Eva sieht rot

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Eva sieht rot
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Liza Cody

Eva sieht rot

Die Eva-Wylie-Trilogie

Band 2

Aus dem Englischen

von Regina Rawlinson

Ariadne Kriminalroman 1203

Argument Verlag

Inhalt

Cover

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

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Impressum

1

Ich wollte bloß ein paar Bananen kaufen. Ich war auf dem Weg zum Laden, als ich eine Horde Blagen sah, die irgendwas umkreisten und dabei wie die Hyänen heulten. Sie johlten:

Dawn, die dreckige Nutte,

stinkt wie ’ne siffige Kutte.

Pennt mit jedem Freier,

geht jedem auf die Eier,

ihr Schlüpfer liegt im Dreck,

und ihr BH ist weg.

Dawn bedeutet Ärger. Sie ist total im Eimer und ein Klotz am Bein. Sie säuft wie ein Loch. Ich ging auf die andere Straßenseite. Wenn sie mich entdeckte, würde sie bloß erwarten, dass ich ihr die Blagen vom Hals schaffte und sie in einer Schubkarre nach Hause brachte. Also verdrückte ich mich lieber in Hanifs Laden.

Ich ließ mir Zeit hinter den Regalen. Wenn ich schön langsam machte, würde Dawn sich von selbst wieder berappeln und ohne meine Hilfe nach Hause wackeln. Anderen zu helfen endet immer in Tränen. Und Besoffenen zu helfen ist die reinste Zeitverschwendung. Besoffene sind nicht dankbar, sie bezahlen ihre Schulden nicht, und sie haben ein Gedächtnis wie ein Sieb. Wozu sollst du nett zu einem sein, der hinterher sowieso nicht mehr weiß, wie nett du warst? Kannst du mir das vielleicht verraten? Es hat bloß Sinn, einem anderen einen Gefallen zu tun, wenn der sich später auch daran erinnert und dir seinerseits einen Gefallen tut.

Außerdem sind sogar gereizte Wespen friedlicher als die Kids in diesem Teil Londons. Lass dir einen guten Rat geben – wenn du deine Ruhe haben willst, leg dich nie mit mehreren Jugendlichen auf einmal an. Ich war selbst mal jung, deshalb weiß ich, wie schlimm Blagen sein können, wenn sie in der Überzahl sind. Für ein Rudel gelten die normalen Regeln nicht, und jeder kleine Hosenscheißer, der alleine keiner Fliege ein Bein ausreißen könnte, wird in der Gruppe zu Conan dem Barbaren. Wenn ich’s mir recht überlege, gilt das für Erwachsene genauso.

Ich kenne mich mit Menschenmengen aus. Darin bin ich Expertin, weil ich Catcherin bin.

Ganz recht. Ich, Eva Wylie, die Londoner Killerqueen. Vielleicht hast du schon von mir gehört, wenn nicht, ist es auch egal. Auf jeden Fall mache ich mir allmählich einen Namen als der fieseste und härteste weibliche Bösewicht im Ring. Also erzähl mir nichts von Menschenmengen. Halt lieber die Klappe und stell die Lauscher auf. Du glaubst, ein paar Leute auf einem Haufen ergeben eine Menschenmenge? Das stimmt nicht, und das kannst du an jedem Publikum sehen. Ein Publikum ist nicht einfach bloß ein Haufen Leute. Es ist ein Tier. Ein brüllendes Tier. Man kann es streicheln, bis es Ruhe gibt. Man kann es reizen. Man kann es triezen und aufstacheln. Es kann friedlich sein, aber meistens ist es grausam. Leute, die sich niemals trauen würden, mich zu kritisieren, wenn sie mir auf der Straße Auge in Auge gegenüberstünden, schmeißen mir die ungeheuerlichsten Beleidigungen an den Kopf, wenn sie wissen, dass sie jederzeit in der Menge untertauchen können.

Das ist mir egal. Das stecke ich weg. Dafür werde ich bezahlt. Aber ich werde nicht dafür bezahlt, dass ich mich mit einer Horde bösartiger, versauter Kids anlege. Außerdem bin ich Dawn nichts schuldig. Im Gegenteil.

Ich bin früher ab und zu mit Dawns kleiner Schwester Crystal rumgezogen, als wir beide noch Platte gemacht und an denselben Plätzen geschnorrt haben. Das war, bevor ich auf die Füße fiel, als ich noch auf der Straße lebte. Und bevor sich für Crystal das Blatt wendete und sie ihren Marktstand kriegte. Damals machte Dawn das dicke Geld, und Crystal und ich mussten Kohldampf schieben.

