nicht die Sechzigerjahre, Mr Sweetland. Dieser Schritt wird dem Ort nicht aufgezwungen. Wir zahlen für die Umsiedlung der Bewohner, wie es von uns verlangt wurde. Doch wir werden nicht die Verantwortung für einen Verrückten mitten im Atlantik übernehmen, wenn alle anderen weg sind. «

» Der Verrückte wäre dann ich. «

» Nach dem Umzug wird es keine Fährdienste mehr geben. Was bedeutet, dass auch keine Vorräte mehr angeliefert werden. Es wird keinen Telefondienst geben. Kein Online-Banking, kein Poker. Keine Elektrizität. Laut Definition würde ich deshalb sagen, dass jeder, der allein hier draußen bleibt, als unzurechnungsfähig gelten muss. « Der Regierungsmann sah auf seine Uhr. » Man hat Sie über den Stichtag im September in Kenntnis gesetzt. «

» Man hat mich in Kenntnis gesetzt. «

» Es gibt Leute, die darauf hoffen, schon im Herbst umziehen zu können, was bedeutet, dass alle bis zum Ersten unterschreiben müssen. «

» Man hat mich in Kenntnis gesetzt «, sagte Sweetland erneut.

Der Regierungsmann griff in eine Innentasche seines Mantels. » Hier steht meine Mailadresse und auch die Handynummer. Sie können mich jederzeit kontaktieren. «

Sweetland legte die Karte auf ein Regal über der Theke und folgte seinem Gast durch den Flur, um ihn aus der Tür hinauszulassen, durch die er eingetreten war. Beim Gehen stützte er sich mit einer Hand auf eine Stuhllehne und dann an die Wand, da der Boden unter seinen Füßen schwankte.

Das Licht blendete durch die offene Tür herein und Sweetland trat bis zur ersten Stufe nach draußen. Er beschattete seine Augen, um hinunter zum Wasser zu schauen. Die Leute in ihren Gärten, auf den Wegen oder am Kai bemühten sich, nicht in seine Richtung zu blicken.

Der Regierungsmann blickte ebenfalls hinunter zum Hafen, und Sweetland konnte nicht anders, als den Ort mit den Augen des Fremden zu sehen. Eine Ansammlung kunststoffverkleideter Bungalows, die Hälfte davon leer stehend. Schuppen mit Giebeldächern und Propantanks und Geländefahrzeuge und angehäuftes altes Gerümpel, wie Treibgut, das von einer Naturkatastrophe an die Böschung gespült wurde. Die weiße Kirche an der Landspitze, die Fisherman’s Hall mit Rita Verges handgemaltem MUSEUM-Schild am Seiteneingang. Eine Handvoll altersschwacher Boote, vertäut in der Bucht.

» Das ist eine schöne Aussicht «, sagte der Regierungsmann. » Ich kann verstehen, warum Sie das nicht verlassen wollen. «

» So sind Sie mir gar nicht vorgekommen «, sagte Sweetland, » wie ein Arschkriecher. «

» Ich arbeite für die Regierung «, sagte der junge Mann und zuckte freundlich mit den Schultern. » Das ist wohl Teil der Aufgabe. «

Er mochte das Arschloch nicht, wirklich. Kein bisschen.

Er hebelte die Tür zurück in den Rahmen und lehnte sich an die Wand. Sah hinüber zu einem ovalen Schwarzweiß-Porträt seines Großvaters neben der Tür. Ein junger Mann aus einer anderen Zeit – hochgestellter Kragen, Weste, die Kette der Taschenuhr, gepflegter, gewachster Schnurrbart.

» Also, Onkel Clar «, sagte er. » Jetzt sind es nur noch ich und Loveless. «

Die Augen des Mannes auf dem Bild blickten zur Seite, als wollte er das Thema vermeiden.

Sweetland ging hinaus zu seinem Rübenkeller und holte die letzten Saatkartoffeln, verbrachte dann eine Stunde damit, sie im Garten einzupflanzen. Als er fertig war, spritzte er Harke und Spaten mit dem Schlauch sauber und brachte sie zurück in den Schuppen. Er wusch sich in der Küche die Hände und sah durch das winzige Fenster über der Spüle Queenie Coffin von nebenan, die durch ihr Fenster eine Tüte Samen auf den Erdstreifen darunter streute. Damit hatte der Sommer – oder was man so als Sommer bezeichnete – wirklich und wahrhaftig begonnen.

