Salafismus

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Aus der Reihe: Islamica #1
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Salafismus
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[3]Mahmoud Jaraba

Salafismus

Die Wurzeln des islamistischen Extremismus am Beispiel der Freitagspredigten in einer salafistischen Moschee in Deutschland


[4]Dr. Mahmoud Jaraba ist Research Fellow am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar.

© 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Facultas Verlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggrafik/Kalligraphie: Wajdi al-Arouri

Umschlag: Atelier Reichert, Stuttgart

Gestaltung und Satz: grafzyx.com

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

ISBN 978-3-8252-5440-7 (print)

ISBN 978-3-8463-5440-7 (epub)

Elektronische Ausgabe (Online-Leserecht) ist erhältlich unter www.utb-shop.de.

[5]

Inhalt

Kapitel 1 Extremismus und Metanarrativ

1.1 Einleitung

1.2 Extremismus: Definition und Ursachen

1.3 Das salafistische Metanarrativ

1.4 Die Debatte um die Freitagspredigten

1.5 Ziele des Buches

1.6 Argumentation und Methoden

1.7 Warum Freitagspredigten?

1.8 Inhalt des Buches

Kapitel 2 Salafismus: Geschichte, Definition, Charakteristika

2.1 Einleitung

2.2 Historische Perspektive

2.3 Die sunnitischen Traditionalisten

2.4 Muhammad ibn Abd al-Wahhab

2.5 Wer sind die Salafisten? ‚Die errettete Gruppe‘

2.6 Der missionarische, der politische und der dschihadistische Salafismus

2.6.1 Der ideologische Salafismus

2.6.2 Der dschihadistische Salafismus

2.7 Grauzonen zwischen ideologischem und dschihadistischem Salafismus

2.8 Das gemeinsam Trennende

2.9 Die Umsetzung des islamischen Normensystems

[6]Kapitel 3 Das Salafisten-Netzwerk in Bayern

3.1 Einleitung

3.2 Zeitliche Entwicklung

3.2.1 Die Phase der 1990er Jahre

3.2.2 Die Phase infolge der Ereignisse des 11. September 2001

3.2.2.1 Aktivitäten der ersten Generation

3.2.2.2 Maßnahmen im Zuge des 11. September 2001

3.2.2.3 Das Erscheinen von Internetplattformen wie YouTube und Facebook

3.2.2.4 Die neuen missionarischen Prediger

3.2.3 Der Bürgerkrieg in Syrien

3.3 Die salafistischen Aktivisten

3.4 Weitere Anhänger

3.5 Merkmale der Salafisten in Bayern

3.5.1 Die Ideologie

3.5.2 Strukturen

3.5.3 Salafisten-Größen

3.5.4 Die salafistische Gemeinschaft

3.5.5 Die Finanzierung

3.5.6 Die junge Generation

3.5.7 Soziale Herkunft und Bildungshintergrund

3.5.8 Das religiöse Wissen

3.5.9 Binnenkonflikte

3.5.10 Das äußere Erscheinungsbild männlicher Salafisten

3.5.11 Salafistinnen

3.6 Die Konstruktion des ‚Anderen‘

Kapitel 4 Der Gottesstaat der Salafisten

4.1 Einleitung

4.2 Loyalität und Lossagung

4.3 Gottes auserwählte Gemeinschaft

4.4 „Das Fleisch der Gelehrten ist vergiftet“

4.4.1 „Die trügerischen Gelehrten“

4.4.2 Die „Gefolgschaft der Rechtschaffenheit“ und die „Gefolgschaft des Bösen“

4.5 Die Mission

4.5.1 Die Mission in den Freitagspredigten

4.5.2 Die Rückkehr zum Islam

4.5.3 „Die Ungläubigen vor der Hölle bewahren“

[7]Kapitel 5 Die Feinde der Muslime: Schia, Sufisten, ,Heuchler‘, Säkulare

5.1 Einleitung

5.2 Die Schia: „Ihre Religion ist nicht der Islam“

5.2.1 Der Streit um die Glaubensgrundsätze

5.2.2 ‚Land der Perser‘ und die ‚Partei von al-Lāt‘

 

