Blackwood

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Blackwood
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Blackwood

Den Wahnsinn im Blut

von Lena Knodt

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erschienen im Talawah Verlag

2. Auflage 2021

© Talawah Verlag

Text: Lena Knodt

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns,

www.jaqueline-kropmanns.de

Lektorat: Sascha Eichelberg

Satz: Julia Antonia Reimann

Julia Antonia Reimann - Buchsatz | Facebook

unter Verwendung von: © Pixabay

Illustration der Kapitel: Nemesis Forsa

Korrektorat: Anette Brauer

ISBN: 978 394 7550 593

Blackwood

Den Wahnsinn im Blut

Von Lena Knodt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Vorwort

Liebe Leser_innen, stolz und aufgeregt präsentiere ich euch meinen sechsten Roman Blackwood – Den Wahnsinn im Blut. Bevor ich ein paar inhaltlich einleitende Worte verliere, möchte ich zunächst meinen Dank aussprechen an all die Menschen, die an diesem Buch mitgewirkt haben: Meine Testleser_innen, meinem Lektor Sascha Eichelberg, der Coverdesignerin Jaqueline Kropmanns und Annette Brauer und Julia Reimann, die sich um Korrektorat und Buchsatz gekümmert haben. Das mir größte Anliegen war und ist es immer, mich bei denen zu bedanken, die mir im privaten Bereich kompromisslos zur Seite stehen und die mich jeden Tag zum Durchhalten und Weitermachen motivieren – eine Tatsache, die ich niemals als selbstverständlich annehmen kann und will: Ich danke meiner wunderbaren Familie. Dieses Buch habe ich für euch geschrieben! Aber was erwartet euch Leser_innen auf den nächsten 300 Seiten? Blackwood ist düsterer als meine bisherigen Bücher, aber auch nachdenklicher, vielleicht ein wenig bildhafter. Die Idee zu Blackwood kam mir durch ein Lied und durch die Beschäftigung mit Schauerliteratur wie Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, was sich immer noch in den zentralen Motiven des Romans widerspiegelt.

Der Schreib- und Überarbeitungsprozess war dabei ziemlich aufwendig, da ich immer genau so viele Informationen preisgeben wollte, dass es spannend blieb, aber nicht zu unübersichtlich wurde. Innerhalb des Buches gibt es einige genretypisch etwas düsterere Szenen, die Themen behandeln, die für manche Menschen belastend sein könnten. Eine Aufzählung dieser Themen findet ihr am Ende des Vorworts. Jetzt bleibt mir nichts anderes, als euch viel Spaß beim Lesen zu wünschen, bei eurer Suche nach dem Geheimnis der Blackwood-Familie und eurer Reise ins kleine aber gar nicht so verschlafene Westingate.

Ich bin wahnsinnig gespannt, wie es euch gefallen wird – danke, dass ich euch mit auf diese Reise nehmen darf. Für Anregungen, Rezensionen, Meinungen und Fragen kontaktiert mich gerne!

Lena Knodt

www.lena-knodt.de

Inhalts-Hinweise: Mord, Alkoholsucht, Verlust, Gewalt im Kindesalter

Prolog

Nebelschwaden ruhten auf dem Wald wie eine weißgraue Decke. Verklebt in den Spitzen der Bäume, vor dem Morgen nicht zu weichen bereit.

Ezra schaute aus dem schmalen Turmfenster hinab auf das trostlose Bild, das sich ihm bot. Seine zitternden Finger kratzten über das Fensterbrett und er zog sie in eine Faust, in der Hoffnung, sie ruhig zu stellen.

Auch er selbst fühlte sich trostlos. Rastlos zwar, merkwürdig aufgeregt, aber trostlos. Schon den ganzen Tag hatte er das Gefühl gehabt, sein Herz schlüge schneller als sonst. Das Gefühl, als hätte ihn jemand gepackt und aus dem Rahmen gerissen, in den er eigentlich gehörte.

Ezra drehte sich um, humpelte, ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Bein, in dem vor wenigen Stunden noch bis zum Anschlag ein Messer gesteckt hatte. Der Verband war bereits von rotem Blut durchtränkt und mit jedem weiteren Tropfen floss auch ein bisschen Wärme aus seinem Körper. Ein Stück Wille, ein Stück der Barriere, die er so hartnäckig aufrechterhielt. Die er aufrechterhalten musste, um jeden Preis.

Nicht mehr lange.

