Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche

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Klaus Kießling

Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch

in der katholischen Kirche

Klaus Kießling

Geistlicher und sexueller

Machtmissbrauch in

der katholischen Kirche

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

(Foto: © Arnd Bünker, Karsamstag)

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

978-3-429-05607-0

978-3-429-05148-8 (PDF)

978-3-429-06529-4 (ePub)

Inhalt

Vorwort

Geistlicher Missbrauch in der katholischen Kirche

1. Kontexte

2. Konturierungen

2.1. Theologische Annäherungen

2.2. Psychologische Beiträge

3. Kollusionen – ein Definitionsvorschlag

4. Konsequenzen

4.1. Theologische Infragestellungen

4.2. (Nicht-)Rezeption psychologischer Einsichten

4.3. Qualifizierte Geistliche Begleitung

Sexueller Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen

1. Ein paar leise Töne zu Beginn

2. Elternhaus, Pfarrhaus, Schulhaus – Tatorte sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen

2.1. Missbrauch und Gewalt

2.2. Sexuelle Gewalt in der Familie

2.3. Symptomatik bei Seelenmord

2.4. Möglichkeit und Unmöglichkeit von Versöhnung

2.5. Möglichkeiten des Beistands

2.6. Sexuelle Gewalt in Kirche und Schule

2.7. Pädophilie

3. Sündenböcke als Missbrauch mit dem Missbrauch

3.1. Sündenbock Homosexualität

3.2. Sündenbock Zölibat

3.3. Sündenbock Kirche

3.4. Sündenbock Gesellschaft

3.5. Sündenbock Medien

4. Drängende Fragen an Kirche und Theologie

4.1. Geschlossene Systeme – und ihre Mitläufer?

4.2. Heilige Kirche – und sündige Kirche?

4.3. Solidarität mit den Opfern – und den Tätern?

5. Antwortversuche: Lösungsansätze für strukturelle Problemlagen

5.1. Kirchliche Leitlinien

5.2. Umgang mit Tätern und Opfern

5.3. Gegen eine Nulltoleranzlösung

5.4. Für Prävention in der Arbeit mit Schutzbefohlenen

5.5. Für Prävention in Aus- und Fortbildung

6. Ein paar leise Töne zum Schluss

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Bei allen Formen von Missbrauch geht es um Missbrauch von Macht. Als sexualisierte Gewalt ist er an vielen Tatorten präsent, auf eigene Weise in der katholischen Kirche. Dabei drängt sich in wachsendem Maße die Frage nach spezifisch geistlichem Missbrauch auf.

In Psychotherapie und Supervision, in Seelsorge und anderen Settings der Begleitung sowie in öffentlichen Räumen schildern Betroffene sexualisierte Gewalt, die sie erleiden mussten, ohne dass sich diese für sie zwingend mit geistlichem Missbrauch verbunden hätte. Und andere Menschen haben in ihrer spirituellen Selbstbestimmung Verletzungen und Gewalt erfahren, die nicht mit sexuellen Übergriffen einhergingen. Unterscheidung tut also not.

Gleichwohl sind geistlicher und sexueller Machtmissbrauch oft sehr eng miteinander verwoben – nicht nur meiner Erfahrung nach. Daher geht es im Folgenden um beides: zunächst gezielt um die Frage, was Machtmissbrauch zu einem geistlichen macht und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, danach eigens um sexualisierte Gewalt und die Aufgabe, den Schutz von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen weltkirchlich und weltweit zu gewährleisten. Verbindungen und Analogien zwischen geistlichem und sexuellem Machtmissbrauch in der katholischen Kirche scheinen dabei immer wieder implizit auf, dann und wann aber werden sie auch ausdrücklich zum Thema.

Ebenfalls klar artikuliert sei mein herzlicher Dank an die Menschen, die in einem der oben genannten Zusammenhänge oder bei anderen Anlässen mutig offengelegt haben, was ihnen widerfahren ist, was ihnen das Ringen damit erleichtert oder erschwert und was sie insbesondere präventiv für unerlässlich halten. Sie bringen auf ihre Weise – auch stellvertretend – ans Licht, was nicht im Dunkeln verharren darf.