5.3 Der Streit der Salafisten mit den Sufis

5.3.1 „Der Islam ist eine Sache und der Sufismus eine andere“

5.4 Die ‚Heuchler‘

5.4.1 Die ‚Heuchler‘ in Deutschland

5.5 Die Säkularen

5.5.1 Der Ursprung des Streits

5.5.2 Die Methode

5.5.3 Die Sprache

5.5.4 Das Eintreten für Gott

5.5.5 Der Kampf um Autorität

Kapitel 6 Die Vorherrschaft der Religion auf Erden

6.1 Einleitung

6.2 Die Kontrolle über die Regierungsgewalt

6.2.1 Die ‚Ermächtigung zur Herrschaft‘

6.2.2 Die ‚Herrschaft Gottes auf Erden‘

6.2.3 Untertanen, keine Staatsbürger

6.3 „Ihr seid die trefflichste Gemeinschaft, die jemals für die Menschen geschaffen wurde“

6.3.1 Das Christentum

6.3.1.1 Manipulation des Korantextes für politische Interessen

6.3.1.2 Nein zum Dialog, Ja zur Segregation

6.3.1.3 Die Wurzel des Konflikts: Die Kreuzzüge

6.3.2 Das Judentum

6.3.2.1 Die Verschwörungstheorie

6.3.2.2 Betrug

6.3.2.3 Die Korrumpierung der Welt

6.3.2.4 Antisemitismus

[8]Kapitel 7 Analytische Betrachtung

7.1 Einleitung

7.2 Salafistische Narrative auf dem Sinai und in Bayern

7.3 Mobilisierung der Religion

7.4 Isolation und Identitätskrisen

7.5 Schlusswort

Anhang Freitagspredigten

Politisch orientierte Predigten • Soziale und pädagogisch orientierte Predigten

Glossar

ad-daʿwa, ‚Mission‘ • ahl al-ḥadīṯ, ‚Anhänger des Hadith‘ • ahl al-kitāb, ‚die Leute des Buches‘ • ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa, ‚die Leute der Sunna und der Gemeinschaft‘ • al-walāʾ wa-l-barāʾ, ‚Loyalität und Lossagung‘ • anṣār, ‚die Helfer‘ • ʿaqīda, ‚Glaubensgrundsätze‘ • ar-rāfiḍa, ‚die Ablehnenden/die Verweigerer‘ • aš-šahāda oder Schahada, ‚islamisches Glaubensbekenntnis‘ • aṣ-ṣirāṭ, ‚Weg/Pfad‘ • at-tawḥīd, ‚Monotheismus‘ • bidʿa, ‚Neuerung‘ • biṭāna, ‚Gefolgschaft‘ • Dābiq • fāsiq, ‚Frevler‘ • fatwā, ‚religiöses Rechtsgutachten‘ • fiqh, ‚islamische Rechtswissenschaft‘ • fitna, ‚Verführung/Unruhe/Zwietracht/Bürgerkrieg‘ • ǧihād oder Dschihad, ‚Heiliger Krieg‘ • ḥākimīya, ‚die Herrschaft Gottes‘ • ḫilāfa, ‚Kalifat‘ • ḥudūd, ‚Grenzen‘ • ḥusainīya, ‚schiitisches Gotteshaus‘ • iǧtihād oder Idschtihad, ‚Anstrengung‘ • manhaǧ as-salafī, ‚salafistische Methode/Weg‘ • munāfiqūn, ‚Heuchler‘ • Muʿtazilā • ṣaḥāba, ‚die Altvorderen/Prophetengefährten‘ • šarīʿa oder Scharia, ‚islamisches Recht‘ • Šīʿa oder Schia • širk, ‚Götzendienerei‘ • ṣūfīya, ‚Sufis‘ • ṭāġūt, ,Götzen‘ • takfīr, ‚Ausschluss aus dem Islam‘ • tamkīn, ‚Ermächtigung‘ • umma oder Umma, ‚die Gemeinschaft der Gläubigen‘ • zakāt, ‚die islamische Almosensteuer‘

