Valla - Zwischen Hölle und Fegefeuer

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Valla - Zwischen Hölle und Fegefeuer
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Für Alex Das Schicksal spielt mit den Menschen und bringt sie an ihre Grenzen, aber manchmal gibt es ihnen auch etwas, von dem sie gar nicht wussten, dass sie es brauchen. Ich bin froh, dass das Schicksal unserer Familie dich geschenkt hat. Es war die vorherigen Strapazen wert.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Valla

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Valla – Zwischen Hölle und Fegefeuer

Lisa Lamp

Erstausgabe

März 2021

© 2021 DerFuchs-Verlag

D-74889 Sinsheim

info@DerFuchs-Verlag.de DerFuchs-Verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk, einschließlich aller Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung liegen beim Verlag. Eine Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ohne Genehmigung des Verlags ist strafbar.

ISBN 978-3- 96713-004-1 (Taschenbuch)

ISBN 978-3- 96713-005-8 (ePub)

Für Alex Das Schicksal spielt mit den Menschen und bringt sie an ihre Grenzen, aber manchmal gibt es ihnen auch etwas, von dem sie gar nicht wussten, dass sie es brauchen. Ich bin froh, dass das Schicksal unserer Familie dich geschenkt hat. Es war die vorherigen Strapazen wert.

Kapitel 1


Warum regst du dich so auf? Wenn du mit mir schlafen willst, dann sag es einfach! Oder hör auf, dich zu beschweren, was ich mit anderen tue. Diese Show ist selbst für deine Verhältnisse lächerlich!«, schrie Elijah mir lachend entgegen und erntete von den umstehenden Mitschülern regen Zuspruch.

Die Mädchen um ihn kicherten, seine Freunde grölten und irgendwer gab ein anzügliches Pfeifen von sich. Sie fanden Elijahs Worte schlagfertig und feuerten ihn wie einen Helden an, der ein Monster in die Flucht geschlagen hatte. Leider war ich in diesem Fall das Monster. Waren sie nicht irgendwann davon genervt, ihn anzuhimmeln und mich wie eine Aussätzige zu behandeln?

Ich hatte für ihn nur ein müdes Lächeln übrig. Jeden Tag dieselbe Scheiße. Ich war es leid, mich mit dem Obermacker der Teufelsanwärter zu zanken. Es war vergeudete Zeit und vermieste mir den Tag. Immer wieder nahm ich mir vor, mich nicht provozieren zu lassen und ihn zu ignorieren, doch das war fast so wie zu versuchen, nicht mehr zu atmen. Ein paar Augenblicke war es erträglich, aber dann wurde der Drang, nach Luft zu schnappen, übermächtig und man musste ihm nachgeben.

Auch heute hatte ich es wieder nicht geschafft, meinen Mund zu halten. Ich hatte mich mit Silvania an einen der hintersten Tische im Klassenzimmer gesetzt, in mein Sandwich gebissen und es gleich darauf wieder ausgespuckt. Anfangs hatte mich Elijahs Anwesenheit nicht gestört. Natürlich war es zum Haareraufen, dass wir gezwungen waren, im gleichen Raum zu sitzen. Aber das war auszuhalten. Manchmal. Ich hatte ihn kaum bemerkt. Es geschah schließlich nichts Ungewöhnliches. Teufelsanwärter waren dafür bekannt, über die Stränge zu schlagen und sich der Wollust hinzugeben. Kein Wunder, sie nahmen an, sich alles erlauben zu können, nur weil sie von Luzifer persönlich abstammten. Dass Dämonen eigentlich die Arbeit in der menschlichen Welt erledigten, wurde dabei ignoriert.

Zur Abwechslung war es jedoch nicht seine Großkotzigkeit wegen seiner Herkunft, die mich in Rage versetzt hatte, sondern sein unerreichbarer Egoismus. Der Nacken einer schwarzhaarigen Dämonin, die rittlings auf seinem Schoß gesessen hatte, war von seinen Lippen liebkost worden. Ihre Hände waren auf seine Brust gestützt gewesen und den Kopf hatte sie genüsslich nach hinten gelegt. Ihre Krallen waren in sein Hemd gebohrt, dessen ersten drei Knöpfe weit offenstanden und eine gute Sicht auf seine rasierte Brust freigaben. Die Dämonin hatte wie eine Pornodarstellerin gestöhnt, als Elijah ihren Hals abgeschleckt und seine Lippen auf ihre gedrückt hatte. Grob hatte er seine Hand in ihrer Haarpracht vergraben und an den einzelnen Strähnen gezogen, um den Kopf beim Kuss zu navigieren. Liebevoll wirkte es nicht, dennoch erfüllte das Keuchen der Frau den Raum, sodass das Schmatzen der Essenden übertönt wurde. Wobei die meisten die Freistunde sowieso nicht mehr nutzten, um zu essen, sondern dem Geschehen folgten und gafften, als wären wir im Zirkus und die beiden Küssenden die Hauptattraktion. Widerlich!

