Umgang mit Heterogenität an Berufsfachschulen (E-Book)

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Aus der Reihe: Didaktische Hausapotheke #12
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Umgang mit Heterogenität an Berufsfachschulen (E-Book)
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Martin Berger, Manfred Pfiffner

Umgang mit Heterogenität an Berufsfachschulen

Didaktische Hausapotheke, Band 12

ISBN Print: 978-3-0355-0768-3

ISBN E-Book: 978-3-0355-0773-7

Coverbild: iStock.com/agsandrew

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

1 Heterogenität in der Berufsfachschule

1.1 Heterogenität trotz Selektion

1.2 Heterogenitätsmerkmale

1.3 Ein Bild der Heterogenität an Berufsfachschulen

2 Diagnose der Heterogenität

2.1 Relevanz und Stand der Diagnosekompetenz von Lehrpersonen

2.2 Drei Grundfragen zur Erfassung von Heterogenität

2.3 Die Kurzbiografie

2.4 Förderorientiertes Feedback

3 Umgang mit Heterogenität

3.1 Ein professionell-pragmatischer Ansatz

3.2 Zusammenfassung

4 Differenzierungsmassnahmen

4.1 Differenzierte Lernumgebungen

4.2 Zweistrangkonzept einer differenzierten Lernumgebung

Literaturverzeichnis

Tabellen und Abbildungen

Die Autoren

Vorwort des Herausgebers

Eine gut ausgestattete Hausapotheke gehört in jeden Haushalt, um kleinere Verletzungen oder Erkrankungen selbstständig zu behandeln. Auf diesem Grundgedanken basieren die «didaktischen Hausapotheken», welche die Pädagogische Hochschule Zürich zusammen mit dem hep verlag konzipiert hat. Doch unsere Hausapotheken sind nicht für Notfälle im Unterricht gedacht. Sie sind vielmehr Anleitungen zur Selbsthilfe bei der Entwicklung der eigenen Berufskompetenz.

Die Hefte greifen aktuelle Herausforderungen aus Unterrichtspraxis und Schulalltag auf. Sie beziehen sich auf die typischen Handlungsfelder*, in denen Lehrpersonen im Beruf tätig sind.

Wer sich mit ihren Inhalten auseinandersetzt, erhält einen Mix aus nützlichem Hintergrundwissen, Anstössen zur Reflexion und praktischen Empfehlungen – eine Rezeptologie im besten Sinne des Wortes.

Die vorliegende Hausapotheke widmet sich einem pädagogisch-didaktischen Dauerbrenner: dem Umgang mit Heterogenität. Die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Lernenden sind eine der grössten Herausforderungen im Lehrerberuf. Für den professionellen Umgang auf diesem Gebiet bietet die Hausapotheke eine wichtige Hilfestellung. Sie zeigt ein aktuelles, differenziertes Bild der Heterogenität an Berufsfachschulen und empfiehlt Diagnose- und Reaktionsstrategien sowie konkrete Massnahmen, um den unterschiedlichen Berufslernenden gerecht zu werden.

Prof. Dr. Christoph Städeli

Leiter der Abteilung Sekundarstufe II/Berufsbildung der

Pädagogischen Hochschule Zürich

Einleitung

Heterogenität im Klassenzimmer ist ein «pädagogischer Dauerbrenner» (Tillmann, 2014). Im Umgang mit Heterogenität liegt womöglich eine der grössten Herausforderungen des Lehrberufs. Dies widerspiegelt sich auch in zahlreichen Studien und Lehrbüchern zum Thema – die sich allerdings kaum je auf die Berufsfachschule beziehen.

Mit der vorliegenden «didaktischen Hausapotheke» wollen wir einen Beitrag leisten, um diese Lücke zu schliessen. Berufsfachschullehrpersonen wird erstens eine Übersicht zum Thema «Heterogenität an Berufsfachschulen» geboten. Zum Zweiten zeigen wir, wie sich Heterogenität effizient erfassen lässt; und drittens stellen wir allgemeine Strategien und konkrete Massnahmen zum effektiven Umgang mit Heterogenität im Berufsfachschulunterricht vor.