Nur noch ein paar Minuten.

Schmerz zog sich in seiner Bauchhöhle zusammen, ätzte in sein Fleisch. Die Gefühle, die er die letzten Wochen, ja Monate hatte verdrängen müssen, suchten sich nun einen Weg nach draußen. Angst und Schuld. Trauer und Panik. Doch schnell schob er sie an den Rand seines Bewusstseins, bevor sie seinen Geist schwächten. Jeder kleinste Riss in seiner Selbstbeherrschung konnte tödlich sein.

Er drehte sich um und schritt in die Mitte des Raumes bis an den Teppich, auf dem ihr kalter Leichnam lag.

Reine Schönheit. Die Konturen, ihre weiche Haut. Perfektion, nur zerstört von ihrem starren Blick, den panisch aufgerissenen Augen. Von dem Blut in ihrem Haar. Und von der zerfetzten Kehle.

»Und so geht es zu Ende, Röschen«, flüsterte Ezra. Jedes Wort kratze in seinem Hals. Die Erinnerung drohte, ihn jeden Moment zu überwältigen. Aber er war standhaft. Und er hatte sich daran gewöhnt.

Ein Blick auf seine Taschenuhr verriet ihm, dass es kurz vor Mitternacht war. Schnell warf er seinen Mantel über und wollte nach dem Zylinder greifen, bevor er verharrte. Es war ihm, als spürte er ihren Blick im Nacken. Brennend, vorwurfsvoll. Er wusste nicht, was ihn dazu verleitete, aber am Ende stieg er ohne Kopfbedeckung hinab und verließ das Haus.

Der Garten war im grausigen Licht des Mondes nichts als ein Meer aus Schatten. Bedächtig ging er weiter. Seine Schritte das einzige Geräusch in der stillen Nacht.

Er sah seinen Freund schon von weitem. Er stand auf dem gepflasterten Platz vor dem Brunnen und hatte ihm den Rücken zugewandt. Als Ezra einige Meter von ihm entfernt stehen blieb, drehte er sich um. Auf seinen Lippen ein Lächeln, das seiner sonstigen Erscheinung nicht entsprechen wollte. Sein Mantel war leicht geöffnet und ein weißes, zerknittertes Hemd schaute daraus hervor. Er war unrasiert, seine Tränensäcke angeschwollen. Eine Hand hatte er halb hinter dem Rücken versteckt und ... Ezra erstarrte.

 

»Du bist gekommen«, sagte sein Freund. Langsam hob er die Hand und richtete den Lauf der Pistole zitternd auf das Gesicht seines Gegenübers. »Wo ist sie?«

»Was soll das?«, fragte Ezra. Die Mündung der Pistole übte eine seltsame Faszination auf ihn aus. Er musste sich zwingen, seinem Freund ins Gesicht zu sehen und nicht auf das verheißungsvolle schwarze Rohr der Waffe.

»Du weißt, dass es besser so ist.«

Ezra sah, dass die Stirn seines Freundes nass von Schweiß war.

Wut stieg in ihm auf, Wut über diese Dummheit. Sein Freund wusste genau, dass eine Kugel ihn nicht besiegen konnte.

Unter seinen Fingerkuppen begann es zu kribbeln. Langsam breitete es sich aus, über die einzelnen Glieder bis in die Handflächen. Er wollte es unterdrücken, aber gleich darauf gab er auf. Nicht heute. Heute hatte er keine Kraft dafür.

Ein unangenehm drückendes Gefühl breitete sich in Ezras Kopf aus, doch er hielt seine Miene unbewegt. Es durfte nur nicht die Maske durchbrechen, die er nach außen hin aufrechterhielt.

Dann Ruhe.

Verharren.

Ein Moment der Verheißung, der Hoffnung. Ein Moment des letzten Atemzugs.

Dann explodierte es in seinem Kopf.

In Wellen aus Hitze breitete es sich weiter aus, sammelte sich in seinem Nacken und kletterte in quälender Langsamkeit seine Wirbelsäule hinab.

Ezras Finger verkrampften sich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Und doch stand er aufrecht. Die Frage war nur, wie lang.

»Blackwood«, raunte sein Freund. »Was tust du da?«

Doch er war nicht mehr Blackwood. Nicht mehr Ezra. Und er besaß nicht mehr die Macht über seinen eigenen Körper.