Das rote Kleid der Schwarzhaarigen hatte zwar Elijahs offene Hose kaschiert, aber die Geräuschkulisse ließ keinen Zweifel daran, was die beiden trieben. Teufel sei Dank hatten die jüngeren Schüler gerade Unterricht. Besaß Elijah keinen Anstand? Oder zumindest Respekt vor seinen Mitschülern? Wieso fragte ich überhaupt? Natürlich nicht. Es war ihm egal, dass zwischen dem ersten Unterrichtsblock und dem Zweiten nur wenig Zeit zur Verfügung stand, in der ich versuchte, mein Käse-Salat-Sandwich hinunterzuwürgen, mich mithilfe einer Flasche Wasser vor dem Verdursten zu retten und mich auf die Überprüfung in der kommenden Einheit vorzubereiten. Und danach wollte ich auch noch pünktlich zum Unterricht erscheinen.

Als die Dämonin wieder gestöhnt und mich somit von meinen Notizen abgelenkt hatte, die vor mir ausgebreitet waren, riss mir der Geduldsfaden. Ich war aufgesprungen, auf das Pärchen zugegangen und hatte sie allerliebst gefragt, ob sie ihre Aktivitäten unterlassen könnten. Na schön, vielleicht hatte ich auch wütend geknurrt, dass sie den Scheiß gefälligst zuhause machen sollten. Und nun stand ich hier und wurde von diesem Gigolo beleidigt. Dieser Vollarsch! Als würde ich es auch nur in Erwägung ziehen, jemals mit ihm das Bett zu teilen. Oder in diesem Fall den Stuhl. Ob er wenigstens darauf achtete, immer denselben zu nehmen? Wenn nicht, hoffte ich, dass die Sitzgelegenheiten regelmäßig von irgendjemandem gereinigt wurden.

»Sei versichert, dass du der Letzte wärst, mit dem ich schlafen würde. Mach dich nicht lächerlich, du egomanischer Mistkerl. Ich möchte nur nicht dabei sein müssen, wenn du eine von deinen Schnallen auf dem Tisch knallst. Es gibt einige, die hier essen wollen. Habt so viel Anstand und verpisst euch!«, konterte ich und warf der Dämonin einen mitleidigen Blick zu.

Sicher, in mir loderte der Hass und sie war daran nicht unschuldig. Allerdings konnte ich ihr kaum böse sein. Nicht, wenn ich mir vorstellte, was ihr noch bevorstand und wie ahnungslos sie sein musste. Jeder wusste, dass Elijah Dämonen hasste. Für ihn waren sie nicht mehr wert als der Dreck unter seinen Fingernägeln. Zum Ficken reichten die wechselnden Mädchen ihm, doch aus ihnen wurden nie mehr als zufällige Bekanntschaften. Trotzdem versuchte jeden zweiten Tag eine von den beratungsresistenten Dumpfbacken, den Playboy zu belehren. Sie dachten wirklich, dass er sich nur für sie ändern würde, weil gerade sie die Eine waren. Als würde es die Richtige oder den Richtigen überhaupt geben. Na ja, das Ende vom Lied war aber immer das gleiche: Elijah änderte sich nicht und eine weitere meiner Rasse war gezwungen, mit der Schmach zu leben, sich wegen eines One-Night-Stands erniedrigt zu haben.