Die Geschichte war folgende. Eines Nachts, es war so bitterkalt, dass dir deine körperlichen Ausdünstungen in der Jacke gefroren und die Frostbeulen aufbrachen, hatten Crystal und ich uns in einem Abrisshaus in Hammersmith einen Schlafplatz gesichert. Wir hatten es uns gerade gemütlich gemacht, als wir von einer Truppe Uralthippies samt Hunden aufgescheucht wurden. Acht Hippies und drei Köter.

Gegen ein paar Gruftis hätte ich bestimmt was ausrichten können, ich war nämlich damals schon ziemlich kräftig. Aber gleich gegen acht! Und drei Hunde. Heute wäre es ein Klacks für mich, sie wüssten nicht, wie ihnen geschieht. Aber damals hatte ich mein volles Potenzial noch nicht realisiert. Außerdem war Crystal ein ziemlicher Wicht – Dreikäsehoch wäre noch übertrieben. Und wir hatten kein Abendessen organisieren können, wir waren also nicht gerade in Topform.

Jedenfalls haben uns die Gruftis rausgeschmissen, und wir saßen wieder auf der Straße und wussten nicht, wohin. Da sagt Crystal: »Los, wir gehen nach Paddington, vielleicht lässt uns meine Schwester bei sich auf dem Fußboden schlafen.«

Ich war total geplättet. Ich wusste gar nicht, dass sie eine Schwester hatte. Und während wir durch die leeren Straßen nach Paddington latschten, fragte ich mich, wieso Crystal Platte machen muss, wenn ihre Schwester was zum Wohnen hatte.

Das fand ich heraus, als wir ankamen.

»Verpiss dich, Crystal«, sagte Dawn. Das war das Erste, was sie von sich gab, als sie die Tür aufmachte. Hinter ihr sah ich ein warmes Zimmer, ganz in Rosa. Aber Dawn versperrte uns den Weg. »Wenn du glaubst, ich lass dich rein, bist du schief gewickelt«, sagte sie. »Du stinkst wie eine Müllkippe, und was ist das für eine Type, die du da angeschleppt hast? Die Zwillingsschwester vom Incredible Hulk?«

»Das ist Eva«, sagte Crystal.

»Die kann auch abschieben«, sagte Dawn. Sie war in voller Kriegsbemalung, rosa Backen und schwarz umrandete Augen um drei Uhr morgens. Das konnte meiner Meinung nach nur eines bedeuten. Und ich hatte recht.

»Ihr kostet mich Geld, wenn ihr vor meiner Tür rumsteht«, sagte Dawn. »Das ist hier schließlich keine Absteige.«

»Nur zum Aufwärmen, Dawn«, sagte Crystal. »Wir bleiben auch nicht lange. Es ist arschkalt draußen.«

Ich fand es furchtbar, sie so betteln zu sehen. Sie war zwar nur ein Furz im Wind, aber sie hatte was auf dem Kasten.

»Was du unter aufwärmen verstehst, kenne ich«, sagte Dawn. »Als du das letzte Mal hier warst, habe ich mich anschließend tagelang gekratzt. Ich musste mein Bett mit Flohspray einsprühen. Zieht Leine.« Und sie knallte uns die Tür vor der Nase zu, aber da hatte ich schon längst den Riesenkasten Pralinen auf ihrem Bett gesehen und die Comichefte und die heizbaren Lockenwickler. Alles, was eine Nutte braucht, um sich zwischen zwei Nummern die Zeit zu vertreiben.

Und dann standen wir wieder draußen, in der Affenkälte.

»Reizende Familie«, sagte ich. Meine Schwester hätte uns nämlich nicht rausgeschmissen. Wenn ich bloß gewusst hätte, wo sie war. Meine Schwester hätte uns einen Tee gekocht und uns auf ihrem Bett ein Nickerchen machen lassen. Sie hätte uns eine ganze Handvoll Pralinen gegeben und ein heißes Bad eingelassen.

»Wo steckt denn deine tolle Schwester?«, sagte Crystal. Sie konnte ziemlich gehässig sein, wenn sie Kohldampf hatte. Sie wusste nämlich genau, dass ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich suchte nach ihr, aber ich fand sie nicht.

So habe ich Dawn damals kennengelernt, und ich habe es bis heute nicht vergessen. Vergeben und vergessen ist nur was für Leute, die es sich leisten können. Nicht für mich. Ich kann bis in alle Ewigkeit nachtragend sein, wenn ich Lust dazu habe.