Mein Dank gilt auch denen, die sich mit diesen schwerwiegenden Fragen auseinandersetzen, um ihrer Verantwortung nachzukommen: in der Pastoral tätigen Frauen und Männern, die Sensibilisierung und Orientierung suchen; Mitgliedern nationaler Bischofskonferenzen und anderen kirchlichen Leitungspersonen, die Richtlinien zum Umgang mit und zur Prävention von Machtmissbrauch erarbeiten und sich dabei beraten lassen; den Studierenden, die sich auf einen seelsorglichen oder einen anderen psychosozialen Beruf vorbereiten; Kolleg*innen in verschiedenen Arbeitsbereichen; schließlich den Leser*innen dieses Buchs.


Frankfurt Sankt Georgen,im August 2020Klaus Kießling

Geistlicher Missbrauch in der katholischen Kirche

Kontexte – Konturierungen – Kollusionen – Konsequenzen

1. Kontexte

Bei geistlichem Missbrauch denke ich an jene verzweifelte Frau, deren Geistliche Begleiterin sie drängt, in ihrer Ehe mit einem Gewalttäter zu verharren, weil die Kirche es so verlange; an ein Beichtkind – was für ein Wort –, das seinerseits zu einem Beichtgeheimnis verpflichtet wird und mit niemandem darüber reden darf, was dort wieder und wieder geschieht; an eine mit ihrer Schwangerschaft ringende Frau, in deren Heimatgemeinde der darum wissende Diakon seine erste Predigt gezielt zu einem Anti-Abtreibungs-Feldzug nutzt; an einen jungen Mann, der seine Berufung sucht und dessen Begleiter ihm sein priesterliches Gewand überwirft; an viele andere Menschen, die ich in verschiedenen Settings kenne, insbesondere als Diakon und als Psychotherapeut.

Die getroffene Auswahl aktueller und real existierender Konstellationen soll eingangs vielerlei signalisieren: dass geistlicher Missbrauch nicht mit dem Missbrauch durch Geistliche zusammenfällt; dass zu möglichen klerikalen Tätern nicht allein Priester, sondern auch Ständige Diakone gehören; dass geistlicher Missbrauch auch ohne Beteiligung eines Klerikers vorkommt; dass geistlicher Missbrauch mit sexueller Gewalt einhergehen kann, wie es jenes Beichtkind bezeugt, aber nicht muss, wie es der Überwurf mit dem priesterlichen Gewand zeigt.

Dabei geht es bei allen Formen von Missbrauch um den Missbrauch von Macht1. Was aber macht Machtmissbrauch zu einem geistlichen?

Bei alledem konzentriere ich mich auf geistlichen Missbrauch in der katholischen Kirche – nicht weil er anderswo nicht vorkäme, sondern weil mir ein angemessener Umgang damit allenfalls in selbstkritischer Haltung möglich erscheint.

Ich knüpfe an diese Kontexte mit ersten Konturierungen an, zunächst mit theologischen Annäherungen und Einblicken in laufende Diskurse, dann mit psychologischen Beiträgen zur Auseinandersetzung mit Machtmissbrauch. Das noch zu erläuternde Stichwort der Kollusionen führt zum Vorschlag einer Definition von geistlichem Missbrauch. Daraus resultieren Konsequenzen, die ich exemplarisch in dreierlei Richtungen skizziere: auf theologische Infragestellungen hin, auf die Rezeption psychologischer Einsichten hin, auf Geistliche Begleitung hin.

 

2. Konturierungen

2.1 Theologische Annäherungen

Menschen, die erzählen, wes Geistes Kind sie sind, aus welchem Geist, aus welchem spiritus sie leben, gewähren Einblicke in ihre Spiritualität.2 Leben im Geist, geistliches Leben vollzieht sich innerhalb und außerhalb traditioneller Religiosität, die ihrerseits Möglichkeiten bietet, spirituelle Erfahrungen zu verorten und eine Unterscheidung der Geister vorzunehmen. Ein Leben aus dem Geist zeigt sich inspiriert, begeistert von Kräften und Impulsen, die nicht aus mir selbst kommen und, wenn sie bei mir ankommen, nicht bei mir verbleiben, wenn ich sie nicht wie einen Raub für mich behalten, sondern ans Licht der Welt bringen möchte – in allen Beziehungen, in denen, aus denen und für die ich lebe. In diesem Horizont erhellt, dass sich geistlicher oder auch spiritueller Missbrauch nicht etwa auf meine Gottesbeziehung beschränkt, während meine restliche Welt eine heile bliebe, sondern mich in all meinen Beziehungen prägt, also grenzenlos unheilvoll wirkt.