Die heutige Auserwählte kannte ich sogar, wobei kennen zu viel gesagt war. Ich wusste, wer sie war. Wir waren im selben Beschwörungskurs für körperlose Seelen und Monster der Unterwelt, da sie im letzten Halbjahr nie in ihrem Kurs erschienen war und nun die Stunden bei uns nachholen musste. Verflucht! Bildete ich es mir ein oder wurden die Mädchen immer unreifer? Hatte er sich schon durch unsere Altersgruppe gefickt, sodass er auf die nächsten Generationen zurückgreifen musste? Sie war beinahe drei Jahre jünger als ich und wusste noch nicht einmal, ob sie in der Hölle bleiben durfte. Hätte er nicht wenigstens bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag warten können, wenn ihr der Dämonenstein umgehängt wurde und leuchtete? Strahlte er nicht in einer blutroten Farbe, würde ihr Gedächtnis gelöscht und sie auf die Erde gebracht werden, wo sie als normale Frau weiterleben musste, obwohl ihre Eltern zwei Höllenbewohner waren. Sie wäre allein, auf sich gestellt. Man würde ihr eine neue Identität verpassen. Vielleicht als Prostituierte in einem Bordell oder als Obdachlose, die unter einer Brücke hauste. Sie würde alles vergessen. Ihren Namen, ihre Familie, ihr Leben. Und dank Elijah auch noch ihre Entjungferung. Ein grausames Schicksal, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte. Zum Glück war das vorbei.

 

»Der Letzte? Wohl eher der Erste, Schätzchen. Es gibt niemanden, der eine Beißzange wie dich freiwillig anfassen würde. Sei froh, dass ich dir gestatte zuzusehen, wie Leidenschaft aussieht! Näher wirst du dem Genuss nie kommen.«

Trotz der Wut in mir achtete ich darauf, dass meine Miene ausdruckslos blieb. Kein Gesichtsmuskel durfte auch nur zucken. Elijah sollte nicht wissen, dass seine Beleidigungen mich trafen. Er war der Grund dafür, dass sie der Wahrheit entsprachen, und ich hätte nicht erwartet, dass gerade er diesen Umstand gegen mich verwenden würde. Vor allem nicht nach dem, was zwischen uns vorgefallen war. Niemand wollte mich anfassen? Richtig. Aber vor ein paar Jahren war das noch anders gewesen. Da hatten die Männer bei mir Schlange gestanden und mich angeschmachtet, obwohl ich sie reihenweise verschmäht hatte. Bis auf einen. Und der machte mir nun das Leben schwer.

Elijahs Gesicht verzog sich zu einem gemeinen Grinsen, während er zwischen sich und die Schwarzhaarige griff, mit seinen Händen die Hose wieder über seinen Schwanz zog und die Dämonin anschließend von seinem Schoß schubste. Sie gab einen überraschten Ton von sich und sah mit rot gefärbten Wangen an sich herab, um ihr Kleid glatt zu streichen. Wovor hatte sie Angst? Dass irgendwer unbeabsichtigt ihren Hintern zu sehen bekam? Der Zug war abgefahren. Wahrscheinlich konnten sich alle im Raum bereits ein ungefähres Bild davon machen, wie die Schönheit nackt aussah.

Die Knöpfe von Elijahs Hose standen offen, sodass ich sofort wusste, dass er eine dunkelrote Boxershorts trug. Jedoch hielt ihn das nicht davon ab, aufzustehen und sich mir zu nähern, bis kaum noch Platz zwischen uns war. Er stand plötzlich so nah vor mir, dass ich jedes Detail an ihm betrachten konnte. Elijah sah attraktiv aus – was ihm nur allzu bewusst war –, aber der verklärte Schlafzimmerblick setzte nochmal eine Schippe drauf. Seine schwarzen Haare hingen zerzaust in sein gebräuntes Gesicht und bildeten einen warmen Kontrast zu den glühenden Augen, die wie Feuer zu lodern schienen. Sie waren nicht gänzlich rot, immer wieder mischten sich gelbe und orangene Funken in seine Iris, die seine Augen zu einem Spektakel machten. Seine kantigen Gesichtszüge und die gerade Nase passten zu seinem arroganten Gehabe. Sie bissen sich jedoch mit der Hose, die unter dem Arsch hing, als könnte er sich nicht richtig anziehen.

Trotzdem musste ich zugeben, dass er gut aussah. Besser als alle anderen Dämonen und Teufelsanwärter. Seine Erscheinung raubte mir den Atem. Er war sexy, böse und kümmerte sich nicht darum, was andere dachten. Und das störte mich. Es machte mir Angst. Ich sollte nicht so denken, sonst landete ich nächste Woche noch an der Stelle der Schwarzhaarigen und heulte mir hinterher die Augen aus, weil ich nicht auf meinen Verstand gehört hatte.