 

Aber es lohnte sich nicht, Dawn etwas krummzunehmen. Sie schadete sich selbst am meisten. Sie hatte keine Traute. Den ganzen Mumm in der Familie hatte Crystal abgekriegt. Jetzt hat Crystal ein Zimmer und einen Trödelstand auf dem Mandala Street Market, und Dawn steht an der Straßenecke und steigt zu irgendwelchen Freiern ins Auto. Und alles, was sie verdient, versäuft sie im Pub. Kann man noch blöder sein?

Sie ist bloß hierher gezogen, auf die Südseite vom Fluss, damit sie Crystal leichter anpumpen kann. Früher hatte sie einen Beschützer, aber mit ihm lief es so wie mit allen Kerlen, wenn sie mit einer Frau fertig sind. Mit ihm ging es steil bergauf. Und mit Dawn lief es so wie mit allen feigen Frauen, die keinen Beschützer haben. Mit ihr ging es rapide bergab.

So läuft es immer, wenn man von anderen abhängig ist. Glaub mir. Auf dieser Welt darfst du dich nur auf dich selber verlassen. So hat Crystal es gemacht, so habe ich es gemacht. Und wir haben es geschafft.

Ich bezahlte meine Bananen und ging. Dawn war immer noch da. Die Kids hatten sie umgerempelt, und ein Junge versuchte ihr mit einem Stock den Rock hochzuschieben.

»Dawn ist eine Nutte, Dawn ist eine Nutte«, johlten sie. »Die kann jeder kriegen, im Stehen und im Liegen.«

Ich wollte mich gerade umdrehen und nach Hause gehen, als plötzlich Crystal wie von der Tarantel gestochen über die Straße gerast kam. Sie schnappte sich den Stock und drosch um sich wie ein mordlustiger Gartenzwerg. Sie ist selber nicht viel größer als eine Zehnjährige, aber sie hatte Dawn die Meute im Handumdrehen vom Hals geschafft. Sie sah so komisch aus, dass ich mich fast totgelacht hätte.

Großer Fehler. Sie entdeckte mich.

»Eva!«, schrie sie. »Pack mal mit an.«

»Du kannst mich mal!«, schrie ich zurück. »Ich hab zu arbeiten.«

Aber dann zeigte ein Jüngelchen mit dem Finger auf mich und sagte zu seinen Kumpeln: »Ist das nicht das Kampfschwein?«

»Kampfschwein« ist noch eine der netteren Beleidigungen, die ich bei einem Kampf zu hören kriege. Und weil ich geschmeichelt war, dass mich der Wicht erkannt hatte, marschierte ich ganz lässig rüber. Unterwegs zog ich mir die Jacke aus, damit alle meine muskulösen Arme sehen konnten. Ich bin sehr stolz auf meine Arme. Da steckt jede Menge harte Arbeit drin. Auf meinen Bauch bin ich nicht so stolz, aber den wollte ich auch schließlich keinem zeigen. Jedenfalls nicht mitten auf der Straße. Und schon gar nicht, ohne dafür bezahlt zu werden.

»Pack mal mit an«, sagte Crystal noch einmal.

»Bist du echt das Kampfschwein?«, fragte einer der Jungen.

»Was dachtest du denn?«, sagte ich. »Aber hüte deine Zunge, sonst muss ich es dir beweisen.«

»Mein Dad sagt, Catchen ist bloß Schau.«

»Ja?«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu. Der Bursche war beeindruckt. Er machte zwei Schritte zurück. Ich war stolz wie Oskar. Letztes Jahr um diese Zeit kannte mich kein Mensch, jetzt werde ich auf der Straße angesprochen. Das zeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

»Mein Dad sagt, wenn es hart auf hart kommt, sind Catcher nicht zu gebrauchen. Wenn es echt zur Sache geht.«

»Pass auf«, sagte ich. »Du gibst mir jetzt den Namen und die Adresse von deinem Dad, falls du sie überhaupt weißt, und dann wollen wir mal sehen, was er sagt, wenn ich dich durch seinen Briefschlitz schiebe.«

Crystal sagte: »Gib nicht so an, hilf mir lieber.«

Sie hatte Dawn hingesetzt und ein bisschen an ihr herumgewischt, aber um sie auf die Beine zu stellen, hätte sie eine Motorwinde gebraucht. Sie hatte überhaupt keine Knochen mehr in den Beinen. Ich hatte meine Ma schon in derselben Verfassung gesehen, und ich weiß, da hilft nur eins: der gute alte Feuerwehrmanngriff. Und den wandte ich dann auch an. Nicht Dawn zuliebe, bestimmt nicht. Von mir aus hätte sie auf der Straße verrotten können. Aber Crystal und ich hatten einiges zusammen durchgemacht. Wir sind nicht gerade ein Herz und eine Seele, das waren wir eigentlich nie, aber wir haben ein-, zweimal im selben Boot gesessen, und obwohl sie mir nie einen Gefallen getan hat, hat sie mir auch nie geschadet. Engere Freunde habe ich nicht.