Literatur

[9]

Dank

Es ist mir ein besonderes Anliegen, an dieser Stelle meine Dankbarkeit denen auszusprechen, ohne die die Arbeit am und das Erscheinen des vorliegenden Buches nicht möglich gewesen wäre.

Meiner Frau Eman bin ich zu weit mehr an Dankbarkeit verpflichtet, als ich das jemals in Worte fassen könnte. Ihre unglaubliche Geduld, unermüdliche Ermutigung und einzigartige Fürsorge für unsere drei Kinder Danya, Raneem und Hadi, insbesondere in meiner häufigen Abwesenheit während meiner Feldforschung, haben alles erst möglich gemacht.

Ein Buch über Salafisten und Extremismus zu verfassen, erwies sich als wesentlich herausfordernder, als ich es ursprünglich erwartet hatte. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Mathias Rohe, der die Texte mit vielen wertvollen Anmerkungen kommentiert hat. Die uneingeschränkte Unterstützung meiner Kollegen und Freunde während meiner Feldforschung und anschließenden Schreibphase war dabei ebenfalls von unschätzbarem Wert. Jörn Thielmann, Tarek Badawia, David Malluche, Hatem Elliesie, Peter Spiewok, Gennadi Melnik und Abdelghafar Salim sind demgemäß wesentliche Anteile am Gelingen dieses Werkes zuzuschreiben. Ihnen gilt mein besonderer Dank, der weit über den rein fachlichen Austausch reicht.

Last, but surely not least, richte ich meine Dankbarkeit an Sabine Kruse vom facultas Verlag für die professionelle und verständnisvolle Betreuung sowie Andreas Deppe und Sina Nikolajew für das bewährt gründliche Lektorat.

Dieses Buch ist ein Ergebnis der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Islam in Bayern, welche ein Kooperationsprojekt zwischen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und dem Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa EZIRE an der FAU Erlangen-Nürnberg – geleitet von Prof. Mathias Rohe und Dr. Jörn Thielmann – war. Der Bayerischen Aka-[10]demie der Wissenschaften und ihrem Präsidenten Prof. Dr. Thomas O. Höllmann gilt mein herzlicher Dank für die Ermöglichung meiner Forschung. Das Ergebnis des Gesamtprojekts findet man unter https://islam.badw.de/die-arbeitsgruppe.html.

Die Ansichten und Analysen, die in diesem Buch formuliert werden, sind alleinig die des Verfassers. Die darin enthaltenen Befunde bestehen aus den originären Feldforschungsdaten des Verfassers. Diese wurden nach bestem Wissen und Gewissen unter sorgsamer Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards erhoben und ausgewertet.

[11]

Kapitel 1

Extremismus und Metanarrativ
1.1 Einleitung

Bevor ich meine Feldforschung zu der Beziehung zwischen Extremismus und Salafismus bzw. der Salafīya im Bundesland Bayern im November 2015 begann, hatte ich bereits eine grobe Vorstellung davon, was mich für ein Milieu erwarten würde (zur Geschichte, der Ideologie und den Glaubensgrundsätzen des Salafismus siehe Lauzière 2016). Ich verfolge die salafistische Szene seit vielen Jahren sowohl über Social Media als auch über ihre Aktivitäten in Moscheen. Daher war ich über die internen ideologischen Diskussionen, die von den Anhängern des Salafismus übernommen werden, sowie auch über ihre ablehnenden Haltungen gegenüber anderen, seien es andersdenkende Muslime oder Andersgläubige, auf dem Laufenden (für einen Überblick über die unterschiedlichen salafistischen Strömungen siehe Lohlker 2016).

