Der Dukatenhof

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Der Dukatenhof
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KARL MAY
DER DUKATENHOF

ERZGEBIRGISCHE

DORFGESCHICHTE

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 44

„DER WALDSCHWARZE“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1338-9

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

DER DUKATENHOF

Der Köpfle-Franz

Aus vergangener Zeit

Ein Gottesgericht

Gesühnte Schuld

DER DUKATENHOF
Der Köpfle-Franz

Die steile Bergstraße hinauf schob sich mit langsamen, schildkrötenartigen Bewegungen eine solch eigentümliche Figur, dass ein Unbekannter sie von Weitem wohl kaum für ein menschliches Wesen gehalten hätte. In der Nähe aber erkannte man die seltsame Gestalt als einen Mann, der sich mühsam mit den Händen fortschieben musste, weil ihm die Beine gänzlich fehlten.

Der mit einer alten, vielfach ausgebesserten Jacke bekleidete Körper war durch Riemen in einem aus starkem Holz gefertigten Rollkasten befestigt. Den nach vorn tief niedergebeugten Kopf bedeckte ein ungewöhnlich breitkrempiger Filzhut, dessen ursprüngliche Form und Farbe wohl schon seit Jahren in Sturm und Regen verloren gegangen war; über dem Rücken hing ein umfangreicher, schmutziger Leinwandsack, jedenfalls bestimmt zur Aufnahme von allerhand Geschenken, denn das ganze Äußere des Unglücklichen ließ vermuten, dass er zu denjenigen Beklagenswerten gehörte, die mit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse lediglich auf die Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Und diese Mildtätigkeit schien sich im vorliegenden Fall als fruchtbar erwiesen zu haben; der Sack war trotz seiner Größe wohlgefüllt und seine Schwere veranlasste den Träger, öfter auszuruhen, als es trotz seiner Gebrechlichkeit sonst wohl der Fall gewesen wäre. Nach langer Anstrengung endlich oben auf der Höhe angekommen, hielt er tief atmend still und ließ den Blick hinab in das jenseitige Tal gleiten, in dem sich eins jener armen Gebirgsdörfer hinzog, deren Bewohner meist nur durch die schwachen Fäden einer wenig lohnenden Industrie mit der Außenwelt in Verbindung stehen. Diese Abgeschlossenheit übt einen unleugbaren Einfluss auf alle ihre äußeren und inneren Verhältnisse und erhält dadurch eine Urwüchsigkeit, die unter der dichter gesäten Bevölkerung des platten Landes sehr bald verloren geht.

Vor ihm, da, wo die Straße sich wieder abwärts neigte, stand ein ziemlich neues, zweistöckiges Gebäude, über dessen Eingangstür in goldenen Lettern die Inschrift ‚Zur Bergschenke‘ erglänzte. Vor dem Haus hielt ein leichter Wagen und aus dem Innern tönte ein mehrstimmiges, schallendes Gelächter durch die geöffneten Fenster. Der Ermüdete schien die Stimmen zu kennen, er erhob bei ihrem Klang lauschend den Kopf und nun waren seine bisher unter der breiten Kopfbedeckung verborgenen Züge zu erkennen – Züge, wie man sie unter dem alten Hut gar nicht erwartet hätte, so wenig zu seiner übrigen Erscheinung passend, so intelligent, hätte man fast sagen können, wenn nicht ein rätselhaftes Etwas in dem Gesicht, ein eigentümliches gebrochenes Licht des großen, dunklen Auges dieser Bezeichnung widersprochen hätte.

„Aha, der Baron und der Zettelkramer! Ganz gewiss wollen die hinunter zum...“ Er drängte den Namen, den auszusprechen er schon im Begriff gestanden hatte, wieder zurück. Der unterbrochene Gedankengang hatte schlummernde Geister in ihm erweckt; sein Auge loderte plötzlich in wildem Feuer; seine Hände erhoben wie drohend die Stemmhölzer, mit deren Hilfe er sich fortgeschoben hatte, und jenes unbestimmbare Etwas zuckte jetzt gehässig über das vorhin so ruhige und unbewegte Angesicht. „Nur zu, nur zu, nur immer zu! Ihr seid zwar Spitzbuben, das weiß ich; ihr vernichtet die Güter, saugt die Bauern aus und bringt ehrliche Leute mit euren Zetteln um Habe und Eigentum, arbeitet mir aber in die Hände, und darum hab ich alleweil Freude, wenn ich euch zu sehn bekomme.“