Crystals Zimmer sah fast so chaotisch aus wie ihr Trödelstand. Möbel gab es keine; es war eher ein Lagerraum mit einer Matratze in der Mitte. Wir packten Dawn ins Bett, damit sie sich auspennen konnte, dann ging Crystal wieder auf den Markt und ich zurück zum Schrottplatz.

Da wohne ich nämlich – auf einem Schrottplatz. Und wenn dir das komisch vorkommt, überleg doch mal, ob du vielleicht auch fürs Wohnen bezahlt wirst. Wenn du aber einen Hauswirt oder eine Hypothek am Hals hast, brauchst du über mich nicht zu lachen. Ich wohne umsonst. Das gehört zum Job. Das ist nämlich der andere Job, den ich neben dem Catchen noch habe, ich bewache nachts den Schrottplatz. Wenn du also auf Ersatzteile oder Werkzeuge scharf bist und nicht dafür bezahlen willst, musst du zuerst an mir und meinen Hunden vorbei. Einfach ist das nicht, das kannst du mir glauben. An Ramses, Lineker und mir ist noch so gut wie keiner vorbeigekommen. Wir mögen vielleicht nicht die Schönsten sein, aber dafür haben wir mächtig was auf dem Kasten; wir können kämpfen und Krach schlagen.

Als die Arbeiter nach Hause gegangen waren, machte ich den Laden dicht, wie jeden Abend. Ich ließ die Hunde raus, und wir machten unseren Rundgang auf dem Gelände. Eigentlich muss ich die ganze Nacht aufpassen, aber manchmal habe ich noch andere Sachen zu erledigen. Kommt immer darauf an, wer besser zahlt. Aber solange ich rechtzeitig zurück bin, um die Hunde zu füttern und das Tor aufzuschließen, braucht davon keiner was zu erfahren.

Heute Abend hatte ich eine Verabredung mit der Feindin. Sie hält sich für wahnsinnig clever und cool und lauert bloß darauf, mich eines Tages zu schnappen. Wobei sie mich schnappen will? Solche Leute gibt es eben, und sie haben alle irgendwas mit der Polizei zu tun.

Du hast’s erfasst, die Feindin ist eine Bullentante. Sie sagt zwar, sie ist nicht mehr bei der Truppe, aber ich sage, einmal Bulle, immer Bulle. Das bleibt kleben wie Scheiße an den Schuhen.

Auf dem Schild an ihrer Bürotür steht »Lee – Schiller«. Lee ist die Feindin, Schiller ihr Partner. Er ist ein alter Krauter, die Sekretärin ist eine alte Schreckschraube. Die Feindin hat ein richtiges Altenzentrum aufgemacht. Deshalb braucht sie mich. Ich muss die Jobs erledigen, die einer mit Krückstock nicht schafft.

Ich machte die Tür auf, und es klingelte. Die Schreckschraube saß an ihrem Tisch und schrieb etwas in ein großes Buch.

Sie sagte: »’n Abend, Eva. Wollten Sie Ihr Geld abholen?«

»Was dachten Sie denn?«, sagte ich.

Sie gab mir einen Briefumschlag. Ich riss ihn auf und zählte die Scheinchen. Alles da.

»Haben Sie einen neuen Auftrag für mich?«, fragte ich.

»Anna ist im Moment nicht da«, sagte sie. Als ob ich das nicht gewusst hätte. Sonst taucht die Feindin nämlich sofort auf, wenn es an der Tür klingelt. Neugierige Kuh – muss immer wissen, was gespielt wird. Auch wenn es sie nichts angeht. Typisch Bulle.

»Wenn etwas hereinkommt, weiß sie ja, wo sie Sie finden kann«, sagte die Schreckschraube. Was mich stinksauer machte. Darum kreuze ich ja regelmäßig bei der Feindin auf. Weil es mir nicht besonders gefällt, dass sie weiß, »wo sie mich finden kann«. Wenn es etwas gibt, was du über mich wissen solltest, dann das: Eva Wylie wurde nicht in die Welt gesetzt, um der Polizei das Leben leichter zu machen.