Ich hatte bereits viel über die strengen Überzeugungen der Salafisten sowohl im Hinblick auf andere Muslime als auch auf durch ihre unterschiedliche Religion definierten ‚Anderen‘ gehört und gelesen. Dennoch versuchte ich möglichst unvoreingenommen an die Feldforschung heranzugehen und mein fachliches und thematisches Hintergrundwissen gegenüber den emischen Perspektiven der Akteure und der Erfahrung im Feld zurückzustellen. Nichtsdestotrotz stellte ich mich aus pragmatischen Gründen darauf ein, dass ich eventuell mit stark ideologisch gefärbten Aussagen und Sichtweisen konfrontiert werden würde, die stark von meinen persönlichen Standpunkten abweichen und zu emotionalen Konflikten in der Beziehung zu meinen Informanten führen könnten. Auch wenn wir in der ethnographischen Forschung stets das Ideal der Unvoreingenommenheit anzustreben haben, so ist dies doch [12]in der Praxis nie ganz zu erreichen, da unsere ‚wissenschaftliche‘ Perspektive immer zu einem gewissen Grad auch von subjektiven Faktoren und unserem theoretischen Hintergrundwissen beeinflusst wird. Diese Tatsache sollte nach Ansicht der meisten Ethnologen anerkannt und bewusst reflektiert werden, um ihren Einfluss auf die Annäherung an emische Perspektiven und Konzepte und damit auf die Objektivität der Forschungsergebnisse möglichst gering zu halten.

Ein Erlebnis während meiner Feldforschung, das ich überhaupt nicht erwartete und das mich trotz meiner Kenntnis der salafistischen Szene und ihrer Ideologie sehr überraschte, war der Erhalt einer SMS, die ich eines Abends Ende Oktober 2016 erhielt. Als ich von einem mühevollen und langen Arbeitstag, an dem ich Interviews mit einer Gruppe von ideologischen Salafisten (zur Definition siehe Abschnitt 2.6) geführt hatte, nach Hause zurückgekommen war, sah ich, dass mir Salah1, mit dem ich mich am Mittag desselben Tages getroffen hatte, eine SMS geschickt hatte, in der er mich vor dem Kauf eines Autos für meine Frau warnte. Der Grund dafür war, dass ich Salah2, der im Automobilhandel tätig ist, von diesem Vorhaben erzählt hatte. Doch Salah vertrat den Standpunkt, dass es der Frau im Islam verboten sei, Auto zu fahren. Deshalb schickte er mir die folgende Nachricht:

 

Friede sei mit Dir Bruder. Gerne helfe ich dir bei deiner Suche nach einem Auto. Jedoch muss ich dich als dein Glaubensbruder im Islam vor deiner Idee, deiner Frau das Autofahren zu erlauben, dringend warnen. Das wäre ein schwerer Fehler und ist eine Verleitung von Satan. Wenn du Hilfe beim Erwerb eines Führerscheins in Deutschland brauchst, kann ich dir damit helfen. Ich wünsche dir eine Gute Nacht. Dein Glaubensbruder im Islam.

Eine weitere Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hatte, war, dass Salah nicht in einem konservativen religiösen Umfeld wie dem Königreich Saudi-Arabien, welches zu diesem Zeitpunkt der letzte Staat war, der Frauen das Autofahren verbot, geboren und aufgewachsen war, sondern in einem westlichen Staat, in dem Frauen durch Gesetze und die Verfassung die gleichen Rechte wie Männer genießen. Salah wurde in [13]eine katholische Familie geboren, entschied sich aber im Jahr 2015 dazu, zum Islam zu konvertieren. Er wählte einen neuen Namen, um seinen Austritt aus der Welt des Christentums und seinen Eintritt in die des Islam kenntlich zu machen. Nach seinem Übertritt zum Islam verging kein Jahr, bis Salah damit begann, extremistischen ideologischen (Näheres sogleich unter 1.2) Gedanken anzuhängen, die er für die Grundlagen und den Kern des Islam hielt.