»Mein Fehler! Danke! Danke vielmals, oh großer, mächtiger Elijah, dass du zulässt, dass wir dir bei der einzigen Beschäftigung zusehen dürfen, die du draufhast«, sagte ich und war stolz, wie sicher meine Stimme klang.

Ich sprach mit Absicht eine Oktave höher, um meinen Sarkasmus zu verdeutlichen. Dennoch ging ich einen Schritt zurück, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Die Nähe zu ihm verwirrte mich. Ich mochte nicht, wie mein Körper auf ihn reagierte. Die Hitze, die von ihm ausging, benebelte meine Sinne und der Geruch nach ausgeblasenen Kerzen und glühenden Kohlen umgab mich, hüllte mich ein, bis ich nichts anderes mehr wahrnahm. Ich wollte mich an die Wärme schmiegen, auch wenn ich wusste, dass ich mich nur verbrennen konnte. Dem Teufel sei Dank hatte ich aber genug Selbstbeherrschung, um mich nicht vor allen zum Gespött zu machen.

»Sei vorsichtig! Sonst beweise ich dir eines Tages noch, dass ich mehr als das kann«, zischte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er sich zu mir hinunterbeugte. »Oh, warte! Das habe ich ja schon«, flüsterte er, sodass nur ich es hören konnte.

Ich fühlte seinen Atem an meiner Ohrmuschel. Ein Schauer jagte durch meinen Körper. Für einen kurzen Moment vergaß ich, dass ich wütend auf ihn war, und lehnte mich der Berührung entgegen. Sanft nahm er mein Ohrläppchen zwischen die Zähne und biss hinein. Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf und ich stieß ihn geistesgegenwärtig von mir, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Vielleicht hatte er die auch. Herpes oder Chlamydien.

Elijah taumelte rückwärts und konnte sich in letzter Sekunde an einem Tisch abfangen, um nicht mit dem Hintern auf den Boden zu knallen. Sein Grinsen verrutschte nicht einen Millimeter.

»Hübsche Kette übrigens«, stichelte er und mein anfänglicher Zorn verrauchte, um Trauer Platz zu machen.

Reflexartig griff ich zu meinem nackten Hals. Es war jetzt schon knapp zwei Jahre her und trotzdem hing mein Versagen an mir wie eine Klette, die ich nicht loswurde. Wie auch, wenn Elijah und sein Gefolge aus Dorftrotteln mich immer wieder daran erinnerten? Dabei war es nicht mein Fehler gewesen, auch wenn dank des Teufelsanwärters alle genau das dachten. Zumal es gut für mich angefangen hatte.

Dad hatte mir die Ehre zu Teil werden lassen, den Dämonenstein in der Woche vor der Zeremonie tragen zu dürfen. Als Beschützer des Steins durfte er selbst entscheiden, wo er ihn aufbewahrte. Und er hatte meinen Hals gewählt, weil er dachte, dass ich seine Nachfolgerin werden würde. Denn bereits sein Dad, sein Grandpa und dessen Dad hatten die Aufgabe bekommen, den Stein zu verwahren. Unter anderen Umständen hätte ich die Tradition bestimmt fortgeführt, doch das Schicksal hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Engelsritter aus dem Himmel griffen an, töteten viele Höllenbewohner und versuchten, den Stein zu stehlen, um uns zu schwächen. Ohne den Dämonenstein würde Chaos ausbrechen. Niemand würde mehr wissen, was seine Bestimmung war und welchen Nutzen er für die Hölle hatte. Die ganze Hierarchie und das System der Unterwelt würden zusammenbrechen. Alles würde stillstehen. Nicht nur bei uns, sondern auch in der Menschenwelt. Es wären keine Todesdämonen mehr da, die alte oder sterbenskranke Menschen von ihrem Leid erlösten. Niemand würde die körperlosen Seelen von Verbrechern einsammeln, die nach ihrem Tod nicht wüssten, ob sie in den Himmel oder in die Hölle gehörten. Die verwirrten Geister von plötzlich aus dem Leben gerissenen Verkehrs- oder Mordopfern würden auf der Erde herumwandern. Und alle Emotionen wären von einem Tag auf den anderen bedeutungslos. Ohne Hass keine Liebe. Ohne Pech kein Glück.