Er wurde zurückgedrängt, als sich die brennende Masse durch seine Glieder schob, sich durch seine Blutbahnen wand, bis sie zu zerplatzen drohten. Es blieb kaum mehr als ein Funke seines Bewusstseins. Und selbst um diesen Funken musste er kämpfen wie ein wildes Tier.

Er sank auf die Knie und seine Finger bohrten sich zwischen die Bodenpflaster, sein ganzer Körper verkrampfte sich. Er hustete, Blut spritzte über den Stein.

Dann ein Schuss.

Mit Wucht schleuderte er ihn zurück, doch Ezra spürte keinen Schmerz. Nur Angst und Panik. Die Barriere um sein Herz zerbrach. Erst zeigten sich nur Risse, doch sie breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus, bis der Wall in sich zusammenstürzte.

Nun schlugen all die Empfindungen über ihm zusammen. Es gab keinen Grund mehr, sie zurückzuhalten. Er sah wieder ihr Gesicht, blass. Ihre Lippen, grau. Die Augen aufgerissen. Augen aus Glas.

Ein zweiter Schuss.

Verdammt.

Es war anders als sonst. Es fiel ihm schwerer, den Funken zu erhalten, der ihn ausmachte. Der ihn immer wieder zurückgeführt hatte.

Es war stärker.

Dieses Mal würde es ihn zerreißen.


Kapitel 1

Haltlos prasselte der Regen auf den Asphalt, als hätte der Himmel beschlossen, seine Schleusen zu öffnen und all die angestaute Wut auf sie hinabzuschütten. Dicht aneinandergedrängt eilten Jack und Lively über den Gehsteig, vorbei an gewundenen Gaslaternen, bis sie das verrostete Tor erreichten.

Es war nur angelehnt, also packte Jack das Metall und zog es auf. Sein Mantel lag schwer und von Wasser vollgesogen auf seinen Schultern. Hastig schob er sich die klatschnassen Strähnen aus dem Gesicht und trat voran durch die entstandene Lücke.

Das Kinderheim St. Alberts lag inmitten eines kleinen Parks, in dem man den vorgegebenen Weg zwischen all den wuchernden Pflanzen und Bäumen erst suchen musste. Vor allem, da das Wetter die Sicht noch verschlechterte.

Jack presste die Lippen aufeinander. Beklemmung ergriff von ihm Besitz. Eine Spannung, die er kannte. Ein wohlbekannter Geruch stieg ihm in die Nase. Er konnte ihn nicht benennen, ihn keinem speziellen Gegenstand oder keiner Person zuschreiben, doch er brachte die Erinnerungen zurück, als würde ihm jemand mit geballter Kraft ins Gesicht schlagen.

Er stolperte. Er sah Frauen in dunklen Kutten. Lange Stöcke in ihren Händen. Kinderschreie. Dann Kinderlachen. Stundenlange Versteckspiele im Park, bis man nicht mehr wusste, ob die anderen überhaupt noch suchten. Eintöniges Essen in kleinen grauen Schalen. Gespräche, viele Gespräche.

Ein kalter Raum im Keller. Ein noch kälterer Stuhl.

»Jack?«, fragte Lively sacht und legte ihm eine Hand auf den Rücken. »Alles in Ordnung?«

»Natürlich«, antwortete er etwas zu schnell. Er fuhr sich durch das Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe mich nur an die Versteckspiele mit Will erinnert.«

Lively betrachtete ihn skeptisch, fragte jedoch nicht weiter nach. Er war nur ihretwegen mitgekommen, denn eigentlich hatte er sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstück zu setzen. Doch als Lively von der baldigen Schließung ihres alten Kinderheims erfahren hatte, hatte sie ihn beinahe angefleht, mit ihr hierher zu gehen. Es wunderte ihn nicht, dass er nachgegeben hatte. Sie war schon immer seine größte Schwachstelle gewesen und würde es immer bleiben. Aber wenn er sie betrachtete, ihre vor Aufregung geröteten Wangen und ihre Hände, die sie immer wieder nervös in eine Faust zog und lockerte, bereute er es nicht. Er würde diese Erinnerungen schon überleben.

Schweigend stiegen sie die Stufen hinauf, bis sie vor der riesigen Tür aus schwarz angemalter Eiche standen. Jack plusterte die Backen auf und hielt für einen Moment die Luft an. Seit fünf Jahren hatte er dieses Gebäude nicht mehr betreten. Doch auch wenn er es in den Momenten des Schmerzes kaum geglaubt hatte – mit den Jahren verblasste er.