Dazu gehören z. B. das Verbot für Frauen, Auto zu fahren, die Strenge in der Ausübung der religiösen Riten und das Urteilen über den Abfall vom Glauben, um andere, seien es die Anhänger anderer Religionen oder Muslime, die die religiösen Riten nicht befolgen, zu Ungläubigen zu erklären (takfīr) und entsprechend zu behandeln. Salah begann einen Blick auf die Welt und einen Umgang mit ihr zu entwickeln, der von der engstirnigen und extremistischen ideologischen Perspektive des ideologischen Salafismus geprägt war. Als ich versuchte, mit ihm darüber zu diskutieren, dass das Autofahren nicht zu den Lehren des Islam gehöre, es keinen einzigen religiösen Text gebe, der Frauen das Fahren verbiete, und das Königreich Saudi-Arabien das einzige muslimische Land sei, in dem Frauen nicht Autofahren dürfen, war dies die letzte Unterhaltung zwischen uns. Er brach den Kontakt ab und sprach nicht mehr mit mir. Er war weiterhin der Ansicht, dass ich eine große Sünde begehe, indem ich meiner Frau das Autofahren erlaube, und dass ich folglich kein guter Muslim mehr sei, mit dem er sich unterhalten kann.

Ich habe nicht genügend Informationen zu Salahs Geschichte und den Umständen seines vorigen Lebens, um dieses Verhalten erklären zu können. Vielleicht hatte er bereits eine extremistische Vergangenheit, bevor er zum Muslim wurde. Aber wieso nahm Salah weiterhin extremistische Positionen (wie das Fahrverbot für Frauen) ein, erachtete diese als die Grundlagen des Islam und entschied sich dafür, seine sozialen, politischen und religiösen Beziehungen danach auszurichten? Was würde Salah heute z. B. dazu sagen, dass Saudi-Arabien im September 2017 Frauen das Autofahren erlaubt hat?3 Würde er seinen Standpunkt ändern oder daran festhalten? Was vor allem sind die Ursachen, die junge Leute wie Salah in den Extremismus treiben? Wie entsteht dieser Extremismus?

[14]

1.2 Extremismus: Definition und Ursachen

Salahs Übernahme dieser extremistischen Positionen ist kein Ausnahmefall. Die blutigen terroristischen Attacken, zu denen es in den letzten Jahren in Belgien, Großbritannien, Frankreich oder auch Spanien kam und zu denen sich die Organisation des Islamischen Staates, die auch mit IS oder Daesh abgekürzt wird, bekannte, warfen zahlreiche Fragen zu den Ursachen dieses Extremismus auf, besonders unter jungen, im Westen geborenen Muslimen und Konvertiten (siehe z. B. Ramsauer 2015 und Roy 2017). Am 29. Juni 2014 verkündete der Sprecher der Organisationen des Islamischen Staates, Abu Muhammad al-Adnani, in einer Sprachaufnahme die Errichtung ihres sogenannten Islamischen Staates und forderte von den Muslimen den Treueeid auf Abu Bakr al-Baghdadi als Führer dieses Staates (siehe Weiss und Hassan 2016 sowie Mohamedou 2017). Das Ziel des IS ist es, das islamische Kalifat und die Scharia (aš-šarīʿa) in seiner sehr spezifischen Auslegung zu errichten (einführend Rohe 2011 und 2013 sowie Lohlker 2012). Seit der Gründung dieser Organisation führten ihre Anhänger und Sympathisanten zahlreiche blutige Anschläge in verschiedenen Teilen der Welt durch. Nach den schweren Niederlagen in Mossul und ihrem ehemaligen Hauptquartier im syrischen Rakka im Jahr 2017 ist sie weiterhin durch Gruppen von Kämpfern unter anderem in Syrien, dem Irak, dem Jemen, dem ägyptischen Sinai und Libyen aktiv (für weitere Informationen zum Einfluss der Revolten des arabischen Frühlings, vor allem in Syrien, auf die salafistische und insbesondere die dschihadistische Bewegung siehe Zemni 2014 und Said 2014). Die Organisation stellt ihre Barbarei und Brutalität durch die Folter, Ermordung und Enthauptung ihrer Widersacher sowie auch durch sonstige schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sowohl gegenüber Muslimen als auch Nichtmuslimen wie den yezidischen und christlichen Minderheiten offen zur Schau. Der IS ist für ethnische Säuberungen sowie auch für die Zerstörung bedeutender archäologischer Stätten verantwortlich.