Kapitel 1 (Heterogenität in der Berufsfachschule) führt in die Thematik der Heterogenität in der beruflichen Grundbildung ein. Die zentralen Merkmale von Heterogenität werden besprochen, immer auch bezogen auf die Berufsfachschule. Im Anschluss zeichnen wir ein differenziertes Bild der Heterogenität an Berufsfachschulen und setzen uns dabei mit drei wesentlichen Befunden auseinander.

Bedingung für einen professionellen Umgang mit Heterogenität ist, dass in einem ersten Schritt die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden erfasst werden. Darauf geht Kapitel 2 (Diagnose der Heterogenität) ein. Anhand von drei Grundfragen demonstrieren wir konkret, wie sich Unterschiede im Klassenzimmer adäquat erfassen lassen. Im Anschluss befassen wir uns auch mit dem förderorientierten Feedback.

Berufsfachschullehrpersonen unterrichten meist mehrere Klassen parallel und arbeiten nicht selten mit um die Hundert Lernenden. Sie sind deshalb bei der Umsetzung von Differenzierungsmassnahmen besonders gefordert. In Kapitel 3 (Umgang mit Heterogenität) besprechen wir zunächst die allgemeine Herangehensweise an Heterogenität. Wir stellen ein professionell-pragmatisches Konzept vor und skizzieren drei grundsätzliche Strategien, wie Berufsfachschullehrpersonen auf die Unterschiede in den Klassen reagieren können.

Das vierte und letzte Kapitel (Differenzierungsmassnahmen) ist konkreten Massnahmen zur Differenzierung im Klassenzimmer gewidmet. Wir zeigen, dass sich solche Massnahmen auf jeden Bereich des unterrichtlichen Handelns beziehen können und differenzierte Lernumgebungen eine sinnvolle Herangehensweise darstellen, um den unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden auf mehreren Ebenen zu begegnen. Konkret und exemplarisch wird ein Zweistrangkonzept vorgestellt, das sich gut für den Berufsfachschulunterricht eignet.

1 Heterogenität in der Berufsfachschule

Zum Thema «Heterogenität in der Volksschule» liegen zahlreiche Publikationen vor, auch wissenschaftliche Studien (vgl. z. B. Bohl, Budde & Rieger-Ladich, 2017); entsprechende Erhebungen zu den Berufsfachschulen gibt es hingegen kaum (vgl. Portmann, 2012). Die Resultate der PISA-Studie (die sich auf die Volksschule beschränkt) weisen aber darauf hin, dass auch Berufsfachschulklassen alles andere als homogen sind. Darum geht es in Abschnitt 1.1. Um ein Bild der Heterogenität an Berufsfachschulen zu gewinnen, müssen zunächst die relevanten Dimensionen der Heterogenität definiert werden. In Abschnitt 1.2 werden die wesentlichen Lernendenmerkmale definiert und deren Ausprägung beschrieben, wiederum auch bezogen auf Lernende in der beruflichen Grundbildung. In Abschnitt 1.3 werfen wir schliesslich einen differenzierten Blick auf die Heterogenitätsstruktur von Berufsfachschulklassen.

1.1 Heterogenität trotz Selektion

 

Jedes Jahr treten schweizweit durchschnittlich mehr als 70 000 Lernende von der Volksschule in die Berufsfachschule über. Jede und jeder neue Berufslernende bringt eine eigene, durch viele Erlebnisse und Ereignisse geprägte Schulbiografie mit. Nicht wenige Jugendliche haben bereits beim Übertritt in die Sekundarstufe I eine – oft nicht ganz einfache – Übertrittsselektion hinter sich, häufig mit prägenden und einschneidenden Erfahrungen. Die einen haben es – vorwiegend dank guten schulischen Leistungen – in die höheren Schulstufen geschafft, andere müssen mit den tieferen Stufen vorliebnehmen.

