Delikatessen für die Sinne (Band 1)

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Delikatessen für die Sinne (Band 1)
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Jutta Dethlefsen wurde 1946 in Pinneberg/ Schleswig-Holstein geboren und lebt seit 1988 in Flensburg. Ihre Tochter Xenia ist das Wichtigste in ihrem Leben. Dann folgen Schwiegersohn Holger, der Rest der Familie und Kätzchen Paula.

Ihre große Liebe zum Schreiben entdeckte sie schon als Kind bei den ersten Schreib- und Leseversuchen.

Spannende Eindrücke ihrer zahlreichen Auslandsreisen lässt sie gerne in ihre Geschichten einfließen.

Sie bedient die unterschiedlichsten Genres für ihre spannenden Kurzgeschichten.

Die Leidenschaft für die Literatur sei ihr angeboren, glaubt sie.

Weitere Hobbys sind das Entwerfen und Fertigen von Bekleidung und das Aufarbeiten von Antiquitäten.

Sie beginnt gerade ihren ersten Roman zu schreiben.

Jutta Dethlefsen

DELIKATESSEN

FÜR DIE SINNE

Band 1

Kurzgeschichten

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei Jutta Dethlefsen

Coverfoto »Violinista di spalle con guanti rossi«

© lapas77 (Fotolia)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine Tochter Xenia

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Die Kette der Schuld

Boxershorts

Nur ein Foto

Ebbe und Flut

Das kleine Haus

Eine Glasflasche

Fahrendes Volk

Blumenkinder

Sorglos

Wie Sterne

Schwestern

Die Vergangenheit

Fragmente einer Kindheit

Nur eine Affäre

Zuckerbrot

Visionen der Angst

Mein Baum

Abschied

Ein guter Geist

Der Kuss

Der Geschenkkorb

Die Entscheidung

Die Fremde

Die grüne Hibiskusblüte

Ein Neuanfang

Die andere Haut

Die Geliebte

DIE KETTE DER SCHULD

Klara hob den Kopf.

Durch das kleine, hoch angebrachte Fenster konnte sie eilig vorüberziehende, graue Wolkenfetzen erkennen.

Eine selten erlebte Ruhe überkam sie. Die lähmende, alles verschlingende Angst war verschwunden. Ihre Gesichtszüge entspannten sich.

Ihre Hand, die eine Haarsträhne aus dem Gesicht schob, hielt zögernd inne. Die schweren, blonden Haare waren nun kurz geschnitten. Suchend tastete sie im Nacken nach dem Haarband. Dort, wo das Band den Zopf zusammengehalten hatte, verkrampften sich ihre Finger.

»Das Band zu ihm wird niemand jemals völlig abschneiden oder durchtrennen können«, dachte sie mit Genugtuung.

Trotz der schuldbeladenen Vergangenheit hatte sie sich für das Leben entschieden. Sie legte sich auf das fremde Bett, das ihr seit Wochen oder Monaten als Schlafstatt diente. Noch einmal ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen, dann senkte sie die Augenlider und atmete hörbar ein und aus. Gedankenfetzen, Wolken gleich, zogen eilig vorüber. Müdigkeit überkam sie.

Nach Monaten verspürte sie ein zaghaftes Glücksgefühl. »Nur in der Erinnerung liegt das wahre Erleben, denn die ist nicht zeitlich begrenzt, wie das reale Geschehen«, flüsterte sie in die Stille. Dann tauchte sie in die Traumwelt ein, um dort alles noch einmal zu erfahren.

Die kleine Klara schaute sich ängstlich um. Bestimmt würden ihr die beiden großen Jungen wieder auflauern, um sie dann mit harten Schneebällen zu bewerfen, um sie auszulachen, wenn sie sich davor zu ducken versuchte und hastig davonlief. Gestern hatte der eine von ihnen, der größere den sie Kalle nannten, versucht, sie umzustoßen. Dabei hatte er kräftig an ihren Zöpfen gezogen. Ihre Schultasche war zu Boden gefallen, die Verschlüsse aufgesprungen. Johlend hatten die beiden Jungen Hefte und Bücher im Schnee verstreut. Beim Einsammeln konnte Klara vor Tränen kaum noch etwas erkennen.