Er rollte sich die kurze Strecke bis zur Schenke weiter. Bei dem Fuhrwerk hielt er überrascht an. „Was?! Das ist ja dem – – na, dem sein Brauner, der ihn hundertzwanzig Dukaten bar gekostet hat! Wie kommt der Gaul zum Baron? Da hat es wieder mal eine Wette gegeben oder ein kleines Spielchen bei verschlossner Tür. Nur zu, nur immer zu, denn so ist’s mir grad recht! Ihr würgt ihn langsam ab und ich geb ihm den Gnadenstoß. Ich hab noch niemand was zu Leid getan, aber für den gibt’s keine Gnade und kein Erbarmen; für den gibt’s auch kein Mitleid und keine Barmherzigkeit, denn er ist mein Teufel gewesen, so lange und so weit ich zurückdenken kann. Jetzt werde ich hineinfahren zu den beiden. Ich will mal sehn, wie sie mich wieder verschimpfieren werden.“

Er schob sich in den Flur des Hauses und von da durch die nur angelehnte Tür in die Gaststube hinein.

Da saßen drei Männer, die des Betrachtens wohl wert waren. Der erste war der Wirt, eine untersetzte, behäbige Gestalt, deren Gesichtszüge einen nicht üblen Eindruck gemacht hätten, wenn sie nicht durch den Ausdruck der List und Verschlagenheit sozusagen verunziert worden wären. Er qualmte aus einer Meerschaumpfeife mit einem mächtigen Kopf. Der zweite war ein kleines, dürftiges Männchen mit einem abstoßenden Sperbergesicht und einem blauglasigen Zwicker auf der Nase. Der dritte, von breit und hoch gebauter, beinahe hünenhafter Figur, hatte einen großen, eckigen Kopf mit einem Gesicht, als wäre es mit dem Beil aus Holz roh zugehackt worden.

Als dieser Letztere den Ankommenden bemerkte, schlug er ein widerwärtiges, schallendes Gelächter an und rief:

„Alle Teufel, was ist denn das für eine armselige Missgeburt, die es da wagt, sich uns vor die Augen zu schieben? So etwas hab ich, bei meiner Seel, noch niemals gesehn!“

„Ja“, meinte der Kleine, „solche Geschöpfe sollten von der Polizei angehalten werden, andern Leuten fern zu bleiben!“

„Lasst’s gut sein, ihr Herrn!“, sagte der Wirt in beschwichtigendem Ton. „Es ist der Köpfle-Franz, ein gar nicht schiefer Kerl.“

Der Unglückliche hatte diese Worte über sich ergehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Jetzt fragte der Lange:

„Ein wunderbarer Name: der Köpfle-Franz. Wie kommt der Mensch dazu?“

„Er hat ihn wegen einer ihm eignen Geschicklichkeit“, antwortete der Wirt. „Der Franz ist ein Zeichner, der sich sehn lassen darf. Wenn man vor ihm steht und er nimmt den Stift in die Hand, so ist er halt der wahre Künstler. Keiner bringt die Köpfe so sauber, so gut und richtig wie er. Er zeichnet nichts als Köpfe, und wenn er einen abmalt, so ist man getroffen, grad wie man leibt und lebt. Darum heißt er eben der Köpfle-Franz.“

„Das machst du mir nicht weis! Wenn er das fertig brächte, so ständ es besser mit ihm.“

„Sie glauben’s nicht? So werd ich’s Ihnen beweisen. Franz, willst du mich abzeichnen, so wie ich jetzt hier sitze, mit der Tabakspfeife im Mund? Du sollst ein gutes Bier bekommen und noch fünf Groschen darauf.“

„Warum denn nicht? Das Bier soll mir recht sein, denn ich hab grad den richtigen Durst, und das Geld ist alleweil am notwendigsten zu brauchen. Bleib sitzen; ich werd gleich fertig sein!“, antwortete der Krüppel.

Er schob sich an den nächsten Stuhl, nahm den Sack vom Rücken, öffnete ihn und zog eine sorgfältig eingewickelte Papierrolle hervor. Sie enthielt sein Zeichenmaterial. Der Wirt richtete sich erwartungsvoll auf, brachte die neue Meerschaumpfeife in das gehörige Licht, und kaum waren einige Minuten vergangen, so hielt er die fertige Bleistiftskizze in der Hand.