Spirituelle Selbstbestimmung ist der Titel der Lehrveranstaltung, die Doris Reisinger im Winter 2019/2020 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen anbot. Sie hebt darauf ab, dass es in der Gottesbeziehung wie in jeder Beziehung um ein Miteinander geht, sodass Menschen trotz aller Asymmetrie ein Recht auf spirituelle Selbstbestimmung3 zukommt – sowohl in der Beziehung zu Gott als auch in der Beziehung zu einem Geistlichen Begleiter, der Missbrauch begeht, wenn er die spirituelle Autonomie der ihm Anvertrauten dadurch verletzt, dass er seine eigene Stimme mit der Stimme Gottes verwechselt.

Mit Klaus Mertes4 kann es aber auch die begleitete Person sein, die die Stimme des Begleiters für die Stimme Gottes hält – oder umgekehrt lässt sich an die biblische Geschichte von der Berufung Samuels (1 Sam 3,1–21) denken, der die Stimme Gottes mit derjenigen Elis verwechselt, bis dieser zu differenzieren weiß –, und in einer dritten Variante machen fatalerweise beide Menschen die Stimme des Begleiters unter der Hand zu derjenigen Gottes. Dabei geht es nicht allein um einen Verstoß gegen das Erste und das Zweite Gebot, sondern zugleich um ein Vergehen an einem Menschen.

Spirituelle Not entsteht schleichend, wenn ein Begleiter zunächst als der lange gesuchte aufmerksame Zuhörer erscheint, bevor sich in der vermeintlichen Stimme Gottes sein eigenes Wort vernehmen und als Manipulation aufdecken lässt. Wer spirituell zu verdursten droht, freut sich, wenn ihm oder ihr Wasser gereicht wird, ohne zu schmecken, dass es vergiftet ist.5 Die offenen Arme des Begleiters erweisen sich als Falle, wenn sie eigener Bedürftigkeit entspringen und darum auf die Spiritualität der Betroffenen toxisch wirken, sodass sich hier jene Palette an Beschädigungen auftut, wie sie auch zu sexuellem Missbrauch gehört. Denn nirgendwo auf Erden tritt Macht mit größerer Macht auf, als wenn sie mit himmlischen Insignien einhergeht.

Drei Formen geistlichen Missbrauchs lassen sich unterscheiden: spirituelle Vernachlässigung, Manipulation, Gewalt.6 Die Differenzierung ist keine trennscharfe, aber eine hilfreiche, weil sie verständlich macht, wie geschehen kann, was Dritten, im Nachhinein aber oft auch Betroffenen, unerklärlich erscheint. Wenn Kinder gelernt haben, wie sie sich selbst spirituelle Ressourcen erschließen können, sind sie vor geistlichem Missbrauch gut geschützt, aber wer keine spirituelle Selbstbestimmung ausbilden konnte, erweist sich als anfällig und wenig wehrhaft, vielleicht gar als empfänglich für endlich klare Orientierungen, ist dankbar für jede Frucht in der eigenen spirituellen Wüste, profitiert also vorläufig, ohne zunächst nur sachte ansetzende Manipulationen als solche identifizieren zu können: Da sind Ausstrahlung und Charisma eines Menschen, der intuitiv jene anwirbt, die seine Übergriffe unterwerfungsbereit tolerieren; da sind emotionale Inszenierungen mit einseitigen Informationen; da sind subtile Einschüchterungen und Drohungen, die Unsicherheiten, Zweifel und anfängliche Widerständigkeit delegitimieren.