Bis zum ersten Winter nach der Einschulung war sie gerne in die Schule gegangen, dann hatten die beiden Jungen begonnen, sie zu quälen. Sie wurden immer bösartiger, hatten gedroht, ihr die Gurgel durchzuschneiden, falls sie petzen sollte. Der kleinere der beiden führte dabei demonstrativ die flache Hand an seinem Hals entlang.

Bis zum nächsten Tag forderten sie die Herausgabe von Klaras Weihnachtsgeschenk. Den lange ersehnten Puppenwagen, für dessen Anschaffung Mutter zusätzliche Klavierstunden gegeben hatte, sollte sie hergeben. Die Tränen waren über Gesicht und Hals hinunter in den kratzigen Winterpullover gelaufen.

Sie beschleunigte ihre Schritte, gleich war sie zu Hause, gleich war sie in Sicherheit, jedenfalls für heute.

Daheim war niemand. Ein Zettel lag auf dem Küchentisch: »Krümel, ich bin gleich zurück.« Nur Christopher, ihr drei Jahre älterer Bruder, nannte sie so. Er hatte versprochen, ihr irgendwann zu verraten warum. Sie hatte es nie erfahren. Es klang so liebevoll und zärtlich, wenn Christopher Krümel zu ihr sagte. Dann fühlte sie sich geliebt und geborgen.

Mit dem Pulloverärmel fuhr Klara sich über das Gesicht. Sie ging zu ihrem Puppenwagen, nahm Puppe und Kissen heraus und zog den leeren Wagen auf den Hof unter den Dachüberstand. Da kam ihr Bruder auf seinem alten Fahrrad mit beängstigend quietschenden Bremsen um die Hofecke gefahren. Achtlos warf er das Rad gegen die Hauswand, stopfte seine Hände in die Hosentaschen und schlenderte mit besorgtem Blick auf Klara zu.

»Krümel, was machst du da? Warum stellst du den Puppenwagen auf den Hof? Es wird gleich schneien.« Er fasste Klara bei den Schultern und schaute sie fragend an.

Klara schluckte hilflos. Sie musste schon wieder heulen.

Christopher ertrug es nicht, seine kleine Schwester weinen zu sehen. Als er selbst erst vier Jahre alt war, hatte ihr Babyweinen ihn schon traurig gestimmt.

Immer und immer wieder hatte er sie dann gestreichelt und zärtlich auf sie eingeredet. In einer Nacht wurde er von der Mutter auf dem dunklen Flur gefunden, auf dem Fußboden schlafend, den Oberkörper gegen die Wand gelehnt. Klara selig schlummernd in seinem Arm.

»Komm Krümel, wir bringen den Puppenwagen ins Haus zurück. Deine Puppe Ulrike wird ganz traurig sein, wo soll sie denn schlafen?«, fragte Christopher. Klara schmiegte sich fest an ihren Bruder. Sie war so verzweifelt! Sie durfte ja nichts verraten. Die Angst schüttelte ihren schmächtigen Körper so sehr, dass ihr Bruder sie in den Armen zu wiegen begann wie damals, als sie noch ein Baby war..

Dann fasste er nach Klaras Hand. Mit der anderen zog er den Puppenwagen ins Haus.

Sie gingen in die Küche, Klara setzte sich an den Tisch. Christopher wärmte die Suppe auf, die Mutter für sie vorbereitet hatte. Wochentags gab es immer Suppe oder einen anderen Eintopf. Mit dem Aufwärmen kam Christopher gut zurecht und diese Mahlzeiten streckten das karge Haushaltsbudget. Die alleinerziehende Mutter hatte mit erstaunlicher Fantasie Suppenrezepte entwickelt. Es schmeckte den beiden köstlich und immer ein bisschen anders.

 

Der Nachtisch war eine tägliche, aufregende Überraschung. Er befand sich in einer bestimmten, fest verschlossenen Schale im Kühlschrank.