Dass die Zuweisung zu den Leistungsstufen nicht optimal klappt, offenbaren die PISA-Resultate regelmässig. Wir zeigen das hier am Beispiel des Bereichs Mathematik im Kanton St. Gallen: Nimmt man das gesamte Leistungsspektrum in den Blick, das heisst die ganze Spannweite der Leistungen von den schwächsten bis zu den stärksten Lernenden, werden die Leistungsüberschneidungen zwischen den verschiedenen Schultypen deutlich sichtbar ( Abbildung 1). Die Fläche unter der Kurve in der Grafik repräsentiert die Anzahl der Lernenden im jeweiligen Schultyp, während die Breite das Leistungsspektrum pro Schultyp abdeckt. Es zeigt sich, dass die Hälfte der Realschülerinnen und -schüler in Mathematik Leistungen zeigen, wie wir sie auch in der Sekundarschule antreffen (horizontal schraffierter Bereich) (Buccheri, Brühwiler, Erzinger & Hochweber, 2014, S. 55). Bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sind es 85 Prozent, deren Leistungen von den (30 Prozent besten) Lernenden aus der Sekundarschule egalisiert werden (vertikal schraffierter Bereich). Sogar zwischen Gymnasium und Realschule lassen sich Leistungsüberlappungen (doppelt schraffierter Bereich) erkennen: 14 Prozent der Lernenden der Realschule erzielten im PISA-Mathe-Test Leistungen, die denjenigen von (eher schwachen) Lernenden des Gymnasiums entsprechen. An den sich abflachenden Kurvenverläufen wird aber auch deutlich, dass nur sehr wenige Lernende mit den Leistungsstärksten des nächsthöheren Niveaus mithalten können (ebd.).

Abbildung 1: Verteilung der Mathematikleistungen zwischen den drei Schultypen im Kanton St. Gallen (Buccheri u. a., 2014, S. 56). Die Werte der vertikalen Achse sind so normiert, dass die Flächen unter den einzelnen Kurven der Schülerzahl des entsprechenden Schultyps entsprechen. Waagrecht schraffiert: Überschneidungsbereich Realschule/Sekundarschule; senkrecht schraffiert: Überschneidungsbereich Sekundarschule/Gymnasium; doppelt schraffiert: Überschneidungsbereich Realschule/Gymnasium

Die Grafik bezieht sich, wie gesagt, auf die Leistungen im Bereich Mathematik; in den anderen getesteten Kompetenzbereichen (Lesen und Naturwissenschaften) sieht die Verteilung aber sehr ähnlich aus.

Diese empirisch festgestellten Leistungsüberschneidungen sind als Indikator dafür zu deuten, «dass die dahinter stehende schulische Selektion in starkem Masse von anderen Faktoren als der Leistung beeinflusst wird» (a.a.O., S. 56). Man kann von einem unentwirrbaren Knäuel an Unterschieden sprechen (vgl. von der Groeben, 2003, S. 6), der selbstverständlich auch an Berufsfachschulen anzutreffen ist. Die Selektionsmechanismen des Übergangs von der Sekundarstufe I in die berufliche Grundbildung sind betrieblich organisiert und dabei sehr unterschiedlich und oft unsystematisch. Dies führt tendenziell dazu, dass die Heterogenität in den Berufsfachschulklassen im Vergleich zu den Zubringerschulen eher noch zunimmt. Klaus Jenewein, ein Berufspädagogikforscher, fasst diesen Fakt wie folgt zusammen: «Zunehmende Heterogenität führt [...] zu einer weiter abnehmenden Homogenität in den Berufsschulklassen. Lehrkräfte nehmen dies oft als ein steigendes Problempotential wahr» (Jenewein, 2017, S. 89).

Aus welchen Unterschieden besteht denn nun dieser «Knäuel», und wie gross sind die Unterschiede in den Berufsfachschulen konkret?

1.2 Heterogenitätsmerkmale

Unterschiede zwischen Menschen beziehen sich grundsätzlich auf alle möglichen Merkmalsbereiche. Für Lehrpersonen ist es sinnvoll, ihr Augenmerk nur auf Merkmale zu richten, die einen wesentlichen Einfluss auf das Lernen haben. Die folgenden Ausführungen beschränken sich deshalb auf sieben Bereiche, die für Lernen als besonders relevant betrachtet werden (vgl. Reusser, Stebler, Mandel & Eckstein, 2013) ( Tabelle 1).