Spirituelle Manipulation baut auf Vernachlässigung auf. Die Schutzmauern gegenüber dem Manipulator fallen, wenn sie je existierten. Die Mauern dagegen, die sich um diese Beziehung herum bilden, werden immer dicker und höher, sodass Dritte keinerlei Hilferuf vernehmen, soweit er überhaupt noch artikuliert werden kann. Auch spirituelle Gewalt, die nicht an sexuelle Gewalt gekoppelt ist, wirkt wie eine Vergewaltigung, wie ein Mord, gilt als Seelenmord und kann daher zum Suizid führen. Auffällig erscheint mir die Analogie, die sich zwischen spiritueller Vernachlässigung, Manipulation und Gewalt auf der einen Seite und sexueller Grenzverletzung, Übergriff und Gewalt7 andererseits auftut. Sexuelle Grenzverletzungen lassen sich nicht immer an einer Absicht festmachen, spirituelle Vernachlässigung auch nicht. Sexuelle Übergriffe dagegen erfolgen zielgerichtet, spirituelle Manipulation auch. Sexueller Missbrauch ist Gewalt, spiritueller Missbrauch auch.

Geistlicher Missbrauch wirkt nicht erst dann verheerend, wenn er in sexuellen Missbrauch mündet, auch wenn sich die Strukturen auf erschreckende Weise gleichen und Betroffene oft von beidem berichten. Emotionaler Missbrauch, auf den Katharina Kluitmann8 abhebt, ist hier wie dort gegeben. Loyalitäten, gemeinsames, womöglich elitäres Sendungsbewusstsein und Opferbereitschaft9 schweißen zusammen. Ihr Übriges tun mit emotionalem Missbrauch einhergehende Scham- und Schuldgefühle – gehegt unter dem Eindruck des Opfers, nicht zu genügen.

Auch die systemischen Bedingungen geistlichen Missbrauchs gleichen denen sexueller Gewalt: Geschlossene Systeme bilden etwa religiöse Gemeinschaften,10 wenn sie ihren Mitgliedern lediglich interne Begleitung anbieten und bei geistlichem Missbrauch unweigerlich Mitläufer*innen generieren, die vielleicht etwas merkten oder hätten merken müssen, sich damit aber an niemanden wenden können. Hier vermischen sich forum internum und forum externum – wenngleich vom Kirchenrecht unterschieden.11 Ein Beichtvater darf kirchenrechtlich außerhalb der Beichte nicht auf in der Beichte gewonnenes Wissen zurückgreifen, auch nicht gegenüber der beichtenden Person – aber was, wenn es in geschlossenen Systemen trotzdem geschieht?

Geistlichen Missbrauch als Verletzung spiritueller Selbstbestimmung zu fassen, verweist erneut auf das Verständnis von sexuellem Missbrauch: »Erst auf der Grundlage des Menschenrechts auf sexuelle Selbstbestimmung wird unmissverständlich deutlich, worin die besondere moralische Verwerflichkeit sexuellen Missbrauchs besteht.«12 Und die kirchliche Situation bleibt alarmierend: »Nach derzeitigem Kenntnisstand erlauben die vorhandenen empirischen Daten die Schlussfolgerung, dass die sexuellen Missbrauchsvorwürfe gegen katholische Priester von 2009 bis 2015 nicht rückläufig sind und die Quote angezeigter Priester im Vergleich zur männlichen Allgemeinbevölkerung etwa gleich hoch ist. Die Vorstellung, dass die besonderen moralischen Anforderungen an den Priesterberuf mit einer niedrigeren Quote an Strafanzeigen wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern verbunden sind, lässt sich mit den vorhandenen empirischen Daten nicht bestätigen.«13

Wenn ich mich etwa bei einem Unfall verletze, schlägt er dort eine Wunde, wo ich mir zuvor heil vorkam. Für geistlichen Missbrauch führt dieser Vergleich jedoch insofern in die Irre, als eine Verletzung spiritueller Selbstbestimmung meist nicht jene ereilt, die sich zuvor als spirituell selbstbestimmt und insofern gesund erlebten. Zumindest im Nachhinein erschließt sich Betroffenen oft eine unheilvolle Vorgeschichte, die an spirituelle Selbstbestimmung noch nie hatte denken lassen. Und auch die ebenso schlichte wie treffende Umschreibung von geistlichem Missbrauch als Verwechslung zweier Stimmen und Verstoß gegen die mosaischen Gebote bedarf der Einbettung in ein Beziehungsgeschehen, das von emotionalem Missbrauch geprägt ist, ohne dass dieser für geistlichen Missbrauch spezifisch wäre. Die vielfach geforderte theologische Aufarbeitung von Missbrauch hat mit den genannten und weiteren Kolleg*innen an Fahrt gewonnen, und sie muss weitergehen. Aber sie kann nur weitergehen, wenn sie sich auch für Erkenntnisse öffnet, die andere Disziplinen bereithalten.