So gut wie alle anderen aus der Bucht hatten sich für das Treffen mit dem Regierungsmann in der Fisherman’s Hall versammelt und im Ort herrschte eine unheimliche Stille, als wäre die Insel bereits verlassen. Er rechnete damit, dass nach dem Treffen Reet Verge zu ihm geschickt werden würde, um ihn zu bearbeiten, deshalb packte er ein paar Sachen in den Rucksack und fuhr mit dem Quad aus der Bucht, um ihr aus dem Weg zu gehen. Er kam an dem Pfad zum neuen Friedhof vorbei und fuhr weiter hoch bis zur Spitze der Hügel.

Oben hielt er neben dem Königsstuhl an, um den Ausblick auf Chance Cove und den Norden und Süden der Insel in sich aufzunehmen, auch wenn Jesse nicht dabei war. Jesse hatte ihn schon tausend Mal gefragt, ob man die Steine für die annähernde Form eines Thrones gesammelt hatte oder ob es sich um eine zufällige Zusammenstellung handelte, doch keiner der lebenden Anwohner kannte die Antwort. Womöglich hatte auch noch nie jemand diese Frage gestellt.

Sweetland ging bis zum Leuchtturm, um ein paar Kaninchenfallen aufzustellen, die er mit Jesse am nächsten Morgen überprüfen konnte. Eine Überraschung, um den Jungen willkommen zu heißen und ihm den Stadtstaub einer ganzen Woche aus dem Mund zu spülen.

Es war fast vier Uhr, als er nach Chance Cove zurückkehrte. Der Regierungsmann war wieder auf der Fähre und die Abgesandte der Gemeinde bei Sweetlands Haus gewesen und erst einmal wieder weggegangen. Er schob das Quad zurück in den Schuppen und bedeckte die Maschine mit einer Plane, bevor er durch den hinteren Anbau ins Haus ging. Ließ kaltes Wasser aus dem Hahn laufen, während er nach einem Glas griff.

Sweetland zog die Hand zurück, als er das gefaltete Stück Papier berührte, das in den Schrank geschoben war. Stand einen Augenblick still, während das Wasser weiterlief, und überlegte, wann er den Schrank das letzte Mal geöffnet hatte. Er benutzte tagelang dasselbe Glas aus dem Abtropfgestell, was bedeutete, dass es irgendwann in der letzten Woche dort hingekommen war. Er stellte den Wasserhahn ab und zog das Papierstück heraus, hielt es auf Armlänge von sich. ZIEH AUS, las er, ODER ES WIRD DIR LEIDTUN.

Er faltete das Papier wieder zusammen und öffnete die Schublade unter den Gabeln und Messern, legte es zu den anderen Zetteln, die er während der letzten sechs Monate im Haus gefunden hatte. Sie waren alle gleich, auf komische Art unheimlich, mit vagen Drohungen gegen seine Person und seinen Besitz, die Worte und Buchstaben aus Zeitungsüberschriften ausgeschnitten und auf Papier geklebt, wie bei Lösegeldforderungen im Kino. Es war so amateurhaft, dass Sweetland zuerst angenommen hatte, Loveless würde dahinterstecken, doch die Rechtschreibung war mehr oder weniger korrekt. Und Loveless war der Einzige, der noch mit ihm ausharrte.

Sweetland schloss die Schublade und nahm sich ein Glas, trank das Wasser in langsamen Schlucken. Er konnte sich nicht dazu durchringen, die Drohungen ernst zu nehmen, und hatte sie niemandem gegenüber erwähnt. Er war sich nicht sicher, warum er sie überhaupt behielt. Nur für den Fall, dachte er. Obwohl er nicht sagen konnte, welcher Fall das genau sein würde.

Am nächsten Morgen war er früh auf und ließ das Radio laufen. Machte sich ein Sandwich und eins für Jesse, packte sie zusammen mit zwei Dosen Pfirsiche ein. Im Anbau zog er die Stiefel an und brachte Mantel und Rucksack nach draußen. Hielt dort einen Augenblick inne und horchte, knallte dann die Tür so heftig zu, wie er konnte. Pilgrims im Hof angebundener Hund bellte wie verrückt, und es hallte vom Hügel hinter der Bucht zurück.

» Halt’s Maul, Diesel! «, rief Sweetland lauter als nötig. » Halt verdammt noch mal dein Maul! «

Im violetten Schein der am Schuppen befestigten Straßenlaterne hantierte er am Geländefahrzeug, schnallte seine Zweiundzwanziger an die Lenkstange, band den Rucksack hinten auf die Transportbox. Hörte dann Pilgrims Tür auf- und zugehen und das Geräusch des herbeilaufenden Jungen. Blickte auf und sah ihn neben dem Haus entlangmarschieren. Er war nur noch einen guten halben Meter von Sweetland entfernt, als er plötzlich strammstand und in das Gesicht des alten Mannes blickte.