Einmal kalte Pfannkuchen, ein anderes Mal Schokopudding oder Joghurt. Manchmal frisches Obst oder selbst gebackene Kekse. Um den ersten eines Monats war bisweilen eine halbe Tafel Schokolade in der Schale. Aber erst gab es die Suppe. Diesbezüglich war der Bruder unerbittlich verantwortungsbewusst.

Dieses Mittagsritual gehörte nur Klara und Christopher. Als Klara noch jünger war, hätte sie gerne gegen die Regel mit dem Nachtisch verstoßen. Der Bruder konnte ihr glaubhaft erklären, dass der Papa aus dem Himmel alles sehen konnte und es ihn ganz traurig stimmen würde.

Nach dem Essen hatte Klara sich beruhigt. Sie durchdachte die Forderung der Jungen und hoffte, eine Lösung zu finden. Jedenfalls durfte sie ihrem Bruder nichts von der Bedrohung erzählen. Womöglich würden die bösen Jungen ihm sonst auch die Kehle durchschneiden. Sie musste versuchen, ihn zu schützen.

Es fiel ihr schwer, sich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Immer wieder schweiften die Gedanken ab und kreisten um den kommenden Tag.

Im Hof lärmten Christopher und ein Nachbarjunge. Sie ging zum Fenster, drückte ihre Nase gegen die Glasscheibe und schaute eine Weile deren Ballspiel zu.

Meistens hielt ihr Bruder sich in ihrer Nähe auf. Stets war er zur Stelle, wenn sie ihn brauchte. Nur in der Schule und auf dem Hin- und Rückweg war das nicht immer möglich. Demnächst musste er ohnehin die Schule wechseln, seine Grundschulzeit war vorüber. Daran mochte Klara gar nicht denken.

Am nächsten Tag hatte Christopher zwei Stunden später Schulschluss als sie. Auf dem Schulgelände durfte sie sich nicht aufhalten, um auf ihn zu warten. Ängstlich machte sie sich auf den Heimweg.

Nach dem Passieren der mannshohen Hecke von Lehrer Köpels Garten wäre sie gerettet, aber noch hatte sie den Weg vor sich. Die Hecke wirkte heute besonders bedrohlich. Lange Schatten fielen auf den Gehweg. In der Biegung, tief in die Hecke gedrückt, lauerten sie meistens. Angst lähmte ihre Schritte. Sie schaute angestrengt, konnte aber niemanden sehen. Endlich war sie am Ende der Hecke auf dem Marktplatz angekommen. Gerade wollte sie erleichtert aufatmen, da sah sie die beiden dort. Ein dritter Junge, kleiner und schmächtiger, stand bei ihnen. Sie hinderten ihn am Weitergehen, stießen ihn zwischen sich hin und her.

Klara nahm allen Mut zusammen und ging, ohne ihren Schritt zu beschleunigen, an ihnen vorbei. Das Blut pochte in den Schläfen, deutlich hörte sie ihren Herzschlag. Die Jungen schauten gelangweilt zu ihr herüber, zeigten heute aber kein weiteres Interesse.

In der folgenden Nacht stand sie, wie so häufig, mit ihrem Kissen unter dem Arm vor dem Bett ihres Bruders. Sie hatte schlecht geträumt. Schweigend schlug Christopher die Bettdecke zurück und legte seinen linken Arm so, dass sie sich in die warme, sichere Armbeuge kuscheln konnte.

Erst Jahre später erfuhr sie, dass ihr Bruder und ein paar Freunde dafür gesorgt hatten, dass die großen Jungen sie endlich in Ruhe ließen. Christopher hatte gespürt, dass sie etwas bedrückte. Er hatte alles herausbekommen, aber geschwiegen. Christoper redete nie viel.

Es geschah Jahre später, am zwanzigsten August, dem siebzehnten Geburtstag von Christopher. Mutter hatte Mohrenköpfe spendiert. Ihr Bruder durfte zwei Freunde einladen und Klara eine Freundin. Es wurde ein wunderschöner Tag. Sie waren zum Fluss geschlendert, hatten Steine hüpfen lassen. Heute hatten die Jungen die Mädchen nicht spüren lassen, dass sie für sie nur alberne Gänse waren. So jedenfalls drückten sich derzeit die Jungen in Klaras Klasse aus.