Tabelle 1: Zentrale Bereiche der Heterogenität bei Lernenden. Quelle: Reusser u. a. (2013)

1.2.1 Kognitive Leistungsfähigkeit und Vorwissen

Die kognitive Leistungsfähigkeit zählt zusammen mit dem Vorwissen zu den leistungsbezogenen Lernendenmerkmalen. Die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, eben die kognitive Lernleistungsfähigkeit, wird auch als kognitive Intelligenz bezeichnet und gilt als zentrales Heterogenitätsmerkmal, da sie die grundsätzliche Lernkapazität der Lernenden bestimmt (vgl. Hesse & Latzko, 2017). Letztere wird jedoch zu einem wesentlichen Teil auch durch das bestehende Vorwissen bestimmt, da es den Anknüpfungspunkt für neues Wissen darstellt. Es kann deshalb nicht genügend hervorgehoben werden, dass Lehrpersonen in ihrem Unterricht zwingend auf das (unterschiedliche) Vorwissen ihrer Lernenden eingehen müssen, um einen guten Lerneffekt zu erzeugen (vgl. Lipowsky, 2009).

Es ist Konsens, dass es vor allem die Unterschiede bei diesen beiden Merkmalen sind, beim Vorwissen und bei der kognitiven Leistungsfähigkeit, die in der Volksschule zu teilweise erheblichen Kompetenzunterschieden führen. So zeigen Ergebnisse aus der PISA-Studie 2009, dass im Kanton Zürich die leistungsstärksten Lernenden einen Kompetenzvorsprung von etwa acht Schuljahren auf die schwächsten haben (vgl. Reusser u. a., 2013, S. 27). Diese Leistungsunterschiede werden auf Sekundarstufe II zwar durch Selektionsmechanismen (Lehrstellenrekrutierung, Aufnahmeprüfungen usw.) vermindert, sie können jedoch kaum gänzlich aufgefangen werden.

1.2.2 Sprachfähigkeit

Für einen reibungslosen Übertritt in den Arbeitsmarkt und eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wird ein bestimmtes Mass an Sprachkompetenz vorausgesetzt. Sprachkompetenz gilt deshalb – auch wegen ihres Stellenwerts für die soziale Integration – als wichtiger Gradmesser für die Qualität von Bildungssystemen. Es erstaunt deshalb nicht, dass der mediale Aufschrei gross war, als die Ergebnisse der PISA-Erhebung 2015 den Schweizer Lernenden im Vergleich mit den OECD-Ländern eine unterdurchschnittliche Lesekompetenz zuschrieben (PISA, 2016). Die Validität dieser Resultate war und ist zwar umstritten – die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) stellte insbesondere die neue elektronische Erhebungsform infrage (EDK, 2016). Unbestritten ist jedoch, dass rund fünf Prozent der jungen Menschen in der Schweiz während der obligatorischen Schulzeit eine Mindestsprachkompetenz (PISA-Kompetenzstufe 2) nicht erreichen. Diese Mindestkompetenz ist auch für die erfolgreiche Teilhabe am (Berufsfachschul-)Unterricht zentral.

Im Unterricht führen Sprachdefizite dazu, dass nicht nur die Aufnahme von neuem Wissen erschwert ist, sondern auch die Wiedergabe, was den negativen Effekt auf den Schulerfolg verstärkt. Denn dieser hängt wesentlich davon ab, wie gut Lernende ihr Wissen bei schriftlichen und mündlichen Tests sprachlich formulieren können.

Was in der Schweiz in dieser Hinsicht weiter ins Gewicht fällt, ist ein relativ hoher Anteil an Fremdsprachigen. So zeigt die offizielle Bildungsstatistik des Kantons Zürich eine stetige Zunahme dieses Anteils auf rund 40 Prozent (Reusser u. a., 2013). Untersuchungen auf der Basis von PISA-Daten des Kantons Zürich kommen zum Schluss, dass deutschsprachige gegenüber fremdsprachigen Lernenden zu Beginn der Lehre einen Lernvorsprung von etwa einem Schuljahr aufweisen (vgl. Moser & Angelone, 2011). Diesen Unterschied gänzlich auf die Sprachfähigkeit zurückzuführen, wäre allerdings falsch, da Fremdsprachige auch überproportional häufig aus sozial benachteiligten Verhältnissen stammen ( Abschnitt 1.2.4 zum soziokulturellen Hintergrund).