„Franz“, rief er befriedigt, „so gut wie heut hast du mich noch niemals getroffen! Hier sind die fünf Groschen, und von wegen dem Bier, da sollst du zwei Seidel haben statt nur eins!“

„Zeig her, Bergwirt“, meinte der Kleine. „Wenn er heut wirklich so eine gute Hand hat, so soll er mich auch abmalen. Wahrhaftig, besser bringt’s der größte Künstler nicht zu Wege! Guck her, Baron! Franz, willst du auch meinen Kopf zeichnen?“

„Meinetwegen, wenn’s dem Herrn Bankier recht ist! Hab grad noch zwei Papiere, für Sie und den Herrn Baron eins!“

„Gut“, entschied dieser. „Ich seh, dass du kein dummer Kerl bist. Sollst mich also auch mal zeichnen, und wenn ich mit dir zufrieden bin, so bekommst du einen ganzen Taler.“

Er hatte erwartet, dass dieses Gebot den armen Teufel in Staunen versetzen werde; dieser aber nahm mit der gleichgültigsten Miene den Bleistift wieder zur Hand und führte ihn mit einer Sicherheit über die Blätter, als handle es sich um die allereinfachste Strichübung. Als die Köpfe ihre Schattierung erhalten hatten, übergab er sie den beiden Männern.

„So! Die Gesichter sind getroffen“, sagte er. „Wenn man solche Herren zu Papier bringt, muss man sich schon mehr Mühe geben als bei gewöhnlichen Leuten.“

Die Arbeit war sehr gut gelungen; der ‚Baron‘ gab ihm den versprochenen Taler und auch der ‚Bankier‘ entschloss sich zu einer gleichen Zahlung.

„Kannst’s immer nehmen, Franz“, ermunterte er, „wir sind ja Leute, die es haben! Nicht wahr, Bergwirt?“

Der Gefragte nickte zustimmend und klopfte dabei mit einem verschmitzten Lächeln an seine eigene Tasche.

„Das wollte ich meinen! Wir haben wohl alle drei nicht nötig, mit dem Pfennig zu fuchsen, denn solange es in der Welt noch Dumme gibt, braucht kein Gescheiter für’s bisschen Münze zu sorgen!“

 

„Hast Recht“, lachte der Riese. „Und die Dummen werden ja niemals alle; wenn es mit einem zu Ende geht, so kommt dafür ein ganzer Güterzug voll anderer wieder an. Heut wird hier bei euch ein Gänsrich gerupft!“

„Kann mir’s denken, wer es ist. Hab ja auch schon genug Federn von ihm. Aber die schönste Feder, die er gelassen hat, war doch der Braune draußen.“

„Ja, ja, Alter, das war ein Meisterstück von uns dreien. Halt nur dein Hinterstübchen immer bereit, gib unsre Karten nicht an andre Leut. Weißt du vielleicht, wer alles zum Dukatenhof geladen ist?“

„Die ganze Nachbarschaft. Die Kleinen bleiben unten in der Stube und die paar Großen kommen hinauf ins gute Zimmer. Geld gibt’s da oben mehr als genug. Heut Abend komm ich auch hin; beim Begräbnis freilich kann ich nicht mit sein, weil die Wirtin drunten ist.“

„Da kommst du natürlich hinauf zu uns! Wir legen eine kleine Bank und du – na, du wirst ja sehn, wie es passt; der Dukatengraf kann dir deinen Stall auch mit bauen helfen.“

Der Köpfle-Franz schien wenig oder gar nicht auf diese Reden zu achten. Er hatte sein Geld eingesteckt, sein Bier getrunken und griff eben nach seinem Sack, um sich zu verabschieden, als sich vom Tal her das Geläute von Glocken vernehmen ließ.

„Was?“, rief der Baron erstaunt. „Schon so weit? Da haben wir über der Malerei die Leiche ganz vergessen und können uns nun sputen, wenn wir den Zug noch sehn wollen. Vorwärts, Kollege!“

Der Kleine setzte den blauen Zwicker fest auf und erhob sich.