Auch Deutschland bleibt vom IS nicht verschont. Im Dezember 2016 tötete der Tunesier Anis Amri während der Adventszeit in Berlin zwölf Zivilisten durch den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt. Der deutsche Verfassungsschutz weist darauf hin, dass ihm Informationen zu ca. 1.060 Personen vorliegen, die zwischen Juni 2013 und März 2020 nach Syrien oder in den Irak gereist sind, um sich dort dschihadistischen Bewegungen anzuschließen (für den Begriff Dschihad siehe z. B. Lohlker 2009). Auch aus Bayern reisten den Angaben des Verfassungsschutzes nach 114 Dschihadisten aus, um dort terroristische Organisa-[15]tionen zu unterstützen (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, Verfassungsschutzbericht 2019). Darüber hinaus kam es in diesem Bundesland auch zu zwei terroristischen Vorfällen, die von Geflüchteten verübt wurden. Am 18. Juli 2016 griff ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling die Passagiere eines Zuges an und verletzte dabei vier Personen, bevor ihn die Polizei erschoss. Nur einige Tage später, am 24. Juli, beging ein syrischer Flüchtling ein Bombenattentat in Ansbach und verletzte dabei zwölf Personen, drei davon schwer. Er erlag bald darauf seinen Verletzungen, die er bei der Explosion erlitt.

Auch wenn diese schrecklichen Angriffe in Deutschland von Geflüchteten verübt wurden, die in den letzten Jahren nach Deutschland kamen, um hier Asyl zu beantragen und Verbindungen zum IS aufzubauen, können deshalb nicht sämtliche Flüchtlinge oder Muslime unter Generalverdacht gestellt werden. Es liegt an uns, nach den tieferen Ursachen und Beweggründen für diesen Extremismus und nach den Akteuren zu suchen, die diesen Extremismus unter Muslimen propagieren.

Der Begriff ‚Extremismus‘ ist in den Publikationen von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern oft ein schwammiger Begriff, dessen Definition umstritten ist, wie u. a. von Kailitz (2000: 6) betont wird: „Der Extremismusbegriff lässt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis, demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine antidemokratische und/oder antikonstitutionelle Einstellung vertritt, ist deutlich umfassender als eine Interpretation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn politisch motivierte Gewalt ins Spiel kommt“. Als die Quintessenz verschiedener Definitionen des Begriffs soll hier festgehalten werden, dass Extremismus für gewöhnlich mit Übertreibung und mit der grundlegenden, pauschalen Ablehnung Andersdenkender sowie der Unfähigkeit, Verständnis für sie zu empfinden oder ihre Perspektive einzunehmen, in Verbindung gebracht wird. Generell kann man Extremismus als eine geschlossene Denkweise betrachten, welche sich durch das fehlende Vermögen auszeichnet, Überzeugungen zu akzeptieren oder zu tolerieren, die von denen der eigenen Person oder Gruppe abweichen. Im Kontext des vorliegenden Buches lässt sich religiöser Extremismus definieren als das krampfhafte Festhalten an bestimmten, in der Regel nur von wenigen anderen Angehörigen der Religion geteilten religiösen Sichtweisen, Überzeugungen und Gedanken – ohne diese kritisch zu hinterfragen. Dieses Festhalten ist häufig mit Hass und Gefühlen der Zurückweisung aufgeladen und drückt sich durch Feindseligkeit sowie die Dämonisierung von Andersgläubigen aus, was bis hin zur Gewaltbereitschaft oder der tatsächlichen Anwendung von Gewalt gehen kann.