1.2.3 Lern- und Sozialverhalten

Beim Verhalten der Lernenden im Unterricht werden oft die Bereiche Lernverhalten und Sozialverhalten unterschieden, wobei sich beide kaum strikte trennen lassen.

Mit Lernverhalten wird die Art und Weise bezeichnet, wie sich Lernende gegenüber dem Lernen verhalten, es geht also massgeblich um ihre motivationale Orientierung, die sich stark auf die Schulleistung auswirkt (vgl. Hattie, 2013). Die Lernmotivation scheint bei Berufslernenden in der Grundtendenz vor allem im ersten Ausbildungsjahr zu sinken, steigt allerdings nicht selten gegen Ende der Lehrzeit wieder an (vgl. Knöll u. a., 2007). Für den Rückgang im ersten Lehrjahr sind wohl vor allem die Relativierung allzu positiver Erwartungen und die hohe Arbeitsbelastung verantwortlich, für den Wiederanstieg im letzten Lehrjahr das nahende Qualifikationsverfahren. Die Heterogenität des Lernverhaltens basiert aber nicht bloss auf der Stärke der Motivation, sondern auch auf den unterschiedlichen Gründen dafür ( Abschnitt 2.2.2).

Lernverhalten ist im Kontext einer Schulklasse immer auch soziales Verhalten. Liegt der Fokus auf dem Sozialverhalten im engeren Sinne, kommen zusätzlich Kategorien wie Regelkonformität, Selbstständigkeit, Kooperationsbereitschaft und soziale Integration ins Spiel. Ein allzu stark abweichendes Sozialverhalten wird auch als Verhaltensstörung oder Störung des Sozialverhaltens bezeichnet, wobei es verschiedene Ausprägungen gibt (Aggression, Hyperaktivität, Angst, Schüchternheit usw.). Verbreitet ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Wenn man bei Verhaltensstörungen von einer Prävalenzrate (Häufigkeitsrate) von 9 bis 13 Prozent (Schabmann, 2009) und von 5 Prozent bei ADHS (adhs.ch, 2018) ausgeht, liegt auf der Hand, dass sich in jeder Berufsfachschulklasse durchschnittlich ein bis zwei Betroffene befinden. Dies hat unbestritten grosse Auswirkungen auf die Didaktik und insbesondere auf die Klassenführung. Es empfiehlt sich deshalb, dass die Lehrperson von Verhaltensstörungen ihrer Lernenden Kenntnis hat. Umso erstaunlicher ist, dass dazu Informationen von der Sekundarstufe I offenbar nur in seltenen Fällen in die Berufsfachschulen gelangen.

1.2.4 Soziokultureller Hintergrund und Migrationshintergrund

Es ist unbestritten, dass Lernerfolg massgeblich durch das soziokulturelle Umfeld beeinflusst wird, das sich unter anderem über das Ausbildungsniveau der Eltern definiert. Einerseits, weil Lernende von ihrem Umfeld unterschiedlich stark unterstützt und begleitet werden, und andererseits (und unabhängig davon), weil der (Stellen-)Wert des Lernens und der Bildung allgemein schichtspezifisch weitergegeben wird. Wir sprechen von einem primären und einem sekundären Herkunftseffekt (Boudon, 1974 zitiert nach Becker, 2009). Der zweite Effekt führt dazu, dass Lernende aus sogenannt bildungsfernen Schichten im Vergleich auch dann weniger in die Bildung investieren, wenn sie in den Genuss von externer Unterstützung kommen.

Auf einen milieuspezifischen Einfluss auf das Lernen deuten auch aktuelle Publikationen hin wie beispielsweise die SINUS-Studie, die bei Jugendlichen insgesamt sieben Milieus definiert (vgl. Calmbach u. a., 2016). Darin wird unter anderem auf die milieuspezifische Wahrnehmung der Schule hingewiesen. Von Lernenden aus dem sogenannt prekären Milieu wird die Schule stark als Ort von Misserfolg und Konflikten wahrgenommen, während sie für Lernende aus dem materalistisch-hedonistischen Milieu vor allem einen wichtigen Sozialraum darstellt.

 
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