„Als ob ein Leichenzug so ganz was grausam Sehenswertes wäre!“, meinte Franz gleichgültig. „Meinetwegen mag sterben, wer da will, ich lauf keinem nach. Wer wird denn hinausgetragen?“

„Das ist’s ja eben, was ich dir sagen wollte“, antwortete der Wirt, der sich anschickte, die beiden Gäste an den Wagen zu begleiten. „Ich habe es nur über den Bildern ganz und gar vergessen. Die Dukatenbäurin ist tot; sie hat vor ihrem Ende gar viel nach dir gefragt und fast gar nicht sterben können, weil du nicht da gewesen bist.“

Er verließ das Zimmer und bemerkte deshalb die überraschende Wirkung nicht, die seine Worte auf den Frager ausübten. Dieser starrte mit dem Ausdruck des höchsten Schreckens im erbleichten Angesicht und mit weit aufgerissenen Augen nach der Stelle, wo der Berichterstatter gestanden hatte; kein Glied seines Körpers regte sich, keine Miene bewegte sich, er schien bei der Kunde von dem Tod der Dukatenbäurin selbst zur Leiche geworden zu sein. So blieb er eine ganze Weile wie leblos auf demselben Fleck, bis sich endlich die furchtbare Beklemmung mit einem tiefen, röchelnden Atemzug aus der zusammengepressten Brust rang:

„Die Anna ist tot – der Anna läuten sie – die Anna wollen sie begraben? Nein, nein, die Anna ist nicht tot, die Anna kann nimmer sterben, die Anna darf nicht begraben werden! Ich leid es nicht, dass ihr sie einscharrt, ich leid es nicht! Fort, fort – – ich will sie sehn, ich muss sie festhalten; ihr dürft sie mir nicht nehmen!“

Der Schreck war verschwunden, dafür aber eine Angst über ihn gekommen, die alle seine Nerven und Sehnen anspannte und ihm den hellen Schweiß aus den Poren trieb, noch eh seine Glieder zu irgendeiner Anstrengung gelangt waren. Er warf sich den Sack über die Schultern, griff zu den beiden Stemmhölzern und arbeitete sich mit einer Geschwindigkeit hinaus auf die Straße, um die ein vollständig Gesunder ihn hätte beneiden können; dann ging es, ohne auf die Zurufe des Wirts zu hören, in fliegender Hast an diesem vorüber und die Straße hinab, auf der das Geschirr des Barons in kurzem Trab bereits dahinrollte.

Man konnte von der Höhe den Zug deutlich beobachten, der sich von dem unteren Ende des Dorfes nach dem in dessen Mitte befindlichen Kirchhof bewegte. Zur Beobachtung der Einzelheiten allerdings hätte man sich in größerer Nähe befinden müssen, und da gab es nicht bloß zu sehen, sondern auch zu hören; gar manches bedeutsame Wort flog unter den Leuten, die sich zu beiden Seiten des Wegs, den das Trauergeleit einschlagen musste, aufgestellt hatten, hin und zurück.

Allen voran wurde nach schöner, alter Sitte das mit schwarzem Flor umhangene Kreuz getragen, hinter dem in einzelnen Paaren die männliche Schuljugend folgte, begleitet von den Lehrern und dem Ortsgeistlichen. Dann kam der reich mit Kränzen und Girlanden geschmückte, von acht Männern getragene Sarg, dem sich nach den nächsten Verwandten der Verstorbenen eine lange Reihe von Bekannten anschloss. Natürlich richtete sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer vor allen Dingen auf die Hinterlassenen der Toten. Es waren dies nur zwei Personen, die nebeneinander gingen, der Dukatenbauer und seine Tochter.

Der Erstere musste schon durch seine äußere Erscheinung auffallen. Es war ein hoch und kräftig gebauter Mann im Ausgang der fünfziger Jahre; seine ganze Haltung zeigte den selbstbewussten, unlenksamen Charakter, durch den er selbst über den häuslichen Kreis hinaus gefürchtet und – gemieden war. Keine Träne stand in seinem Auge, kein Zug der Trauer war in seinem harten, finsteren Angesicht zu bemerken; an der Schleife seines Huts glänzten, wie immer, die sechs Dukaten; wie immer hing ihm statt der Uhrkette die lange Dukatenschnur um den Hals und wie immer reihten sich an der Weste und dem offen stehenden Rock an Stelle der Knöpfe Dukaten an Dukaten. Er hieß Graf, wurde allgemein der Dukatengraf genannt und wollte auf diesen Beinamen, der sein größter Ruhm und Stolz war, nicht einen Augenblick verzichten, auch nicht für diese Stunde, in der jeder andere den irdischen Flimmer von sich geworfen hätte, um auch an seinem Kleid zu zeigen, dass er die Macht eines höheren Geschicks anerkennen müsse.