Eigentlich wussten die Engel das, weshalb uns ihr Angriff überrascht hatte. Wir waren nicht vorbereitet gewesen und viele ließen ihr Leben. Ich hingegen hatte nur mein Ansehen verloren. Frustriert schloss ich die Augen, als die Erinnerung mich einholte und mich schmerzlich daran denken ließ, wie unfair das Leben sein konnte.

***

Ein Engel mit riesigen Schwingen flog auf mich zu, während ich mit Silvania im Schulhof aß und mich über menschliche Bands lustig machte. Er landete mit einem dumpfen Ton auf dem Boden und löste eine Druckwelle aus, die Staub aufwirbelte und Silvania von der Bank stieß. Sie schlug sich den Kopf am Untergrund auf und blieb ohnmächtig liegen. Geschockt schrie ich nach meiner Freundin und hoffte auf ein Lebenszeichen, doch noch bevor ich zu ihr eilen und ihren Puls messen konnte, war der Engel mit wenigen Schritten bei mir, riss an meiner Halskette und entwendete mir den Stein. In meiner Starre tat ich nichts, um ihn aufzuhalten. Ich war wie gelähmt, mein Kopf wie leer gefegt. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, was hier gerade passierte und als die Erkenntnis sich in mein Bewusstsein schlich, traf sie mich mit voller Wucht. Ein schriller Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich lief dem Dieb nach. Unüberlegt, bedachte man, dass ich keine Waffe hatte und mir der ausgewachsene Engel körperlich überlegen war.

Ich warf mich gegen seinen Rücken und hielt mich an seinen Flügeln fest. Ich versuchte, ihn auf den Boden zu drücken, um ihn am Wegfliegen zu hindern. Hier und da lösten sich Federn aus seinen Schwingen und er keuchte vor Schmerz. Der Überraschungsmoment war auf meiner Seite. Aber es nützte nicht viel. Es dauerte keine halbe Minute, bis der Engel sich gegen meinen Griff wehrte und mich wie einen lästigen Käfer abschüttelte. Ich wurde weggeschleudert und kam hart mit dem Hinterkopf auf. Ich hörte ihn lachen, während meine Sicht verschwamm und ich das Schlagen von Flügeln vernahm. Der Schmerz explodierte in meinem Kopf und alles wurde schwarz.

***

Erst Stunden später war ich im Lazarett aufgewacht, wo meine Schädeldecke mit elf Stichen genäht worden war. Ich erfuhr, dass Elijah in der Zeit, in der der Engel mit mir beschäftigt gewesen war, den Stein an sich genommen hatte. Doch erzählt hatte er, dass ich vor Angst weggelaufen war und er allein kämpfen musste. Er wurde als Held gefeiert. Und ich? Ich war der Unglücksrabe, der seinem Dad nicht mehr unter die Augen treten konnte. Und auch sonst niemandem. Meine Schwester sprach nur noch mit mir, wenn es unvermeidbar war. Mom weinte, sobald sie mich sah, und meine früheren Freunde hatten sich über mich lustig gemacht. Bis ich einem von ihnen das Nasenbein gebrochen und zwei Zähne ausgeschlagen hatte. Danach waren sie dazu übergegangen, mich mit Ignoranz zu strafen.

Ich seufzte und öffnete die Augen wieder, nur um Elijahs überhebliches Grinsen zu sehen.

»Lass uns einfach gehen, Valla. Er ist es nicht wert. Keiner von denen«, mischte Silvania sich ein, holte mich aus meinen Gedanken und griff nach meinem Unterarm, um mich in Richtung des Ausgangs zu ziehen. Doch ich wehrte mich dagegen und stellte mich breitbeinig hin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und stehenzubleiben. Sicher wäre es klüger zu gehen, aber ich war nicht bereit, es so enden zu lassen. Es sollte nicht sein, dass er sich alles leisten konnte, nur weil sein Dad mit dem Teufel verwandt war.

»Und deshalb soll ich ihm alles durchgehen lassen?«, fragte ich Silvania.

Sie ließ mich los, als ihr klar wurde, dass ich mich nicht wegbewegen würde. Mit einer schnellen Bewegung klemmte sie sich eine Strähne ihres blauen Haares hinters Ohr und seufzte frustriert.