Lively drehte sich das letzte Mal mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck zu ihrem Bruder um. Die dunkelblonden Haare klebten an ihren Wangen. Dann hob sie die Hand, umfasste den Türklopfer aus Messing und schlug ihn dreimal heftig gegen das Holz.

Stille antwortete ihnen. Einige Sekunden starrten sie auf die Tür, dann warfen sie sich einen fragenden Blick zu. Nicht einmal Schritte waren auf der anderen Seite zu vernehmen.

»Vielleicht ist doch keiner mehr da«, flüsterte Jack. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, die Stimme senken zu müssen.

Lively schüttelte den Kopf. »Doch, ich bin mir sicher.« Sie bediente den Türklopfer ein weiteres Mal. »Ist hier jemand?«, rief sie und versuchte, einen Blick durch eines der schmutzigen Fenster zu werfen.

»Macht nicht solch einen Lärm.« Eine Stimme ließ sie herumfahren. Jack musterte die Frau, die wie aus dem Nichts hinter ihnen aufgetaucht war. Sie trug eine schwarze Kutte und die Haare unter einem Tuch zusammengefasst, auf dem Regentropfen glitzerten. »Schwester Josepha«, sagte er und seine Mundwinkel hoben sich. Die Frau musterte sie einige Sekunden lang schweigend.

»Mr. und Miss Harpins«, sagte sie und ein Meer aus Falten überzog ihr Gesicht, als sie lächelte. Trotzdem war Jack nicht sicher, ob sie sich wirklich über ihren Besuch freute.

»Schwester!« Lively schob sich an Jack vorbei und reichte der älteren Frau die Hand. Diese umschloss sie mit ihren und drückte sie. »Wir dachten schon, alle hätten das Haus verlassen. Es schließt aber doch erst Ende der Woche, oder? Jedenfalls haben sie das im Pub erzählt.«

»Dem Geschwätz kannst du nicht glauben, Liebes.« Schwester Josepha machte eine wegwerfende Handbewegung. Man konnte ihr den Missmut bei Livelys Erwähnung des Pubs deutlich ansehen. »Die Kinder sind schon Anfang der Woche in ein neues Heim gebracht worden und auch die Plünderer haben sich bereits über das Inventar hergemacht.« Sie spuckte das Wort förmlich aus, obwohl sich Jack sicher war, dass sie nicht wirklich Plünderer meinte, sondern die Angestellten der Kirche, die das Haus noch nach Nützlichem abgesucht hatten.

»Nur ich bin noch da«, fuhr sie fort, untermalt von einem langen Seufzen. »Gerade habe ich mich von dem kleinen Garten verabschiedet. Es ist ein Jammer: Jahrelang habe ich ihn gepflegt und jetzt muss ich ihn der wilden Natur übergeben.«

Jack bekam unwillkürlich Mitleid mit der untersetzen Frau, auch wenn man diesen Garten selbst mit viel Wohlwollen nicht als gepflegt bezeichnen konnte. Er lächelte Schwester Josepha schmallippig an. Dann ließ er den Blick über die von dunklen Tannen umgebenen Beete schweifen und ein weiterer Schwall von Erinnerungen überströmte ihn. Hier hatte er als Kind gespielt, hier hatte er sich manchmal stundenlang vor seinen Peinigern versteckt. Meist waren sie zu langsam und schnell gelangweilt gewesen, sodass er sich nur hinter einen Busch hatte hocken und dort für eine Zeit verharren müssen. Es hatte nicht immer geklappt, das hatten die Spuren auf seiner Haut nur zu Genüge gezeigt.

Wieder musterte Josepha sie auf merkwürdige Weise und ein Glitzern trat in ihre Augen. »Ich würde euch gerne auf eine Tasse Tee einladen, Kinder.« Es klang mehr nach einem Befehl als einer Bitte.

Jack blickte zu Lively, doch seine Schwester zögerte keine Sekunde.

»Sehr gerne, Schwester. Heute ist die letzte Gelegenheit, in der wir in Erinnerungen an die Vergangenheit schwelgen können.«

Jack verengte die Augen und starrte seine Schwester von der Seite an, doch diese ging nicht darauf ein und folgte Josepha, die unter leise murmelnden Worten das Haus umrundete. Lively packte Jack ohne einen Blick in seine Richtung am Arm und zog ihn mit sich.