2.2 Psychologische Beiträge

Als Menschen sind wir ein Leben lang auf andere Menschen angewiesen, auf deren Liebe, auf deren Anerkennung. Mit dieser Einsicht verbinden sich sowohl unsere beglückendsten als auch unsere schmerzlichsten Erfahrungen. Mancher Versuch, diese Abhängigkeit zumindest abzumildern, geht dahin, aus möglichst machtvoller Position heraus Liebe und Anerkennung zu gewinnen, zu erzwingen oder zu erkaufen.

Sozialpsychologisch versteht sich Macht oder power als asymmetrische Relation zwischen Machthaber und Beherrschten, also als Vermögen einer Instanz (Person, Gruppe, Institution), nach eigenen Vorstellungen auf andere Einfluss auszuüben – mit dem Ziel, deren Verhalten und Erleben zu kontrollieren und womöglich auch gegen Widerstände zu verändern.14

Ein Machtmotiv ist ein zeitlich stabiles und über verschiedene Situationen konsistentes Bedürfnis, machtbezogene Ziele anzustreben und Situationen aufzusuchen, die dies ermöglichen. Unterscheiden lassen sich sozialisierte Machtmotive, die dank gegebener Inhibitionstendenz zu gebremstem, eingehegtem, sozial verträglichem Machthandeln führen, und sogenannte personalisierte Machtmotive, aus denen ungehemmtes und darum sozial wenig verträgliches Machthandeln resultiert.15

Unterscheiden lassen sich auch verschiedene Ressourcen, Machtquellen, Machtmittel:

die Sanktionsmacht, die einer Zielperson die Belohnung oder die Bestrafung ihres Verhaltens in Aussicht stellt, sofern die Einfluss nehmende Person dieses kontrollieren kann, etwa in geschlossenen Systemen;

die informationale Macht derer, die überzeugende Argumente vorbringen, aber auch entscheiden, welche Informationen fließen;

die Expert*innenmacht, die der spezifischen Sachkenntnis (Expertise) einer Person zugeschrieben wird;

die Vorbildmacht der Einfluss nehmenden Instanz, mit der sich eine Zielperson identifiziert, weil sie deren Eigenschaften für bewundernswert und deren Verhaltensweisen für nachahmenswürdig hält;

eine legitime Macht, die sich durch formale Sozialstrukturen rechtfertigt, in denen Leitungspersonen als Autoritäten gelten 16

Autorität kommt einer Person in einer Machtposition zu – dank eigener Kompetenz, dank überkommenen Ansehens, dank eigener Machtmittel.17

Aus Machtbeziehungen Liebe und Anerkennung zu schöpfen, mag schon darum eine Weile gutgehen, weil zu ihren Charakteristika deren Verleugnung gehört, und zwar auf beiden Seiten: Denn machtvolles Auftreten verliert schließlich seine Kraft, wenn seine Legitimität infrage gestellt wird, und umgekehrt wirkt die Einsicht, des eigenen Einflusses beraubt und also ohnmächtig zu sein, kränkend.

Aber je mehr ich aus Machtbeziehungen Liebe und Anerkennung schöpfe, meine Machtmotive auslebe, meine Machtmittel einsetze und meine Autorität gegenüber anderen zur Geltung bringe, desto weniger Eigengewicht messe ich diesen ja von mir selbst domestizierten und depotenzierten anderen bei, desto weniger Eigengewicht auch der mir durch sie zuteilwerdenden Liebe und Anerkennung. Ich mag in solchen Beziehungen der Mächtigere bleiben, aber meine Strategie geht nicht auf. Ein Teufelskreis setzt ein, indem ich auf noch mehr Macht setze und mich die fortwährende Mangelerfahrung in sogenannte narzisstische Wut versetzt. So entwickelt diese psychosoziale Dynamik ihren suchtartigen Charakter. Zugleich erinnert diese Entwicklung an die griechische Mythologie: Der schöne Jüngling Narziss verschmäht die Liebe der Nymphe Echo und anderer Nymphen, auch die des Bewerbers Ameinias. Von Nemesis, der Göttin der Vergeltung, wird er deshalb mit unstillbarer Selbstliebe bestraft: Beim Trinken beugt er sich über eine Quelle und verliebt sich in sein eigenes Spiegelbild. An dieser Liebe leidet Narziss und verzehrt sich. Er stirbt an der Liebe zu sich selbst. In der Unterwelt spiegelt er sich noch in den Wassern des Styx, bis er schließlich in die nach ihm benannte Blume verwandelt wird.18