»Nein, natürlich nicht«, murmelte sie entwaffnet, doch ihre gelben Augen funkelten mich flehend an.

Sie hasste Auseinandersetzungen mit Elijah, seit sein bester Freund Nikolai sie letztes Jahr auf einer Party gefickt hatte, ohne sie danach anzurufen. Gut, er kannte ihre Nummer nicht und ihren Namen wusste er wahrscheinlich auch nicht mehr – vielleicht hatte er ihn auch nie gekannt – trotzdem himmelte Silvania ihn noch an, als wäre er der Teufel höchstpersönlich. Dass gerade er nun neben Elijah stand und buhte, musste ihr schwer zusetzen.

»Hör lieber auf deine kleine Freundin! Verzieh dich in das Loch, aus dem du gekrochen bist! Ich bin hier noch beschäftigt«, meinte er achselzuckend und hielt seiner neuesten Eroberung auffordernd die Hand hin.

In einer perfekten Welt hätte sie seine Finger weggeschlagen, ihm ins Gesicht gespuckt und ihm irgendeine Beleidigung reingewürgt, bevor sie mit ihren hohen Stöckeln davongeeilt wäre. Aber die Welt war nicht perfekt. Elijah setzte sich auf den Stuhl zurück und die Dämonin kletterte brav wieder auf seinen Schoß, als hätte ich die beiden nie unterbrochen.

»Das Loch, von dem du redest, ist vermutlich eine Bibliothek. Aber es wundert mich nicht, dass du das nicht weißt. Du hast noch nicht oft eine betreten«, erwiderte ich, jedoch fehlte meinen Worten der übliche Biss.

Ich war so unendlich müde. Die ganze Nacht hatte ich mir um die Ohren geschlagen, um alle Beschwörungen auswendig zu lernen, die ich für die Prüfung brauchen könnte, und nun würde ich durchfallen, weil mir die Zeit fehlte, den genauen Wortlaut nochmal zu wiederholen. Mit etwas Glück schaffte ich es trotzdem, meinen Durchschnitt zu halten.

»Kann ja nicht jeder eine beschissene Streberin sein, wie ...«

Ich. Er sagte es nicht, aber die Worte schwebten im Raum und jeder konnte sich denken, was er sagen wollte. Einige versuchten, ihr Gelächter als ein Husten zu kaschieren, andere grinsten mich offen an, aber sie alle warteten auf meinen Konter. Für die anderen war es zu einem beliebten Spiel geworden. Valla gegen Elijah. Nachwuchsdämonin gegen Teufelsanwärter.

»Besser eine Streberin als ein Arschloch ohne Zukunft. Ich bin gespannt, wo du vom Teufel hingeschickt wirst, Elijah. Vielleicht so ein cooler Ort wie Hardegg. Achtzig Einwohner. Kein eigenes Krankenhaus, kein Bildungssystem, keine Partys. Ist sicher spannend, tote Seelen aus dem Altersheim abzuholen, in einem Dorf, wo sonst nichts passiert«, meinte ich, lächelte zuckersüß und drehte mich mit einem Hüftschwung um, den Silvania mir für alle Fälle gezeigt hatte.

 

Was sie mir damit hatte sagen wollen, wusste ich zwar bis heute nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, ihn irgendwann für etwas Wichtiges zu brauchen, aber für einen arroganten Abgang war er perfekt. Außerdem hoffte ich, er würde überspielen, dass ich meine Worte selbst nicht glaubte.

Ja, Elijah war ein hochmütiger Faulpelz, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhte, aber er war in so ziemlich jeder praktischen Disziplin der Beste, ohne sich anzustrengen. Wenn er seine Nase, wie ich, in Bücher stecken würde, wäre er mir um Längen voraus. Wahrscheinlich würde er sogar die Leitung über eine der Großstädte bekommen. Vielleicht New York, Las Vegas oder ein anderes Eck der Welt, in der die Laster den Alltag beherrschten. Das war der größte Unterschied zwischen Dämonen und den Teufelsanwärtern. Letztere bekamen einen Ort zugeteilt, den sie verwalten mussten. Sie waren die Bosse, während wir Dämonen von ihnen geleitet wurden und unseren Aufgaben nachzukommen hatten. Einige, wie Silvania, hatten dabei großes Glück. Sie durfte verheiratete Männer auf Abwege führen. Es musste ein riesiger Spaß sein, zuzusehen, wie die Ehen in die Brüche gingen und die Frauen aus verletztem Stolz wegen der Betrügereien ihren Gatten die Kehlen aufschlitzten.