»Lively, ich weiß nicht ...«

»Sei still und komm mit«, entgegnete sie und starrte auf den Boden. Jack folgte ihrem Blick und versuchte, nicht über eine der Wurzeln zu stolpern, die die Steine des Gehwegs schon vor Jahrzehnten aufgebrochen hatten. Wahrscheinlich hatte die Kirche Recht, dass sie in diesen Ort hier kein weiteres Geld investieren wollte. Er sehnte sich nach dem Sessel am Kamin, in dem nur ein gutes Buch und keine unliebsamen Erinnerungen auf ihn warteten.

Er entriss seinen Arm Livelys klammerndem Griff und zog den Kragen seines Mantels um den Hals zusammen, um sich vor aufmüpfigen Regentropfen zu schützen.

Eine kleine Tür führte seitlich in die Räumlichkeiten, die Schwester Josepha gemeinsam mit den anderen Angestellten des Kinderheims bewohnt hatte. Sie betraten den schmalen Flur, der von einer brennenden Kerze auf einem Seitentisch schwach beleuchtet wurde.

Lively schälte sich aus ihrem nassen Mantel und hängte ihn an die Halterung neben der Tür. Jack zögerte einen Moment, hätte er seinen Mantel doch lieber anbehalten, um schnellstmöglich wieder aufbrechen zu können. Doch der strenge Blick seiner Schwester zeigte ihm, dass es keine Chance auf Entkommen gab. Mit einem Seufzen legte auch er seine Jacke zur Seite, während Lively der ehemaligen Heimleiterin in die Küche folgte. Seinen Zylinder legte er darunter ab.

Jack ging auf die Tür zu, bis sein Blick an der Kerze hängenblieb. Sie flackerte wild und beschien die hölzerne Marienfigur hinter ihr beängstigend. Die Schatten im Gesicht der heiligen Jungfrau sahen aus, als würde sie schwarze Tränen weinen.

Jack erschauderte und wandte sich von der Figur ab. Seit er das Kinderheim verlassen hatte, hatte er nie wieder eine Kirche von innen gesehen.

Als er die kleine Wohnküche betrat, hatte Josepha den Feuerherd bereits mit ein paar weiteren Scheiten bestückt und eine gusseiserne Kanne auf die Oberfläche gestellt. Es roch leicht nach Kamille, einem Duft, der auch der Ordensschwester immer anhing. Jack erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie früher jedes Wehwehchen mit einem ihrer Kräuteraufgüsse behandelt hatte – von Prellungen bis Übelkeit. Das schien sich in den letzten Jahren nicht geändert zu haben, denn von der Decke hingen die verschiedensten Pflanzen getrocknet und ordentlich in kleinen Büscheln nebeneinander.

Jack zog den Kopf ein, bevor er sich seiner Schwester gegenüber an den Tisch fallen ließ. Er verengte die Augen und warf ihr einen halb scherzhaften bösen Blick zu, doch Lively verdrehte nur die ihren und grinste ihn herausfordernd an.

Josepha kehrte zu ihnen zurück, den Rücken gebeugt. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn verrieten, dass sie etwas beschäftigte. Mit einem energischen Kopfschütteln ließ sie sich auf dem freien Stuhl nieder. »Einfach geschlossen.« Sie senkte den Blick auf ihre Finger, die sie ineinander verschränkte. »Sie haben es einfach geschlossen. Wir sind ihnen vollkommen egal. Die Kinder sind ihnen vollkommen egal. Das Einzige, was ich bekommen habe, war ein Brief. Sie hatten noch nicht einmal den Anstand, es mir persönlich mitzuteilen.«

 

»Und wo werden Sie jetzt hingehen?«, fragte Jack und Mitleid regte sich in ihm. Für Schwester Josepha war dieses Kinderheim alles. Sie hatte es in jungen Jahren von ihrer Vorgängerin übernommen und es seitdem mit eiserner Hand und einiger Bestimmtheit geführt. Auch wenn er keine schöne Zeit hier verbracht hatte, hatte das sicher nicht an Schwester Josephas Engagement gelegen.

Josepha stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus. »Ich gehe zurück ins Kloster. In mein Heimatkloster.« Ihrem Gesichtsausdruck zufolge war Heimat hier nicht mit positiven Gedanken behaftet.

»Wo liegt das?«, fragte Lively.