 

Der Junge war schmächtig und blass, als wäre er zu lange im Wasser eingeweicht worden. Im violetten Licht wirkte sein Gesicht fahl und leichenblass. » Jesse «, sagte Sweetland. Mit dem Namen des Jungen hatte er nie seinen Frieden gemacht. Er klang tuntig, feminin, wie in diesen Seifenopern, die Sweetlands Mutter sich immer angesehen hatte. Er hatte mit einem halben Dutzend Spitznamen versucht, den Jungen umzutaufen – Bucko, Mister Man, Hunter –, doch Jesse antwortete immer nur auf seinen richtigen Namen.

» Fährst du hoch in die Marsch? «, fragte der Junge.

» Hab ein paar Fallen aufgestellt «, sagte Sweetland. » Wollte mal nachsehen, ob ich Glück hatte. Weiß Clara, dass du hier bist? «

» Mom schläft noch. Ich habe es Pop gesagt. «

» Und was hat dein Opa gemeint? «

» Er meinte, ich soll keine Nervensäge sein. «

Sweetland nickte. » Hol deinen Helm aus dem Schuppen «, sagte er.

Sweetland fuhr hinter seinem Haus los und als sie oben am Weg den Königsstuhl erreichten, klatschte ihm Jesse auf die Schulter und rief, er solle anhalten. Er sprang vom Quad und rannte hinüber zu den Steinen, wobei er den Helm vom Kopf nahm. Die Sonne kam erst jetzt richtig heraus und der Ozean färbte sich im neuen Licht tiefblau. Jesse sprang auf den Sitz und breitete die Arme aus. » Ich bin der König der Welt! «, rief er und seine Stimme hallte den Hügel hinunter bis zur Bucht. » Ich bin der König der Welt! «

Sweetland musste zugeben, dass er der einzige Mensch in der gesamten Christenheit war, der diesen gottverdammten Titanic-Film nicht gesehen hatte. Jesse dagegen kannte ihn so gut, dass er jeden Dialog wörtlich zitieren konnte und das auch manchmal tat. Wenn sie an dem Thron vorbeikamen, bestand er jedes Mal darauf, dass sie anhielten, und Sweetland wartete auf dem Quad, während der Junge den Moment genoss.

» Kommen Sie, Eure Hoheit «, sagte er schließlich, » der Tag wird nicht jünger. «

Hinter dem Königsstuhl bog der Weg östlich ab zu Vatcher’s Meadow, wo Glad Vatcher seine Tiere übersommern ließ – ein halbes Dutzend Kühe und ein Bulle, sowie zwanzig Schafe, eingezäunt auf vierzig Morgen Sumpfgras und Ginster. Zu beiden Seiten war ein Gatter, damit Menschen die Wiese überqueren konnten, wenn die Tiere den Winter über im Stall waren, doch im Sommer verlief der Pfad um das Feld herum. Sie fuhren einen knappen Kilometer den Stacheldrahtzaun entlang landeinwärts, bis sie auf der anderen Seite wieder auf den Weg trafen, der sich nach Osten über die Landspitzen nach Burnt Head verzweigte. Das Plateau war mit massiven Granitfelsen gesprenkelt, von denen Jesse behauptete, dass sie Findlinge genannt und am Ende der letzten Eiszeit von zurückweichenden Gletschern liegen gelassen wurden.

So was bringen sie euch heutzutage in der Schule bei?, hatte er gefragt.

Hab es im Fernsehen gesehen, sagte Jesse.

Für Sweetland war es ein Wunder, was alles im Kopf des Jungen hängen blieb. Er bestand noch immer darauf, sich zum Pinkeln vollständig auszuziehen, und es war nicht sicher, dass er die Toilette spülte, doch er konnte Vorträge über hundert verschiedene Themen halten – Flugzeuge, das Verdauungssystem, Mondlandungen, den Mount Everest, Tischtennis, Walfische. Sweetland graute davor, wenn der Junge mit Walfischen anfing: ihre lateinischen Namen, ihre Anzahl und Größe, ihre Ernährung, ihre Wanderrouten, der Klang und die Bedeutung ihrer Gesänge. Es war fast so, als würde eine Kassette im Kopf des Jungen nur darauf warten, dass jemand den Startknopf drückte.

Hinter der Marsch schwenkte der Weg in Richtung Meer ab. Alle zwanzig Meter befanden sich uralte Steinhaufen neben dem Pfad, um die Fußgänger davon abzuhalten, in der Dunkelheit oder bei stürmischem Wetter über den Klippenrand zu stürzen. Fast einhundert Meter bis zur Brandung darunter. Hinter der Anhöhe konnte man gerade so die Spitze des alten Leuchtturms erkennen, draußen am Burnt Head.