»Lass uns gehen! Ich habe keinen Bock mehr auf die Scheiße«, sagte ich zu meiner Freundin und steuerte schnurstracks den Ausgang an.

Fast erwartete ich, dass Elijah noch etwas erwidern würde, um das letzte Wort zu haben, doch ich hörte nur das Klatschen von aufeinandertreffender Haut und die wiederkehrenden Stöhngeräusche.

»Ich fasse es nicht. Was denkt dieser Arsch sich dabei?«, fluchte Silvania und erinnerte mich wieder daran, weshalb wir befreundet waren.

Sicher, anfangs hatten wir nur miteinander Zeit verbracht, weil wir die gleiche Faszination für die sieben Todsünden empfanden, doch wir hatten irgendwann gelernt, zusammenzuhalten. Wir waren ein eingespieltes Team und das mochte ich an uns. Ich hasste Elijah und sie war loyal genug, ihn zu verachten. Aber auch so konnte ich immer auf sie zählen. Während alle anderen sich von mir abgewandt hatten, als mir der Ruf eines Feiglings zugeschrieben wurde, war sie an meiner Seite geblieben. Deshalb konnte ich ihr nicht böse sein, weil sie eine bessere Aufgabe für die Zukunft bekommen hatte als ich.

»Gar nichts. Es würde mich wundern, wenn Elijah überhaupt denken könnte. Geht ohne Gehirn ja schlecht«, schnaubte ich und blieb stocksteif stehen. Mir fiel wieder ein, dass ich meine Notizen auf dem Tisch im Klassenzimmer vergessen hatte.

»Zum Teufel nochmal!«, schrie ich, drehte mich um und wollte wütend kehrtmachen, doch Silvania hielt mich zurück, drückte mir einen Stapel Zettel in die Hand und sah mich mit einem schiefen Grinsen an.

»Hast du etwas vergessen?«, fragte sie kichernd, zwinkerte mir zu und wickelte spielend eine ihrer Haarsträhnen um ihren Finger.

»Du bist die Beste«, sagte ich euphorisch und meinte es auch so.

Ohne Sil wüsste ich nicht, was ich machen sollte. Ich konnte schlecht durch die Gänge laufen und mit mir selbst reden. Wobei mich die anderen nicht noch mehr meiden könnten, selbst wenn ich den Verstand verlor.

»Ich weiß«, erwiderte sie selbstüberzeugt und wurde von einem erneuten Lachanfall geschüttelt, der mich meine Mundwinkel leicht anheben ließ. »Du warst so wütend. Ich dachte, du würdest ihm eine scheuern und abhauen. Also habe ich in weiser Voraussicht alles, was wichtig aussah, zusammengepackt. Wäre ziemlich beschämend, nach diesem tollen Abgang nochmal zurückgehen zu müssen.«

»So toll war der nicht. Die Auseinandersetzung habe ich verloren. Ich habe nichts bewirkt, sondern ihn nur kurz unterbrochen. Er wird morgen wieder das Gleiche abziehen.«

Ich ärgerte mich darüber, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckte. Schlussendlich hätte ich meine Argumente auch einer Wand erzählen können. Die hätte mich vermutlich mehr beachtet als Elijah. Zu seiner Verteidigung war zu sagen, dass es sich auch schlecht ohne Blut im Kopf diskutieren ließ.

»Wieso stört dich das so?«, fragte Silvania, als wir um die erste Ecke bogen.

Somit hatten wir genug Abstand zwischen uns und diesen Idioten gebracht, sodass uns niemand belauschen konnte. In diesem Teil des Schulgebäudes waren die Wände strahlend weiß, jedoch wurden sie dunkler, je näher wir dem nächsten Unterrichtsraum kamen. Zuerst verfärbten sie sich gräulich, bis die Mauern in einem satten Schwarz erstrahlten. Nirgendwo waren Fenster, allein die Fackeln an den Wandhalterungen, die auf magische Weise immer zu brennen schienen, boten genug Licht, um alles zu erkennen.

»Bitte?«, fragte ich nach, weil ich ihr nur mit einem Ohr zugehört hatte.