»In Barrytroot«, antwortete Josepha und kniff die Lippen so fest zusammen, dass alles Blut aus ihnen wich. Nun konnte Jack ihren Unmut noch besser nachempfinden. Barrytroot war eine winzige Hafenstadt, weit abgelegen und den Erzählungen nach zu urteilen der Inbegriff von Langeweile. Ein Exil, das nichts mit dem Trubel des Kinderheims gemein hatte.

»Sicherlich wird es nicht so schlimm, wie Sie denken. Sie können alte Freunde wiedertreffen und ...«

»Alte Freunde.« Schwester Josepha spuckte die Worte aus wie eine Beleidigung. »Dass ich nicht lache. Eher Speichellecker und hirnlose Gottesanbeterinnen.«

Jack stutze. Was für eine Ausdrucksweise für eine Nonne!

»Gott im Himmel! Ich war froh, ihnen und ihren beschränkten Welten entkommen zu sein. Und nun kehre ich zurück. Gescheitert.«

»Es ist doch nicht Ihre Schuld, dass das Waisenhaus schließen musste.« Lively rückte das Haarband auf ihrem Kopf zurecht. »Jeder weiß, was Sie hier für eine gute Arbeit geleistet haben.«

»Ja, das sagen sie auch. Das stand auch in dem Brief.« Sie seufzte und erhob sich, um das Teewasser vom Herd zu nehmen. »Aber in Wahrheit gibt es doch keinen anderen Grund. Ich hätte es besser machen müssen. Ich hätte es verhindern können.«

»Das wissen Sie doch gar nicht.« Lively richtete sich auf ihrem Stuhl auf. »Das kann alle möglichen Gründe haben, die Sparmaßnamen der katholischen Kirche voran ...«

Josepha hob eine Hand und Lively verstummte. Jack schmunzelte, denn es war schon eine Seltenheit, dass sich seine Schwester von jemandem maßregeln ließ.

Die Nonne lächelte ihr milde zu, griff nach der Kanne und goss den Tee in drei Becher. Danach brachte sie sie zum Tisch. Skeptisch betrachtete Jack die Brühe in dem Gefäß vor ihm, hob es hoch und roch probehalber daran. Nebenbei sah er, wie sich Lively wieder über den Tisch und in die Richtung von Schwester Josepha vorbeugte. Dieser Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Und nun ist das Haus leergeräumt? All die Möbel, die Bücher ... die Akten?«

Fassungslos starrte Jack sie an und bemerkte erst nach wenigen Sekunden, dass sein Mund offenstand. Wie dreist konnte man sein? Er blickte zu Schwester Josepha, die jedoch von Livelys offensichtlichen Hintergedanken nichts mitbekommen zu haben schien.

»Sie haben alles mitgenommen.« Schwester Josepha nickte bestätigend. »Alles, was sich noch zu Geld machen lässt.« Nachdenklich nahm sie einen Schluck Tee. »Die Akten holen sie in den Abendstunden ab. Ich muss sie noch in Kisten packen.« Bei diesen Worten schüttelte sie den Kopf.

»Nur die Akten der aktuellen Kinder oder auch der ehemaligen?«

Jack legte den Kopf schief, verengte die Augen und fixierte seine Schwester, die ihn jedoch geflissentlich ignorierte. Wieso wollte sie die Akten haben? Was erhoffte sie darin zu finden? Eine Dokumentation über all die Streiche, für die sie im Kinderheim bestraft worden war?

»Alle Akten«, antwortete Josepha. »Ich bin mir aber sicher, dass sie die alten verbrennen werden. Was kümmert sie meine jahrelange Arbeit und Sorgfalt?«

Jack hob den Becher an seine Lippen und nippte an der heißen Flüssigkeit. Sie schmecke nicht so schlecht, wie er Josephas Kräutervariationen im Gedächtnis gehabt hatte. Er fixierte seine Schwester. Noch wusste er nicht ganz, was sie im Schilde führte, aber er würde es sicherlich bald herausfinden.

»So ein Ärger. Diese verdammten Kirchenbeamten ...« Lively schüttele übertrieben empört den Kopf, doch Schwester Josepha verengte die Augen und fixierte sie.

Sie schwieg einige Sekunden, dann hoben sich ihre Mundwinkel. Ihre Stimme war fast beängstigend ruhig. »Es tut mir leid, Liebes. Aber ich werde euch eure Akten nicht geben.« Sie neigte den Kopf wie zur Bestätigung und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem eigenen Becher.