Sweetland parkte hinter dem verlassenen Haus des Leuchtturmwärters, das die zehn Jahre unbesetzt war, seit man das Leuchtfeuer automatisiert hatte. Jesse lief die morschen Stufen hinauf, hielt die Hände an die Fenster und nannte die neusten Schäden. Sturmböen hatten die Dachschindeln an der Meerseite abgedeckt, und die erbarmungslose Feuchtigkeit war durch die Decke gefault, der Fußboden übersät mit Brocken der Deckenverkleidung und durchweichter Dämmung. Überall lagen Mäuse­köttel. Sweetland hasste es, auch nur hinzusehen. » Geh da bloß nicht rein «, rief er.

Er nahm seine Zweiundzwanziger und den Rucksack vom Quad und sie gingen wieder landeinwärts. Das neue Leuchtfeuer blinkte zu ihrer rechten Seite, als sie sich von dem verfallenen Gebäude entfernten. Heutzutage war es nur ein Blinklicht auf einem metallenen Dreibein, das an der äußersten ­Stelle in den Felsen gebohrt war. Dreißig Meter nördlich war ein Hubschrauber­landeplatz auf die Fever Rocks gebaut worden, den die Küstenwache nutzte, wenn sie Vorräte zum Leuchtturmwächter brachte oder das Leuchtfeuer warten musste. Jesse hatte ihm erzählt, dass man so einen Hubschrauberlandeplatz Helipad nannte.

Das hast du dir ausgedacht, hatte Sweetland gesagt.

Hab ich nicht.

Es gibt gar kein Wort wie Hellspad.

Helipad, hatte Jesse wiederholt. Nichts traf den Jungen mehr als Ungenauigkeit oder Ausgedachtes. Bei dieser bemerkenswerten Ausnahme war er übertrieben wortgetreu. Er buchstabierte Helipad für Sweetland, um die Korrektheit des Wortes zu unterstreichen. Er war schon immer ein Meister im Buchstabieren gewesen. Dem Reverend zufolge mit einem fast fotografischen Gedächtnis. Der Reverend meinte auch, dass man den Jungen noch vor einer Generation als Idiot Savant bezeichnet hätte.

Ich würde sagen, das stimmt ungefähr zur Hälfte, hatte Sweetland gesagt.

Sweetland nannte es weiter Hellspad, obwohl der Junge protestierte. Er ließ keine Gelegenheit aus, Jesse in seiner kindlichen Ernsthaftigkeit zu necken. Damit hatte er gehofft, den Jungen vom ausgetretenen Pfad seiner Gedanken wegzulocken und ihn dazu zu bringen, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es hatte zwar keinen merklichen Unterschied gemacht, aber er war hauptsächlich aus Gewohnheit dabeigeblieben. Jesse wiederum schien Sweetlands Neckerei als etwas Gegebenes zu akzeptieren, ließ ihm fast gönnerhaft die Freiheit, sich wie ein Narr zu benehmen, wie ein Hofnarr in Jesses Königreich der Genauigkeit.

Jenseits des Landeplatzes befand sich ein stillgelegtes Windenhaus, und man hatte von der Winde bis hinunter zum Wasser über die ganzen sechzig Meter eine Reihe von Leitern in die Klippen geschraubt, die in seltsamen Neigungen den Konturen der Felswand folgten. Die Fever Rocks waren der Zugang für den Leuchtturmwärter, lange bevor Hubschrauber eine Option waren, dabei wurden die Vorräte und Materialien mit der Winde von den Booten nach oben gezogen. Die Leitern wurden als Notzugang zum Leuchtfeuer noch immer gewartet, falls es für den Hubschrauber zu neblig war. Sie wirkten, als wären sie vom Cartoonzeichner Dr. Seuss konstruiert und gebaut worden. Seit Generationen waren die Jugendlichen der Insel hinausgerudert, um als Mutprobe über die Leitern hinaufzuklettern. Sweetland hatte es selbst einmal geschafft, er und Duke und Pilgrim, mitten in der Nacht und stockbetrunken. Bei dem Anblick wurde ihm noch immer etwas schwindlig, fast sechzig Jahre danach.

Der Pfad führte in eine Gegend mit Buschwald und verlief oberhalb einer in den Inselrücken gekerbten Schlucht, von dort weiter bis zu deren südlicher Spitze. Auf diesem Weg pflegte der Leuchtturmwärter zum Leuchtfeuer am Südende oberhalb der Mackerel Cliffs zu kommen, was in früheren Zeiten eine fünfstündige Fahrt mit der Pferdekutsche war. Sweetland schaffte es mit dem Quad in einer guten Stunde. Der Weg wurde nur noch selten genutzt und war fast überwuchert, die Fichten rückten immer näher. Die beiden mussten hintereinander gehen, ­Jesse voran, und die feuchten Äste durchnässten beim Gehen ihre ­Ärmel.