Ich sortierte die Blätter mit den Beschwörungsformeln und verschaffte mir einen Überblick, ob noch alle Seiten vorhanden waren. Das war natürlich nicht der Fall. Die Beschwörung eines Dschinns fehlte, genauso wie die eines Ghuls und eines Mantikors. Während ich bei den ersten beiden die Formeln noch im Kopf hatte, wusste ich bei einem Mantikor nur noch, dass man ihm ein Opfer bringen musste, das er verspeisen konnte: ein Schaf oder ein neugeborenes Baby. Die Opfergabe musste der Länge nach mit einem Dolch aus Kupfer aufgeschnitten und das Herz entnommen werden. Anschließend hatte der Beschwörer in das Organ zu beißen und drei Sätze in einer Sprache aufzusagen, die älter war als alle anderen dieser Welt. Doch diese Worte wollten mir nicht einfallen. So ein Mist! Wenn gerade das zur Prüfung kam, war ich erledigt. Nicht auszumalen, was mein Dad sagen würde, wenn ich durchfallen würde. Ich hatte ihm genug Schande gebracht. Noch einen Fehltritt würde er nicht durchgehen lassen. Das hatte er mir deutlich gemacht.

»Na, warum ärgert es dich, wenn Elijah Dämoninnen abschleppt?«, hakte sie ungeduldig nach und blieb abrupt stehen.

Einen Moment fiel es mir nicht auf, sodass ich einfach ohne sie weiterlief, doch das Fehlen der Schritte neben mir ließ mich von meinen Lernbögen aufsehen und innehalten.

»Das ist mir egal. Ich möchte es nur nicht mitbekommen«, erwiderte ich schnell und betete, dass die Diskussion damit beendet war. Doch das Glück war heute nicht auf meiner Seite.

Silvania neigte den Kopf und musterte mich, so lange, bis es mir unangenehm wurde. Ihr Blick war stechend, als würde sie etwas suchen, aber nicht finden. Ihre Züge verzogen sich unzufrieden und sie hob eine Augenbraue, wodurch sich ihre Stirn in Falten legte.

»Wieso nicht?«, wollte sie wissen und ihr Ton hatte eine seltsame Färbung angenommen. Misstrauen. Sie kaufte mir nicht ab, was ich sagte.

»Es stört mich beim Lernen.«

»Ah ja«, schnaubte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass sie mir kein Wort glaubte. Doch es war die Wahrheit. Was wollte sie denn noch?

»Was?«, murrte ich. »Möchtest du irgendwas sagen?«

Die Art, wie sie mich ansah, gefiel mir nicht. Es erinnerte mich daran, dass sie glaubte, mich besser zu kennen als ich mich selbst, und dass sie sich anscheinend wieder in die Idee von mir und dem Großkotz gemeinsam, für immer vereint, verrannt hatte. Über Elijah zu sprechen war gefährlich, auch wenn Silvania das nicht wusste. Ich konnte nur hoffen, dass ich sie noch umstimmen oder ablenken konnte, egal, was sich ihr wirres Gehirn wieder ausgedacht hatte.

»Nein, ich finde es nur auffällig. Bei niemand anderem stört es dich, wenn sie Gefühle in der Öffentlichkeit zelebrieren. Nur bei ihm.«

Angespannt runzelte ich die Stirn und leckte mir über die Unterlippe. Ich wusste, was sie dachte, obwohl sie es nicht aussprach. Ich musste vorsichtig sein. Wenn ich es vehement abstritt, könnte sie das als Geständnis werten, und wenn ich nichts sagte, wäre es ebenfalls verdächtig. Um Zeit zu schinden, packte ich meine Unterlagen in meine schwarze Umhängetasche und kramte nach meiner Wasserflasche.

»Erstens, Sil, fühlen wir nicht. Zumindest nicht Liebe oder ähnlichen Schwachsinn. Nur Begierde, Verlangen oder welche Hormone auch immer uns Lust verschaffen. Und zweitens ist Elijah der Einzige, der über das Knutschen hinausgeht, wenn er außerhalb seiner eigenen vier Wände ist«, antwortete ich sachlich, schraubte den Verschluss der Flasche ab und setzte diese an meinen Mund. Ich spürte, wie das kühle Nass meine Lippen benetzte und meine Speiseröhre hinabfloss.