[16]In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Studien mit der Problematik des islamistischen Extremismus im Westen auseinandergesetzt und dessen Ursachen, Instrumente und ausschlaggebende Faktoren untersucht. Diese Studien drehen sich um die Analyse einer Reihe von miteinander verbundenen Faktoren, deren wichtigste folgende sind:

1.)Gesellschaftliche Verwerfungen: Viele der Studien konzentrierten sich auf das Scheitern der Integrationspolitik in einer Reihe von europäischen Ländern, die Isolation einiger muslimischer Jugendlicher von der Mehrheitsgesellschaft und die Zunahme von Gefühlen der politischen, sozialen und kulturellen Entfremdung. Die Fragen, die dabei bevorzugt untersucht werden, hängen mit der steigenden Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit, mit Arbeitslosigkeit sowie mit der Zunahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit zusammen, denn arme Familien sind oft nicht in der Lage, ihre Mitglieder gegen Zeiten der Krise und schnelle soziale, kulturelle und technologische Veränderungen zu wappnen. Das Tempo der Veränderungen beeinträchtigt das soziale Gleichgewicht und die Überlagerung verschiedener Werte und Konzepte gibt dem Extremismus Auftrieb (siehe z. B. Holtz, Dahinden und Wagner 2013 sowie al Raffie 2013).

2.)Familiäre Verwerfungen: Hier liegt der Fokus auf der Zerrüttung von Familien und auf Störungen des Verhältnisses von Individuen zu ihrer Familie, oder auch dem Entzug der Zuneigung von einem oder beiden Elternteilen in früher Kindheit (siehe z. B. Sikkens, van San, Sieckelinck und de Winter 2017).

3.)Seelische Störungen: Hier konzentriert man sich auf schwere seelische Traumata, besonders in der Kindheit, sowie auf die gestörte Beziehung zu Gleichaltrigen in der Schule oder dem sozialen Umfeld. Es sticht besonders die Untersuchung psychischer Erkrankungen wie dem Leiden an Depressionen oder Ängsten hervor, da Menschen manchmal vor diesen fliehen, indem sie den inneren psychischen Konflikt nach außen verlagern, sodass er sich nun zwischen ihnen und der Gesellschaft abspielt. Er kann in der Folge als weniger schmerzhaft empfunden und leichter akzeptiert werden, da die Person nun eine aktive Rolle darin einnimmt (siehe z. B. Csef 2017 und Leuzinger-Bohleber 2016).

4.)Kollektive Traumata: Einige der Studien konzentrierten sich auf die Untersuchung der Effekte der US-amerikanischen Besatzung Afghanistans und des Iraks sowie der Bürgerkriege, die sich nach den Revolutionen in vielen arabischen Staaten wie Syrien, Libyen oder dem Jemen ausbreiteten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem [17]syrischen Bürgerkrieg zu, in welchem das Regime Baschar al-Assads brutale Gewalt anwendet, um Oppositionelle zu unterdrücken und sich eine Reihe regionaler Player wie der Iran und die libanesische Hizbullah4 eingemischt haben. Damit weitete sich der Konflikt, der zu Beginn noch lokaler Natur war, zu einer konfessionellen und regionalen Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten aus.

5.)Social Media: In jüngster Zeit haben sich auch viele Studien mit der Rolle der Social Media wie Facebook, Twitter und WhatsApp bei der Verführung Jugendlicher zum Extremismus und als Mittel der Verbreitung dschihadistischer und extremistischer Propaganda auseinandergesetzt (siehe z. B. Becker 2009, Baehr 2012, Holtmann 2014, Inan 2017 und Difraoui 2012).