Auch das Mädchen an seiner Seite hatte keine Tränen. Aber, das sah man auf den ersten Blick, sie fehlten nur, weil sie bisher zu reichlich geflossen waren. Es trug das mit den schweren Flechten umwundene Köpfchen tief gesenkt; die sonst so rosigen Wangen waren erbleicht und die gefalteten Hände drückten sich auf die Brust, als müssten sie das schmerzerfüllte Herz vor dem Zerspringen bewahren. Aller Augen wandten sich mit Unwillen vom Vater weg auf die Tochter, und dann gab es keinen Blick, in dem nicht die wärmste Teilnahme und das innigste Mitleid zu lesen gewesen wären.

Es war das erste Mal, dass eine Leiche ohne Gesang durch das Dorf getragen wurde, aber die Tote hatte es ausdrücklich so gewollt. Ihr Leben war ein stilles gewesen; sie hatte im Stillen gewirkt und gelitten, im Stillen wollte sie nun auch beerdigt sein. Nur draußen am offenen Grab sollte man ihr einen Vers singen, einen einzigen Vers; den hatte sie sich selbst ausgewählt und noch in ihrer letzten Stunde beim Pfarrer bestellt. War sie dabei vielleicht von dem Wunsch geleitet worden, im Tod ein mahnendes Wort an das Gewissen ihres Gatten zu richten, da sie im Leben es niemals hatte wagen dürfen? Wenigstens richteten sich die Blicke unwillkürlich auf ihn, als sich auf dem Kirchhof der Kreis um den geöffneten Sarg geschlossen hatte und nach der bekannten Melodie die ernste Erinnerung erklang:

„O Ewigkeit, du Donnerwort,

O Schwert, das durch die Seele bohrt,

O Anfang sonder Ende.

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,

Vielleicht schon morgen oder heut

Fall ich in deine Hände.

Mein ganz erschrocknes Herz erbebt,

Dass mir die Zung am Gaumen klebt!“

Das Kind der Verstorbenen kniete an der Seite des Sargs und hatte in wortlosem Schmerz den Kopf in das Kleid der toten Mutter gehüllt. Der Dukatenbauer stand aufrecht daneben; sein Auge ruhte nicht auf den Zügen, die er jetzt zum letzten Mal sehen durfte, sondern er begegnete mit zornigem Ausdruck den auf ihn gerichteten Blicken der Anwesenden. Die Adern traten dunkler und deutlicher hervor; die Lippen pressten sich kräftiger aufeinander und die Hände hoben sich langsam, wie bereit zur Abwehr der Beleidigung, die er im Gesang und in den Blicken zu bemerken glaubte.

Als der letzte Ton verklungen war, trat der Geistliche zu Häupten der Verstorbenen und begann seine Rede; aber er nahm nicht, wie sonst üblich, ein Bibelwort zum Thema, sondern es diente ihm der soeben gesungene Vers dazu. Auch das hatte die Tote gewollt und ihr Wille musste befolgt werden. Der Pfarrer war im weiten Umkreis als einer der besten Redner bekannt; schon oftmals hatte er harte Seelen auf das Tiefste erschüttert, und man ahnte, dass er sich heute eine ähnliche Aufgabe gestellt hatte. Trotz des milden, linden Tons, in dem der greise Seelsorger sprach, fühlte auch der Dukatengraf diese Absicht. Sein Stolz bäumte sich dagegen auf; die Falten, die sich ihm von Schläfe zu Schläfe zogen, wurden immer tiefer, und als der Redner bei dem Schwert anlangte, „das durch die Seele bohrt“, und die Absicht vermuten ließ, jetzt sich an diejenige Seele zu wenden, die der Toten im Leben am nächsten hätte stehen sollen, da war es mit seiner Geduld zu Ende. Den abgenommenen Hut sich auf den Kopf setzend, ergriff er die Hand der Tochter und sagte so laut, dass alle es hörten:

„Komm, Emma, wenn’s so lauten soll, da haben wir hier nichts mehr zu suchen! Ich danke für Ihre Rede, Herr Pfarrer; bezahlt hab ich sie, aber brauchen tu ich sie nicht! Der Dukatengraf weiß ganz von selber, was er zu tun und zu lassen hat, und Sie werden wohl noch erfahren, was für ein Unterschied zwischen Leichenrede und Strafpredigt ist!“

Emma erschrak sichtlich über das Tun ihres Vaters, sie zog ihre Hand aus der seinen und wandte sich zum Sarg zurück.