Nach dem Abendbrot und dem Heimgang der Freunde erlaubte Mutter ihren Kindern noch zwei weitere Stunden, um den Tag ausklingen zu lassen.

Klara und Christopher waren in den kleinen Primelwald gegangen, der sich gleich an ihren Garten anschloss. Klara hatte dem Wäldchen den Namen gegeben, weil sie dort vor Jahren eine himmelblaue Primel entdeckt hatte. Im Jahr darauf war die Blume verschwunden.

Die glutroten Strahlen der untergehenden Sonne durchdrangen vereinzelt das dichte Blattwerk, um auf dem Waldboden ein farbenprächtiges Lichtermeer zu zeichnen. Christopher nahm Klaras Hand fest in seine, wusste er doch, dass sie sich leicht fürchtete. Gleichzeitig genoss sie es, wenn eine Situation aufregend, gruselig, schön und spannend war, das Herz schneller klopfen ließ und Christian sie beschützend an die Hand nahm.

Nur das Knacken dünner Äste unter ihren Füßen war zu hören.

Klaras linker Fuß verfing sich in der Wurzel eines umgestürzten Baumes. Sie stolperte und fiel so unglücklich, dass die Bluse über ihrer Brust zerriss, Zweige hinterließen blutige Striemen. Sekundenlang starrte Chris untätig auf sie herab, bevor er ihr half aufzustehen.

Seine Hände verbrannten ihre Haut. Sein Blick verriet Ungläubigkeit. Ohnmächtig die Berührung zu lösen, schaute er sie erschrocken an. Da umschlang Klara ganz fest seinen Nacken, so wie sie es schon tausendmal zuvor getan hatte und doch war es anders. Mit ungläubigem Blick half Christopher seiner Schwester sich hinzusetzen und den Kopf gegen einen Baumstamm zu lehnen. Wortlos setzte er sich neben sie, bettete seinen Kopf auf ihrer Schulter.

Seine Lippen berührten erst zaghaft ihren Hals, dann ihr Gesicht und ihre Brust, um zurückzufinden, zu ihrem Mund und sich dort endlos zu verlieren im Spiel ihrer Zungen. Klara fühlte sich zu den Sternen getragen, ihre Hände liebkosten den Bruder, hielten auf seinen Wangen inne, als sie fühlte, dass er weinte.

Der Primelwald, der Ort ihrer kindlich verspielten Nachmittage, der Ort der Cowboy- und Indianerspiele hatte für sie eine andere Bedeutung bekommen.

Es dunkelte, als sie schweigend nach Hause gingen.

An den folgenden Tagen vermied Christopher es, längere Zeit mit Klara allein zu sein. Sie verstand ihn nicht. Warum? Sie wollte nicht wahrhaben, dass Berührungen, die so wundervolle Gefühle hervorriefen, verboten sein sollten, weil sie Geschwister waren. Gefühle, die nur ihnen gehörten! Sein Verhalten schmerzte sie. Schämte er sich? Sie liebten sich doch, hatten sich schon immer lieb gehabt. Wo war denn da der Unterschied? Für Klara gab es ihn nicht. Sie empfand keine Scham. Jahrelang hatten sie sich berührt, sich im Bett aneinander gekuschelt, waren fest umschlungen eingeschlafen.

Und doch, etwas war anders. Aber was genau war es? Warum sollte oder durfte es nicht sein?

Es verging eine Woche, bis Klara die Möglichkeit fand, mit Christopher darüber zu reden.

Mutter war ins Konzert gegangen. Sie waren allein im Haus. Er konnte ihr nicht mehr ausweichen. Von Klara kam die traurige, uralte Frage: »Liebst du mich denn nicht mehr?« Christopher schaute seine Schwester unglücklich an und zog sie mit einem leisen Aufschrei in seine Arme.