Diese fünf Faktoren waren während meiner intensiven Feldforschung in Bayern, die sich vom November 2015 bis zum November 2017 erstreckte, sehr präsent. So erklärte mir z. B. Ibrahim, der in der Prävention und Bekämpfung von Extremismus unter Jugendlichen in Bayern tätig ist, während eines Gesprächs im Januar 2017, dass der Extremismus seiner Überzeugung nach, zu der er durch seine persönliche Erfahrung in der Arbeit mit extremistischen Jugendlichen gelangte, in 99 Prozent der Fälle auf einen der drei folgenden Faktoren zurückzuführen ist: soziale Verwerfungen, seelische Störungen und zerrüttete Familien.

In vielen Interviews, besonders mit den Verantwortlichen von Moscheen und mit Aktivisten der muslimischen Gemeinden, wurde mir ebenfalls erklärt, dass der Extremismus ihrer Überzeugung nach hauptsächlich das Resultat von sozialen Problemen ist, die mit fehlender Integration und Diskriminierung gegenüber den Nachkommen der Einwanderer vonseiten der Mehrheitsgesellschaft zusammenhängen. So erläuterte mir z. B. Dschaafar, der seit mehr als 20 Jahren in einer arabischen Moschee aktiv ist, während eines Interviews im Dezember 2016, dass die Ursachen des Extremismus seiner Überzeugung nach vor allem mit der Diskriminierung zu tun haben, unter der die Nachkommen muslimischer Einwanderer sowohl in der Schule als auch auf dem Arbeitsmarkt leiden.

Yusuf, Imam einer großen, türkisch geprägten Moschee in Bayern, sieht die Diskriminierungen und Schwierigkeiten, die jungen Muslimen im Alltag in der Schule und in der Gesellschaft begegnen, ebenfalls als Hauptursache des Extremismus. Als Beleg führt er ein Gespräch mit [18]einem Jugendlichen an, der zu ihm kam und ankündigte: „Ich sprenge meinen Lehrer in die Luft!“ Der 15-Jährige machte damit seinem Ärger darüber Luft, dass seine Lehrer die Muslime rassistisch behandeln und den Islam schlechtmachen würden. In der Folge habe er sich intensiv mit dem Jungen und seinen Eltern auseinandergesetzt und ihn schließlich vor der Ausführung seiner Gewaltphantasien abbringen können. Bei den wenigen Jugendlichen, die in die Moschee gehen und einen solchen Hilfeschrei senden, handelt es sich seiner Meinung nach jedoch nur um die Spitze des Eisbergs. Es gebe weitaus mehr muslimische Jugendliche, die ein falsches und gefährliches Verständnis von ihrer Religion und deren Praxis in Deutschland hätten (zur Attraktivität des Salafismus für Jugendliche siehe Nordbruch, Müller und Ünlü 2014).

Alle Bemerkungen von Ibrahim, Dschaafar und dem Imam Yusuf resultieren aus ihrer praktischen Erfahrung und ihrem täglichen Umgang mit muslimischen Jugendlichen in Bildungsprogrammen und unterschiedlichen religiösen Aktivitäten. Diese Faktoren dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden. Dennoch sollten wir unseren Blick auch auf andere wichtige Faktoren richten, welche mit der Rolle der ideologische Salafisten beim narrativen Framing des Extremismus zusammenhängen, indem sie auf religiöse Texte selektiv zurückgreifen und diese in politische Matrizen verwandeln, welche die extremistische Ideologie beinhalten. Zu diesem Schluss kommt auch eine gemeinsame Auswertung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus aus dem Jahr 2014. Dabei handelt es sich um eine Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation heraus aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind. Das Ergebnis der Studie besagt: Bei 323 Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, ist die ideologische Ausrichtung bekannt. „Die ganz überwiegende Mehrheit dieser Personen (319) wird dem salafistischen Spektrum zugerechnet. Lediglich 4 Personen werden explizit nicht als Salafisten bezeichnet“ (S. 13).