 

Narzissmus als psychologisches Konstrukt äußert sich typischerweise in Selbstüberschätzung, Überempfindlichkeit gegen Kritik, Suche nach Bewunderung und dominantem Interaktionsverhalten. Zwar wirken narzisstisch motivierte Personen bei ersten Begegnungen oft attraktiv, langfristig aber egozentrisch und selbstverliebt.19

Damit geht oft ein Empathiemangel einher 20 Haben narzisstisch geprägte Persönlichkeiten von ihren Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen keine Empathie erfahren, sondern Gleichgültigkeit und Kälte? Hartnäckig hält sich die populäre Annahme eines unbewusst geringen Selbstwertgefühls, das durch prahlerisch inszenierte Grandiosität kompensiert werden will. Wer sich selbst und für sich selbst insgeheim nur schwarz sieht, greift nach der strahlend weißen Weste, um dafür Anerkennung zu finden und um alles Schwarze zugedeckt zu halten. Diese Konstellation kommt vor, aktuelle empirische Belege weisen jedoch in eine andere Richtung:21 Sie legen nahe, dass Eltern ihre Kinder im Übermaß gelobt und nie kritikfähig gemacht haben, sodass zwar ihr Verhalten auffällig erscheint, weil es keine Frustrationstoleranz erkennen lässt, nicht aber ihr Selbstwertgefühl. Die inzwischen Erwachsenen können sich nur nicht vorstellen, wie und warum die bisher immer präsente Versorgung mit Lob, Anerkennung und anderen Zuckerle, wie es in meiner Heimat heißt, plötzlich abbrechen sollte. In der Arbeit mit betroffenen Missbrauchstätern wurde mir sehr deutlich, wie machtvoll ihre unersättlichen Ansprüche auf ein Gegenüber wirken müssen, das halb wohlmeinend, halb kleinlaut die ständig drohende Gefahr der Unterzuckerung einer narzisstisch geprägten Person fürchtet, sich so ausbeuten und einen emotionalen Missbrauch geschehen lässt, der Beziehungen allein als Quelle der Bewunderung sucht. Der Mächtige verhungert zwar ohne seinen Lieferanten, hält ihn aber machtvoll in Bann – eine Doppelbindung, wie sie im Lehrbuch steht! Und ein auch hier gegebenes Schwarz-Weiß-Denken zeigt sich dann in der allzu schlichten Zweiteilung der Welt in Bewundernde und Unnütze.

Die narzisstisch markante Selbstidealisierung geht mit einer Selbstimmanenz einher, also der Unfähigkeit, sich jenseits der eigenen Person für andere, womöglich höhere Werte und Ideale begeistern zu lassen, und mit einer Fremdabwertung, die Kooperationen verhindert und den Mangel an Empathie und emotionaler Wärme nicht zwingend als fehlende Gabe, sondern vielmehr als fehlenden Willen aufscheinen lässt.22

Die Auseinandersetzung mit narzisstischen Phänomenen will keinen Generalverdacht erheben, vermag aber zu sensibilisieren, um Spielarten eines spirituell geprägten Machtgefälles auf die Schliche zu kommen – und einem Missbrauch, der die Bitte »Dein Wille geschehe« untergräbt und insgeheim darauf setzt, dass »mein Wille geschehe«.

Und zeigt sich hinter den langjährig und im weltkirchlichen Maßstab gepflegten Vertuschungsstrategien nicht eine strukturelle Empathielosigkeit als pastorales Muster?23

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