Grenzenlose Liebe überkam Klara. Nun wollte sie seine jahrelange Aufgabe übernehmen, wollte ihn trösten und beschützen. Während ihre Hände seinen Rücken streichelten, flüsterte sie besänftigende Worte. Aber es gelang ihr nicht, ihn zu beruhigen. Da nahm sie zum ersten Mal ihren Bruder an die Hand, führte ihn in sein Zimmer und zu seinem Bett.

Die folgenden Zärtlichkeiten waren selbstverständlich, waren Gesetz und unabwendbar. Sie hatten nicht die Leidenschaft füreinander entdeckt, sie waren die Leidenschaft, überirdisch, kraftvoll und unverwundbar. Die Suche nach der absoluten Nähe ließ keine andere Handlungsweise zu. Auch der Schmerz gehörte ihnen.

Monate vergingen.

Immer wieder lag Klara in den Armen ihres Bruders.

Sie war glücklich.

War er es auch? Sie versuchte in der Dämmerung des späten Abends oder des frühen Morgens, seine Miene zu deuten.

Die Lippen in ihr Haar gepresst, flüsterte er unzählige Male: »Es darf sich nicht wiederholen, Krümel, es darf nicht sein.«

Klara sagte nichts, wusste sie doch, es würde sich wiederholen, immer und immer wieder, bis ans Ende ihrer Tage. Da war sie sicher! Sie konnte auch nichts Unrechtes daran entdecken. Lächelnd schmiegte sie sich an ihn und glaubte an eine gemeinsame, glückliche Zukunft.

Die beiden bewahrten ihr Geheimnis gut. Der Übergang von der geschwisterlichen Zuneigung in eine intensive Liebesbeziehung blieb der Mutter verborgen. Ihr Arbeitsplatz an der Rezeption eines Hotels erforderte häufig ihre häusliche Abwesenheit bis nach Mitternacht. Klassenkameraden der Geschwister spürten zwar eine Veränderung, eine Isolation, maßen ihr aber keine weitere Bedeutung bei. Die Geschwister genügten einander. Nicht allein die körperlichen Berührungen fesselten sie, sondern vielmehr das Bedürfnis miteinander zu erfahren, zu gestalten und beieinander zu sein.

Die inzwischen vierzehnjährige Klara hatte eine Idee. Sie wollte mit ihrem Bruder fortgehen in ein fremdes Land, wo niemand wusste, dass sie Geschwister waren. Kindliche, unrealistische Träume, die ihre Liebe beschützen sollten.

Christopher war fast neunzehn Jahre, ein attraktiver, verschlossener, junger Mann, kurz vor dem Abitur. Die Mädchen umschwärmten ihn. Vielleicht gerade, weil er sich so unnahbar und unerreichbar gab.

Klara war nicht eifersüchtig, sie war sich seiner und ihrer Liebe so sicher. Niemals würde er sich einem anderen Mädchen zuwenden, das wusste sie genau. Es war schließlich schon immer so und würde auch immer so bleiben.

Es war ein Sonntag. Am Morgen ließ noch nichts die Tragödie ahnen.

Aber als Christopher erklärte, er wolle mit Schulfreunden den Nachmittag verbringen, um gemeinsam an einem Referat zu arbeiten, wurde Klara zum ersten Mal misstrauisch, denn sein Ton war ihr fremd. Ein für sie unbekanntes Gefühl, eine Mischung aus Verlustangst und Ungläubigkeit überkam sie. Sie sagte zwar nichts, schaute ihn nur ernst an. Er vermied ihren Blick.

Die Mutter hingegen, völlig ahnungslos, begrüßte das Vorhaben. Christopher durfte und sollte die Verantwortung für seine kleine Schwester längst abgelegt haben. Sie war ihrem Sohn so dankbar. Er hatte es ihr in der Vergangenheit ermöglicht, beruhigt der erforderlichen Arbeit im Hotel nachzugehen.

Am frühen Nachmittag verschwand Christopher. Klara spürte immer deutlicher, dass etwas nicht stimmte. Christopher verlangte es in letzter Zeit spürbar seltener nach ihrem gemeinsamen Sex, er versuchte, es beim Kuscheln zu belassen.