„So bleib, wenn dir’s gefällt; ich hab nichts dagegen!“, sprach er, indem er sich vom Grab wegwendete.

Die nahe Stehenden wichen scheu vor ihm zurück; er schritt mit trotzig zurückgeworfenem Kopf zwischen ihnen hindurch und verließ den Kirchhof. Draußen kam eben der Wagen des Barons dahergerollt.

„Willkommen, Herr Baron! Sie wollen wohl zu mir?“, fragte er diesen.

„Natürlich! Wir müssen Ihnen doch unser Beileid über den Verlust...“

„Schon gut! Halb so viel ist auch genug! Und wenn Sie sich wundern, mich hier zu sehn, statt drin bei den andern, so sollen Sie unterwegs den Grund erfahren. Darf ich aufsteigen?“

Sein Verhalten hatte die ganze Versammlung in eine unbeschreibliche Verwirrung gebracht, und nur einer war es, der seine Fassung bewahrte, der Geistliche. Er suchte zunächst das Mädchen zu beruhigen, das jetzt schluchzend an der Erde lag; dann winkte er dem allgemeinen Ausdruck der Entrüstung Schweigen und setzte, als die nötige Stille wieder eingetreten war, die unterbrochene Rede fort.

Ein Begräbnis wie das heutige hatte noch niemals stattgefunden, aber es war auch niemals eine Predigt wie die gegenwärtige gehalten worden, und als am Schluss das Gebet gesprochen war, da wusste jeder, dass er diesen Tag im ganzen Leben nicht vergessen werde.

Der Sarg sollte nun geschlossen werden und schon griff man zum Deckel, da zog ein lauter, angstvoller Ruf die allgemeine Aufmerksamkeit nach dem Eingang hin.

„Halt, halt“, klang es. „Ihr dürft sie nicht einscharren, ich muss die Anna sehn; sie lebt, sie ist nicht tot!“

Es war der Köpfle-Franz. Trotz aller Eile war es ihm erst jetzt gelungen, die Trauerstätte zu erreichen, und mit Aufbietung seiner letzten Kräfte arbeitete er sich den breiten Kirchhofsgang hinauf, bis in die Nähe des Sargs. Er hatte den Hut verloren, die langen Haare hingen ihm in wirren Strähnen um den Kopf, auf Stirn und Wangen stand der Schweiß in großen Tropfen, seine Augen glühten wie im Fieber; sein Atem flog und seine Hände bebten, als er die schwarzen Bretter erfasste, um sich an ihnen aufzurichten.

Kein Mensch trat ihm hindernd entgegen. Sie alle kannten die Geschichte des unglücklichen Mannes; sie alle wussten, dass niemand die Verstorbene so sehr im treuen Herzen getragen hatte wie er, dass ihr Tod keinem, außer ihrem Kinde, so nahe gehen müsse wie ihm; und so störten sie ihn nicht in seinem Verlangen, die leblose Hülle zu sehn.

„Anna, wach auf!“, rief er mit zitternder Stimme. „Der Franz ist da, der Richter-Franz, der mit dir reden will! Ich weiß, du bist nicht tot, du wirst mich hören!“

Sein Auge suchte das erblichene Angesicht der Leiche; es fiel auf den regungslosen Kopf mit dem vor der Zeit ergrauten Haar, den eingesunkenen Augenhöhlen, den eingefallenen Wangen und wandte sich dann mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf die Umgebung.

„Hab ich’s nicht gesagt? Die Anna ist nicht tot, die Anna kann mir nicht sterben! Das hier ist dem – na, dem seine Frau; da ist die Bäurin von dem – na, dem Hof da draußen; die kann immer tot sein; die könnt ihr immer begraben, denn sie ist seine Frau gewesen. Aber die Anna, die ist mein, die hab ich bei mir zu Haus viel hundertmal, die lass ich mir nicht nehmen!“

 

Er schob sich von dem Sarg zurück und gewahrte nun erst Emma, die unter herzbrechendem Weinen die erschütternde Szene beobachtet hatte.