Und die Feindin machte mir das Leben schwer. Kein Nebenjob, keine Extrakohle. Ach, sie konnte mich mal.

2

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass Dawn tot war.

Ich stand wie immer gegen drei Uhr nachmittags auf; ich machte Tee und aß Bananen und ein paar Marmeladenbrote zum Frühstück. Dann ging ich zum Trainieren und Duschen in Sams Fitnessstudio. Da versammelt sich die ganze Truppe von Deeds Promotions. Manche von uns trainieren profimäßig – Harsh und ich zum Beispiel. Die anderen hängen bloß dumm rum, posieren und tratschen. Ich gehe jedenfalls ins Studio, um in Form zu bleiben und zu erfahren, wann ich meinen nächsten Kampf habe. Außerdem hole ich mir da meine Börse ab.

Es gibt auf dieser Welt nicht viele Leute, die dir die Kohle bar auf die Kralle zahlen, wie es sich gehört. Du machst deine Arbeit, aber auf den Lohn lassen sie dich warten. Das haben sich die Oberbosse fein ausgedacht. Es ist doch so: Wer meinen Kampf sehen will, muss zahlen, sonst kommt er nicht rein. Also ist die Kasse voll. Wieso muss ich dann auf meine Kohle warten? Hä? Weißt du’s vielleicht? Wieso kriegt Mr. Deeds von Deeds Promotions, der bloß den ganzen Tag auf seinem fetten Arsch sitzt, seine Kohle zuerst? Und wieso bin ich, also diejenige, die die ganzen blauen Flecken und Beleidigungen erntet, als Letzte an der Reihe, wenn es ans Löhnen geht?

»Bitte sehr, zähl ruhig nach«, sagte er, als ob er mir einen Gefallen täte. »Es ist alles da, aber du kannst es ruhig nachzählen. Wie immer.«

Und ich habe es nachgezählt. Sonst müsste ich auch schön blöd sein. Bei meinem letzten Kampf hatte ich es mit einer gewissen Gypsy Jo zu tun, und als ich sie in der letzten Runde an den Knien runterriss, kriegte sie ein Bein frei und ist mir mit dem Stiefel auf den Ellenbogen getrampelt. Er tut mir seit Tagen weh, und wenn Mr. Deeds meint, ein schlimmer Ellenbogen wäre nicht wenigstens ein paar Scheinchen wert, ist er ein noch größerer Vollidiot, als seine Frau sowieso schon denkt.

»Du hast da eine Schwellung«, sagte Harsh. Er wurde heute auch ausgezahlt. »Du musst heiße und kalte Umschläge machen. Und den Arm schonen.«

»Ich trainiere es ab«, sagte ich, weil Mr. Deeds zuhörte.

»Stehst du auf der Verletztenliste?«, fragte er. Einen Arsch wie ein Elefant, Lauscher wie ein Karnickel und so viel Verstand wie eine Wollmaus.

»Ich doch nicht«, sagte ich. Wenn ich verletzt bin, gibt er mir keinen Kampf. Kein Kampf, keine Kohle.

Harsh sagte: »Damit wirst du dir mehr antun, als Gypsy Jo dir angetan hat.«

Ich wusste nicht, ob ich froh oder sauer sein sollte. Ich finde es schön, wenn Harsh sich für mich interessiert, aber leider gibt er dann meistens etwas von sich, was ich nicht hören will. Er hatte eine graue Jogginghose und ein altes schwarzes, ärmelloses T-Shirt an, und seine Deltamuskeln glänzten schweißnass vom Trainieren.

»Es hat jemand nach dir gefragt«, sagte er.

»Wer?«

»Hat sie nicht gesagt. Ein Mädchen.«

»Wann?«

»Vorhin.«

»Ich will hier keine Fremden haben«, sagte Mr. Deeds. Er meint, wenn die Leute wüssten, wie wir trainieren, würden sie uns im Ring nicht mehr ernst nehmen.

»Sie war nur am Eingang«, sagte Harsh. »Da habe ich sie getroffen.«

Harsh hat eine Engelsgeduld. Schließlich gehen Mr. Deeds die Unterhaltungen anderer Leute überhaupt nichts an.

»Sie hat gefroren«, sagte Harsh. »Also ist sie einen Augenblick reingekommen. Sie hat gesagt: ›Richten Sie Eva aus –‹«

»Da drüben«, sagte ich und zeigte mit dem Kinn zum Fenster. Harsh mag ein wunderbarer Catcher sein, aber wenn es darum geht, vor jemandem, der mich auf dem Kieker hat, den Mund zu halten, hapert es bei ihm ein bisschen.