Bald nach seinem Aufbruch radelte Klara ziellos durch den Ort. Sie suchte ihn, ihr Herzschlag beschleunigte sich, eine diffuse Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Ihren Bruder oder sein Fahrrad entdeckte sie nicht. Systematisch fuhr sie die Wohnungen seiner Klassenkameraden ab, soweit ihr diese bekannt waren. Erfolglos!

Sie sah Jörg an der Eisbude stehen. Er war mit Christopher im letzten Jahrgang der Oberstufe. Sie fragte ihn nach ihrem Bruder. Er grinste, hob kurz die Schultern, um dann mit dem Daumen in Richtung Primelwald zu zeigen.

Etwas ließ Klaras Herz noch lauter klopfen, etwas verstärkte ihr Angstgefühl ins Unermessliche, als sie wie gehetzt zum Wäldchen radelte.

Am Primelwald angekommen, sah sie sofort Christophers Fahrrad gegen eine junge Birke gelehnt. Aber da war nur ein Fahrrad, wieso? Wo waren die Fahrräder der Freunde? Klara legte ihr Rad ins Gras und betrat den Wald.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit schlug sie die Richtung zu dem Platz ein, wo sie an Chris siebzehntem Geburtstag gestürzt war. Wo sie sich zum ersten Mal darüber klar geworden war, dass nichts und niemand sie von Christopher je trennen konnte oder durfte.

Schon bevor sie diesen Ort erreichte, hörte sie von dort Geräusche, deutlich die vertraute Stimme ihres Bruders und eine fremde, weibliche.

Klara presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien.

Sekundenlang blieb sie stehen, dann zog sie die Sandalen von den Füßen und schlich näher an die beiden heran.

Die Situation war eindeutig. Ein fremdes Mädchen lag dort. Ausgerechnet dort und in den Armen von ihrem Christopher! Sie entweihten ihren Ort. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen schaute Klara gebannt auf die für sie unfassbare Szene.

Das Mädchen war schön und deutlich älter als Chris. Ihre makellosen, langen, nackten Beine waren eng mit seinen verschlungen. Sie lagen nebeneinander, streichelten sich und flüsterten zärtliche Worte. Manchmal war das helle Lachen der Fremden zu hören.

Es dauerte eine Weile, bis Klara sich von dem Anblick lösen konnte. Das Erschrecken hatte sich in Gefühllosigkeit verwandelt. Sie schlich zurück zu ihrem Fahrrad.

 

Der Schock löste sich. Im Takt mit dem Tritt auf die Pedalen schrie ihr Herz immer und immer wieder: »Ver-rat, Ver-rat, Ver-rat!« Wie konnte das geschehen? Warum verriet er ihre Liebe? Nein, nicht er. Sie, die Fremde war schuld.

Klara schlich in ihr Zimmer. Wartete auf die erlösenden Tränen, die nicht kommen wollten. Später kühlte sie im Bad das brennende Gesicht und den rasenden Puls. Sie legte sich ins Bett und starrte an die Decke.

Da Mutter Klaras Heimkommen nicht bemerkt hatte, schaute sie in deren Zimmer, um mit ihr zu plaudern und ihr eine gute Nacht zu wünschen. Ihre Tochter lag zitternd da, Unverständliches redend, die Bettdecke bis unter das Kinn gezogen.

Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte eine beginnende fiebrige Erkältung, Mutter nahm sich einen Tag frei, brachte Zwieback und Kamillentee. Klara erbrach jede Nahrung.

Erst zwei Tage später ließ sich Chris an ihrem Krankenbett sehen, schweigend. Er ahnte, was Klara gesehen hatte. Liebevoll, mit besorgtem Blick hielt er ihre Hände. Auch sie sagte nichts und hielt die Augen geschlossen. Er erhob sich, um das Zimmer zu verlassen. Klara wollte, dass er ihr das Geschehene erklärte. Sie rief ihn zurück. Sein Blick war schuldbewusst. Seltsamerweise wirkte das tröstend und gleichzeitig erschreckend auf sie. Zögernd setzte Chris sich wieder auf die Bettkante.