„Wer bist denn du?“, fragte er sie. „Dich hab ich noch gar nicht gesehn! So wie du sah die Anna aus, als sie zum ersten Mal ins Dorf gekommen ist, grad so wie du. Aber du bist sie nicht, du bist – geh weg“, unterbrach er sich, indem es wie Hass in seinen Augen aufblitzte, „ich könnte dir gut sein, grad wie der Anna, aber ich mag von dir nichts wissen. Die Anna hatte blaue Augen, du aber, wenn du auch weinst, ich seh es doch, du hast Dukatenaugen!“

Er nahm die unentbehrlichen Hölzer, die er vorhin von sich geworfen hatte, wieder von der Erde auf, lenkte um und schob sich, ohne die Versammlung weiter zu beachten, wieder von dannen. Sein Weg führte ihn das Dorf hinauf; die Straße war ziemlich menschenleer und die wenigen Personen, die ihm begegneten, bemerkte er kaum. Nur allein mit seinen Gedanken beschäftigt, lenkte er endlich in einen engen Seitenpfad ein, der zu einer Stelle führte, wo abseits von den übrigen Gebäuden ein kleines, einstöckiges und äußerst vernachlässigtes Haus stand. Es war sein Eigentum und seine Wohnung. Er hielt still, sah sich scheu nach allen Seiten um, und da er niemand gewahrte, der seine Worte hören konnte, murmelte er halblaut:

„Das ist dem Köpfle-Franz sein Dukatenhof. Aber der Franz ist gescheiter als der – der – der andre. Wenn die Leut wüssten, dass der arme Krüppel bloß dann ein Bettler ist, wenn er mal nach Haus kommt, so würde mein Kachelofen...“

Er hielt vorsichtig inne, denn er war im Begriff gewesen, sein kostbarstes Geheimnis in den Wind zu plaudern. Nachdem er, um sich zu überzeugen, dass alles in Ordnung sei, die Runde um das Häuschen gemacht hatte, zog er einen riesigen Schlüssel aus der Tasche und näherte sich der Tür. Das Schloss war so hoch, dass er es grad noch zu erreichen vermochte; er öffnete, schob sich in den engen, dunklen Flur und schloss dann hinter sich wieder sorgfältig zu.

Die Hütte hatte zur ebnen Erde drei Räume: den Flur, einen kleinen Stall und die Wohnstube. Er öffnete mit einem zweiten Schlüssel die zu der Letzteren führende Tür und verriegelte auch diese dann von innen mit einer Bedachtsamkeit, als habe er ungewöhnliche Schätze zu verbergen. Da die Läden zugemacht waren, so herrschte vollständige Dunkelheit um ihn her, bis er ein Feuerzeug hervorsuchte und damit ein kleines Lämpchen anzündete, dessen ungewisser Schein wenigstens eine Art von Dämmerung hervorbrachte. In dieser traten eine Anzahl von Köpfen gespenstisch hervor, die rings an den weißgetünchten Wänden angebracht waren; sie stellten alle ohne Ausnahme in den verschiedensten Ausdrücken und Schattierungen ein und dasselbe Mädchen dar, und wer Emma vorhin auf dem Kirchhof gesehen hatte, dem musste die Ähnlichkeit dieser Kopfzeichnungen mit ihr sofort in die Augen fallen.

Er hatte den Sack abgelegt, die Stemmhölzer beiseite geworfen und kroch nun in einer Weise auf den Händen in der Stube herum, die ihm das Ansehen eines hilflosen, vierfüßigen Tieres gab, dem die Hinterbeine gelähmt worden sind. In einer Ecke des ärmlichen Gemachs befand sich ein armseliges, anspruchsloses Lager, bestehend aus einem Haufen dürren Laubs, über den eine alte Decke gebreitet war. Er wühlte einige Zeit darin herum und brachte zwei lange, starke Kerzen zum Vorschein, mit denen er sich einem niedrigen Tischchen näherte; dessen Platte bestand aus zwei Teilen, sodass der obere zurückgeschlagen werden konnte. Zu beiden Seiten war eine Drahtdille angebracht, in die er die Kerzen befestigte und dann mit Hilfe der Lampe anbrannte. Dann zog er ein Tuch aus dem Tischkasten, breitete es über die Platte und schlug die Klappe zurück. An der einen Seite der Klappe war ein in Öl gemaltes Porträt angebracht, das denselben Kopf darstellte, der in so vielen verschiedenen Darstellungen an die vier Wände gezeichnet war.