»Was wollte sie?«, fragte ich, als wir allein am Fenster standen.

»Sie hat gesagt: ›Richten Sie Eva aus, dass Dawn tot ist.‹ Sie will dich sehen.«

Das war die ganze Botschaft. Mehr wusste Harsh auch nicht. Dawn war tot. Kein Wie, Warum oder Wo. Keine Ahnung, warum Crystal mich sehen wollte.

Das war das große Rätsel – wieso wollte Crystal mich sehen?

Daran, dass Dawn tot war, war nichts Rätselhaftes. Ein Blick genügte, und du wusstest, dass es mit ihr böse enden würde. Sie schlief für Geld mit Männern, und sie war nicht wählerisch. Sie war zu jeder Tages- und Nachtzeit besoffen. Sturzbesoffen. Sie konnte nicht auf sich aufpassen. Und wer nicht selbst auf sich aufpassen kann, ist erledigt. So einfach ist das.

»Tut mir leid, sagte Harsh. »War Dawn eine Freundin von dir?«

»Um Gottes willen«, sagte ich. »Sie wohnte bloß in derselben Gegend.«

»Trotzdem«, sagte Harsh.

»Trotzdem war sie nicht meine Freundin«, sagte ich und ließ ihn stehen.

Nach dem Aufwärmen ging ich an die Geräte. Ich konnte mir vorstellen, wie Dawn in einem Kühlfach im Krankenhaus lag. Aus irgendeinem Grund dachte ich, sie wäre ertrunken. Was spielte es auch für eine Rolle, wie sie abgetreten war? Sie war schon halb tot, als sie noch am Leben war. Sturzbesoffen, abgestürzt, tot. Ich ging an ein Gerät, mit dem man speziell die innere Oberschenkelmuskulatur trainiert. Du ziehst mit dem Fußgelenk ein Gewicht nach unten, bis das Bein ganz angewinkelt ist. Und so zählte ich die Übungen mit – ausgenutzt, ausgelutscht, abgestürzt, tot, fünf, sechs, sieben, acht. Und so weiter, immer schön im Takt. Dann auf der anderen Seite, alles noch einmal von vorn. Ich wollte meine Beine und Bauchmuskulatur richtig schön durchtrainieren. Und meine Ellenbogen schonen. Wie Harsh gesagt hatte.

 

Du hältst mich für ein herzloses Luder, stimmt’s? Oder du meinst, ich spiele dir das herzlose Luder nur vor, um meinen Ruf zu wahren. Weil die Londoner Killerqueen eine ganz Harte ist. Der ist es egal, ob ihre Gegnerin kleiner ist oder verletzt. Die knallt alle mit der Nase auf die Bretter, ohne Rücksicht auf Verluste. Und wenn die Londoner Killerqueen ein Herz aus Stein hat, muss Eva Wylie sich genauso abgebrüht geben. Dabei ist sie tief drinnen weich und warm und kuschelig.

Mach dir nichts vor. Dawn ist mir schnurzpiepegal. Was hat Dawn je für mich getan, außer mich in einer kalten Nacht vor die Tür zu setzen? Wer war damals das herzlose Luder? Sie, mit ihren Pralinen und ihren heizbaren Lockenwicklern. Hat sie sich einen Dreck um mich geschert? Hat sie nicht. Sie war jung und hübsch und so taufrisch, wie man es bei ihrem Leben überhaupt sein kann. Das war ihr Glück. Aber sie hat es nie mit jemandem geteilt, auch nicht mit ihrer kleinen Schwester.

Jung und hübsch, das war einmal. Gestern hatte sie eher verquollen und schwammig ausgesehen. Ein Fleischklumpen auf dem Bürgersteig. Jetzt war sie ein Fleischklumpen in einem Kühlfach.

Wenn ich eines Tages abtrete, dann mit einem Knalleffekt.

Ich will kein Fleischklumpen sein, den jeder ausgenutzt hat und keiner kannte. Wenn ich einmal abtrete, kennt jeder meinen Namen. Ich werde jemand sein. Du wirst schon sehen!

Also lass mich mit Dawn in Ruhe. Ich will nichts davon wissen.