Mit zitternder Stimme begann Klara das Gespräch: »Ich weiß alles, Chris.« Er nickte, nahm wieder ihre Hände, um sie zaghaft zu streicheln.

Dann sprach er darüber, wie sehr er darunter litt, verbotenerweise seine Schwester zu lieben und zu begehren. Dass es nie mehr geschehen dürfe und würde.

Er wollte ja immer für sie da sein, er würde sie immer lieben. Niemand könnte ihren Platz in seinem Herzen einnehmen. Aber berühren würde er sie nur noch, wie eben ein Bruder seine Schwester berühren darf. Ja, er liebte seit Kurzem eine junge Frau. Für diese Liebe müsse er sich nicht schämen. Sie hatte nichts Verbotenes, er bräuchte sie nicht zu verheimlichen.

Was zwischen Klara und ihm geschehen war, sollten sie beide als großes Geheimnis bewahren, schon aus Rücksicht auf die Mutter. Es wäre gut und richtig, wenn auch Klara sich einem anderen jungen Mann zuwenden würde.

Klara schwieg. Christopher erhob sich müde und verließ das Zimmer.

Sie hatte ihn verstanden, aber etwas in ihr weigerte sich, die Worte zu begreifen.

Kaum etwas behielt ihr Magen bei sich, sie verlor an Gewicht. Der Arzt war ratlos. Christopher pflegte sie aufopferungsvoll, gab ihr löffelweise zu trinken. Manchmal las er ihr vor, Kindermärchen, die sie noch immer so liebte. Manchmal trocknete er mit einem Bettzipfel behutsam ihre lautlosen Tränen. Sie aber vermisste schmerzlich diese anderen Berührungen von ihm.

Irgendwann siegte der Überlebenswille. Sie behielt die Nahrung wieder bei sich und verließ das Bett. Christopher half ihr bei den ersten Gehversuchen. Er und Mutter waren glücklich über die Genesung.

Doch etwas in ihr war zerbrochen.

Christopher sprach nie mehr über seine Freundin. Er war liebevoll und aufmerksam zu Klara, vermied aber jede körperliche Berührung.

Sie besuchte schon seit geraumer Zeit wieder die Schule, da sah sie die Fremde noch einmal. Klara musste an der geschlossenen Bahnschranke warten. Die Fremde stieg aus dem Zug, der aus Hamburg kam, dann fiel sie dem wartenden Christopher in die Arme. Sie hatte ihr Fahrrad dabei. Ein Bahnbediensteter hob es gerade aus dem Zug. Christopher wirkte glücklich.

Er lachte und küsste sie, dann verließen sie den Bahnsteig.

Der Anblick kam für Klara völlig überraschend und war unerträglich. Sie war zufällig in der Nähe des Bahnhofs gewesen, hatte nicht spionieren wollen.

Trauer spürte sie, aber auch noch ein anderes Gefühl.

Im Widerstreit zum Schmerz erfüllten sie auch Wut und Hass.

Zorn auf diese Frau, die ihren Bruder verführt hatte. Ihren Christopher, der sich jetzt bestimmt elend und schuldig fühlte. Diese Frau hatte alles vernichtet, was gut war. Hatte Christophers und ihr Leben zerstört, ihnen die Perspektive gestohlen, alles, wofür es sich zu leben lohnte! Diese Gedanken manifestierten sich, wurden für Klara augenblicklich zur unumstößlichen Wahrheit.

Rachegedanken folgten. Sie musste die andere loswerden. Die müsste nur aus seinem Leben verschwinden, und alles wäre wieder wie früher. Sie wollte, ja sie musste Christopher von dieser Frau befreien. Sie musste ihn retten.

Dann würde ihm endlich klar werden, wozu Klara für ihre Liebe bereit war, und er würde zu ihr zurückkehren. Nicht einen Augenblick zweifelte sie an der Richtigkeit ihrer Gefühle und Gedanken. Sie lächelte glücklich überzeugt. Dass ihr diese einfache Lösung nicht früher eingefallen war!