Er hockte sich vor dem Tisch nieder und richtete sein Auge mit warmem, innigem Blick auf das Gemälde. So saß er lange, lange Zeit, still und im Anschauen versunken. Seine Züge waren jetzt frei von jenem störenden Ausdruck und sprachen von nichts als von einer tiefen Verehrung.

„Da hast mich wieder, meine Anna!“, flüsterte er endlich glücklich. „Bin lange fort gewesen, nicht wahr? Aber brauchst keine Sorg zu haben, es ist mir gut gegangen, besser noch als andre Male. Hab wieder in der großen Stadt gemalt, wo die schöne Galerie ist mit den vielen Bildern und wo sie mich immer anschaun wie ein Wundertier, wenn ich die vornehmen Leut zeichne, die da aus und ein gehn. Und denk dir nur, der König war auch da mit seiner Frau und vielen andern Herrn und Damen, Fürsten und Grafen, Ministern und Generälen! Die haben mit mir gesprochen. Ich habe sie zeichnen müssen in ihrer Wohnung, alle mitnander. Da hat’s Geld gegeben, wie ich dir noch niemals so viel mitgebracht hab. Banknoten, Gold und Silber! Aber ich hab mir’s umwechseln lassen in lauter Dukaten. Lass dir’s zeigen!“

Er bog sich zu dem Rollkasten nieder und nun zeigte es sich, dass dieser einen Doppelboden hatte, zwischen dem sich ein Schubfach befand, das er hervorzog. Neben Malergerät und sonstigen Dingen, die man dem unscheinbaren Bettler nicht zugetraut hätte, lagen hier mehrere sorgfältig in Papier gewickelte Rollen, die er öffnete, um die Goldstücke im Schein der Kerzen glänzen zu lassen.

„Siehst du, wie viel?“, lachte er glücklich. „Sie sagen hier, ich wär verrückt, weil du nicht meine Frau geworden bist; aber ich bin gescheiter als sie alle, und wer der Reichste ist im Dorf, das wird sich schon auch noch zeigen! Es hat noch keiner von ihnen in der Zeitung gestanden, mich aber haben sie in Dresden hineingesetzt. Wart, ich will dir’s mal vorlesen!“

Er nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Fach und schlug es auseinander.

„So, hier steht’s! Ich hab dir’s mitgebracht, damit du auch wissen sollst, was sie dort von mir sagen.“

Zwar nicht fließend, aber doch ohne besondere Fehler las er folgende Zeilen ab:

„Seit einigen Tagen ist wieder, wie schon einige Male früher, jener seltsame Besucher unsrer Bildergalerie zu bemerken, der nicht nur die Augen durch sein körperliches Unglück auf sich zieht, sondern auch durch eine seltene Begabung für das Porträtzeichnen die lebhafteste Teilnahme aller derer erweckt, die den mehr als bescheidenen Mann in der ihm stillschweigend eingeräumten Ecke hocken sehn. Leider scheint der Unglückliche infolge trüber Lebenserfahrungen, über die er ein beharrliches Schweigen bewahrt, geistig gestört zu sein, was ebenso wie sein Alter eine Ausbildung bzw. Ausnutzung seines Talents zur Unmöglichkeit macht; doch äußert sich diese Störung in einer andern durchaus nicht belästigenden Weise und hat jedenfalls ein Wesentliches zu der Beachtung beigetragen, die ihm sogar von hoher und allerhöchster Seite entgegengebracht worden ist. Wie wir vernehmen, hat er trotz seiner mehr als geringen Hoffähigkeit das Glück gehabt, die Majestäten zeichnen zu dürfen; die Hofgesellschaft hat sich diesem Akt der Mildtätigkeit angeschlossen, und wenn man aus sichrer Quelle erfährt, dass einer unserer reichsten englischen Sommergäste ihm eine kleine Familienskizze mit fünfzig Talern bezahlt hat, so liegt darin keineswegs eine Beruhigung für uns, sondern vielmehr eine Aufforderung, ihn auch weiteren Kreisen aufs Wärmste zu empfehlen.“

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