Darum habe ich auch nicht nach Crystal gesucht. Was geht mich Crystal an? Ich kannte sie ein bisschen, als es uns beiden dreckig ging – eine Zeit, an die ich mich nicht allzu gern erinnere –, und wir leben beide auf demselben Quadratkilometer Südlondons. Das ist nichts Besonderes. Das tun zwei Millionen andere auch. Denen schulde ich genauso wenig.

Am Abend kam Crystal mich besuchen. Ich saß auf der Hängertreppe und aß kalte Spaghetti aus der Dose. Lineker scharwenzelte um mich rum, obwohl er weiß, dass ich ihm nichts abgebe. Er wird gefüttert, wenn er seine Arbeit gemacht hat, und keine Minute früher. Wieso sollte er besser behandelt werden als andere Berufstätige? Er ist schließlich kein Schoßhund.

Plötzlich hörten wir Ramses am Tor.

»Ro-ro-ro«, machte Ramses. Er bellt wie ein voll aufgedrehter Elektrobass.

Lineker stellte die Ohren auf, aber das war auch schon alles. Mir ging der Hut hoch.

»Lineker«, sagte ich. »Du bist ein gefräßiger, fauler Schwachkopf. Wenn ich dich nicht ins Herz geschlossen hätte, wärst du längst zu Katzenfutter verarbeitet worden – zu fünfzig Dosen Katzenfutter, bei deiner Größe.«

Mein Ton gefiel ihm nicht. Das war an dem Abend das erste Mal, dass bei ihm ein Fünkchen Verstand aufblitzte. Mir war auch wirklich nicht zum Spaßen zumute. Lineker drückt sich gern, wenn es schwierig wird, und das mag ich ganz und gar nicht.

Er lief los, machte »yak-yak-yak« und fletschte die großen weißen Zähne, als ob er es ernst meinte. Was ist dieser Hund doch für ein Angeber.

Ich bewaffnete mich mit Schraubenschlüssel und Taschenlampe und ging hinterher. Am Zaun hängt ein Schild, auf dem »Armour Protection« steht. Das Schild ist kaum noch zu lesen, und ich weiß auch nicht, wer Armour Protection war oder ob es die Firma je gegeben hat, aber jetzt nenne ich jedenfalls Ramses, Lineker und mich so. Es ist ein guter Name, klingt irgendwie gefährlich.

Als ich ans Tor kam, stand Ramses mit hochgezogenen Schultern und vorgeschobenem Kopf vor dem Zaun, und Lineker rannte aufgeregt auf und ab. Er kläffte immer noch, aber Ramses gab nur noch ein tiefes, stählernes Grollen von sich. Das hört sich schön unheimlich an. Wenn du direkt neben ihm stehst, kannst du zwischen ihm und dem Röhren einer 1000er Harley manchmal nicht mehr unterscheiden.

Ich schlug mit dem Schraubenschlüssel gegen den Zaun und schrie: »Wer ist da?« Ich dachte, es wären Kids, aber es war Crystal.

Sie sagte: »Eva, ich bin’s. Kannst du mal kurz rauskommen?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin im Dienst.«

»Kannst du dann vielleicht irgendwas mit den Hunden machen und mich reinlassen?«

»Die sind auch im Dienst«, sagte ich. Es war mir peinlich, mich mit jemandem zu unterhalten, dessen Schwester in einem Kühlfach lag, und ich wollte zurück zu meinen Spaghetti. Außerdem war Crystal nicht allein, und wenn du glaubst, ich würde irgendwelche Fremden auf meinen Schrottplatz lassen, bist du noch dümmer, als ich dachte.

»Hat dir der Typ nichts gesagt?«

»Was für ein Typ?«

»Im Fitnessstudio«, sagte sie. »Er sollte dir was ausrichten.«

»Ach so, im Studio«, sagte ich. »Ich war heute nicht da. Ich habe meine Ma besucht.«

Was, wie du ganz genau weißt, eine dicke Lüge war. Ich hätte meine Ma besuchen sollen. Ich hatte sogar daran gedacht, sie zu besuchen, aber dann wollte ich mir lieber doch nicht die Ohren von ihr volljammern lassen. Genauso wenig wie von Crystal.

»Dann weißt du es noch gar nicht?«, sagte Crystal. »Dawn ist tot.«

»Scheiße«, sagte ich. Ich versuchte, mitfühlend zu klingen. Schließlich ist eine Schwester eine Schwester, auch wenn sie für ein paar miese Kröten ihre Haut zu Markte trägt.

»Sie haben sie in der Gasse hinter dem Full Moon zusammengeschlagen«, sagte Crystal. Also war Dawn doch nicht ertrunken. Ich weiß selber nicht, wie ich darauf gekommen bin. Vielleicht, weil sie so aufgedunsen ausgesehen hatte.