Sie hatte eine Idee. Und nichts und niemand würde sie daran hindern, diese sofort zu verwirklichen. Die Fahrräder würden nachher bestimmt wieder vor dem Primelwald stehen. Sie wollte dann hinfahren und handeln.

So war es. Die Fahrräder standen nebeneinander, als wenn selbst sie zusammengehörten und Klara verhöhnten. Sie dachte an die Fremde, die jetzt wieder in Christophers Armen lag. Klaras Hass stieg ins Unermessliche. Diese Frau war eine Prüfung für ihre Liebe, und ohne Klaras Hilfe würde Christopher diese Prüfung nicht bestehen. Dieser Fremden würde das Lachen vergehen, sie musste bestraft werden, hatte betrogen und gestohlen.

Klara schaute sich das Fahrrad der verhassten Fremden an. Es war ein Sportrad ohne Rücktrittsbremse. Zielgenau durchtrennte Klara die Bremsleitung. Nicht eine Sekunde kam es ihr in den Sinn, dass sich zwischen Chris und der Fremden durch einen Unfall möglicherweise gar nichts ändern würde. Sie war von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. Nach so einem Unfall würde die bestimmt nicht wieder auftauchen.

Das Taschenmesser verstaute sie wieder in ihrer eigenen Satteltasche. Mit schwarzem Isolierband tarnte sie die Schnittstelle. Diese Manipulation würde schon das erste Bremsmanöver nicht überstehen, zumal es auf der Rückfahrt steil bergab ging.

»Ich tue es für dich, Christopher, ich tue es für uns«, flüsterte sie, bevor sie nach Hause radelte.

Das weitere Geschehen erlebte Klara wie einen Film im Schnelldurchlauf.

Das Martinshorn eines Krankenwagens!

Den Anruf!

Später Chris, völlig verstört und verzweifelt.

Zeitungsreporter.

Polizei und Befragungen.

Die Eltern des Mädchens.

Die Beerdigung, zu der Chris nach Hamburg fuhr und von der er völlig verändert zurückkam.

Er brach das begonnene Medizinpraktikum ab und ging zum Studium nach München.

Klara verstummte. Ihr war klar, dass Christopher wusste, wer die Bremsleitung manipuliert hatte. Aber er sagte nichts. Aus Feigheit? Aus Angst? Oder war es sein letzter Liebesbeweis für sie? Wie gerne hätte sie ihm gesagt, dass sie das nicht gewollt hatte, dass sie sich völlig verrannt hatte in ihrem zerstörerischen Hass. Sie hatte überhaupt nicht an den unbeschrankten Bahnübergang in der Feldmark gedacht, nicht an die Möglichkeit tödlicher Verletzungen.

Oder doch?

Warum war in dem Moment auch gerade der Zug aus Hamburg gekommen? Ausgerechnet aus Hamburg!

Christopher war fort. »Krümel«, hatte er nur zum Abschied gesagt, nicht mehr. Dennoch klang es für sie wie ein Verzeihen. Sein Blick war unendlich hilflos und traurig.

Klara litt. Schuldgefühle höhlten sie aus, nagten in ihr wie gefräßige Bestien. Es war der Kummer, den sie ihrer Mutter bereitet hatte, die die Trauer des Sohnes teilte. Der Schmerz, den sie ihrem Bruder, dem Mann, den sie über alles liebte, zugefügt hatte. Der unerträgliche Verlust. Sie erstarrte. Aber sie schwieg, verschwieg auch ihre Schuld. Für ihn, für die Mutter, glaubte sie.

Erholsamer Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Wie sollte sie leben, wenn ein Mensch durch ihren Hass gestorben war?

Von Zeit zu Zeit kam ein Brief von Christopher, belanglose Zeilen.

Sie hatte begriffen, dass sie ihm nicht nach München folgen durfte, dass sie ihm die Chance lassen musste, ein neues Leben zu beginnen.

Auch später in der Klinik schwieg Klara beharrlich. Nur wusste sie jetzt, dass sie selbst den Zeitpunkt bestimmen konnte, zu dem sie die Last niederlegte. Sie hatte sich ja für das Leben entschieden.

Jemand löschte das Licht.