»Wir haben sie doch ins Bett gesteckt«, sagte ich. Ich wollte damit nichts zu tun haben. »Als wir gegangen sind, ging es ihr gut.«

»Sie muss wohl noch Durst gekriegt haben«, sagte Crystal. »Als ich nach Hause kam, war sie jedenfalls weg. Sie ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Heute Morgen habe ich es dann erfahren. Ich musste sie identifizieren. Eva?«

»Ja?«

»Ich hab sie nicht mehr wiedererkannt. So übel war sie zugerichtet.«

Dazu kannst du nicht viel sagen.

»Schnauze, Ramses«, knurrte ich. Ramses sah mich mit seinem Ich-bin-ein-Babyfresser-Blick an.

Die Fremde hatte noch keinen Mucks von sich gegeben, aber jetzt sagte sie: »Ich war gestern Abend im Full Moon. Ich glaube, sie ist mit zwei Kerlen mitgegangen.«

»Die blöde Kuh«, sagte ich.

»Sie war betrunken.«

»Trotzdem.«

»Crys?«, sagte die Fremde. »Hast du nicht gesagt, sie hätte Mitleid?«

»Nie im Leben«, sagte Crystal. »Ich habe bloß gesagt, dass sie vielleicht helfen kann. Aber kein Wort von Mitleid.«

»Worum geht’s hier eigentlich?«, fragte ich.

»Um ein paar Frauen, die im Full Moon anschaffen gehen«, sagte Crystal. »Sie wollen Karate lernen oder so.«

»Haha«, sagte ich. »Diese Schlampen?«

»Haha, ja« sagte die Fremde. »Wir ›Schlampen‹.«

Crystal sagte: »Dawn war nämlich nicht die Erste in unserer Gegend, die es erwischt hat.«

»Und sie wird auch nicht die Letzte sein«, sagte die Fremde. »Wenn wir uns nicht organisieren.«

»Ihr und euch organisieren?« Ich musste lachen. »Was habt ihr vor, wollt ihr eine Nuttenwehr gründen?« Ich konnte mich nicht wieder einkriegen.

Die Fremde richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, wobei nicht sehr viel herauskam, und sagte: »Für den Anfang sollst du uns erst mal Selbstverteidigung beibringen. Aber wenn du keine Lust hast, tragen wir unser Geld eben woandershin.«

Ich hörte auf zu lachen. Ich sagte zu Crystal: »Meint die das ernst? Und was hast du damit zu tun?«

»Eigentlich gar nichts«, sagte Crystal. »Es war nur so, dass ich unbedingt ins Full Moon gehen musste. Die Bullen sagen einem nämlich überhaupt nichts, Eva. Wenn es jemanden wie die arme Dawnie trifft, ist es ihnen ziemlich egal. Sie meinen, so eine hätte es nicht anders verdient. Deshalb musste ich ins Full Moon und herausfinden, ob sie noch jemand gesehen hat.«

»Und da saßen ein paar von uns ›Schlampen‹ rum«, sagte die Fremde. »Wir hatten eine kleine Lagebesprechung. Letztes Jahr hat es eine Kleine aus Leeds erwischt. Und im März die nächste Kollegin. Und jetzt Dawn. Das macht drei Tote.«

»Ich kann zählen«, sagte ich.

»Aber die Bullen nicht«, sagte die Fremde. »Drei ›Schlampen‹ sind für die nicht halb so viel wert wie eine einzige ›anständige‹ Frau. Von denen haben wir keine Hilfe zu erwarten. Also müssen wir uns selber helfen.«

»Genau«, sagte Crystal. »Als sie darüber geredet haben, musste ich die ganze Zeit daran denken, wie gut es gewesen wäre, wenn Dawn Ahnung von Selbstverteidigung gehabt hätte. Sie wurde andauernd durch die Mangel gedreht. Und da habe ich an dich gedacht und an deine Catcherei. Du könntest es ihnen beibringen.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, es war so eine hirnverbrannte Idee. Ich sollte diesen Weibern Unterricht geben?

»Sie haben Geld«, sagte Crystal. »Sie können zahlen.«

Natürlich hatten sie Geld. Ich konnte mir bloß nicht vorstellen, dass sie es für etwas Sinnvolles ausgeben würden. Und dann war da noch etwas. Frauen, die sich ihre Brötchen im Liegen verdienen, sind meistens nicht die allerkräftigsten.