Rolien & Ralien

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Rolien & Ralien
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Die niederländische Originalausgabe erschien unter dem Titel Rolien en Ralien erstmals 1947 und erneut 2017 bei Uitgeverij Cossee in Amsterdam.

Das Foto auf dem Umschlag stammt von Annelise Kretschmer (1903–1987 in Dortmund), geborene Silberbach, in der Weimarer Republik eine der ersten Fotografinnen mit eigenem Porträtstudio. Die Meisterschülerin von Franz Fiedler und Vertreterin der Neuen Sachlichkeit publizierte in wichtigen Zeitungen und Zeitschriften und nahm gegen Ende der 1920er Jahre an internationalen Fotoausstellungen teil. Als Tochter eines jüdischen Vaters musste sie in der Zeit des Nationalsozialismus Anfeindungen und den Ausschluss aus der »Gesellschaft Deutscher Lichtbildner« über sich ergehen lassen. Das Werk der Fotografin erlebt nun mit neuen Ausstellungen und Katalogen eine Renaissance.

Der Verlag dankt der Dutch Foundation for Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.


E-Book-Ausgabe 2020

© 1947, 2017 Josepha Mendels / Uitgeverij Cossee, Amsterdam

© 2020 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

© für das Nachwort: 2017 Roos van Rijswijk

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Annelise Kretschmer (Käthe Kollwitz Museum, Köln) © Christiane von Königslöw.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4284 9

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3326 7

www.wagenbach.de

Für Emilien Valéry, meinen Enkel

ERSTES BUCH

1
Die Familie Kolar

DER VATER. In seiner rechten Westentasche steckt ein Taschenkamm aus Metall. Mit Staubmäuerchen zwischen den sechs spitzen Zähnen, die immer sichtbar vorragen. Kämmt er sich zufällig tagsüber, rieselt ein Schauer von Babyschneeflocken auf Kragen, Rücken und Schultern seines schwarzen Jacketts. Geht er aus, bewegt sich automatisch eine Bürste über Kragen, Rücken und Schultern; eine Frauenstimme singt die Begleitung dazu. Donnerstagabend um acht Uhr klingelt der Fußpfleger. Er hängt Jacke und Hut an die Garderobe und darüber die Jacke und den Hut seines Kunden, der oben im Badezimmer neben der eisernen Wanne sitzt und seine Füße in einer Schüssel mit Sodawasser einweicht. Ist er damit fertig und die beiden sind oben vereint, wird die Tür eingehakt und abgeschlossen. Später kommt Griet mit Kehrblech und Handbesen und fegt, was einst Nägel, Hühneraugen und Schwielen waren, zusammen. Sie fasst das in ein einziges Wort: Schweinkram.

Am Samstagnachmittag stellt sich die Maniküre ein, ein mageres, rothaariges junges Mädchen. Auch sie verschwindet im Badezimmer, wo wieder die Tür eingehakt und abgeschlossen wird und statt der Füße nun die Hände in Sodawasser weichen. Mutter bringt eine Tasse Tee und holt nach zehn Minuten die leere Tasse wieder ab. Oft wird auch Rolien genau dann mit einer Nachricht zum Vater geschickt. Das erste Mal lief sie einfach so hinein, worauf der Vater sagte, dass sie anklopfen müsse. Also klopft sie nun immer an und sieht deshalb nie mehr, was sie beim ersten Mal gesehen hat. Damals hatte das magere rote Mädchen ihren Kopf so nah an Vaters Kopf, dass seine Nase fast in ihrem rötlichen Lockengewirr verschwand, und ihre Hände waren nicht mit denen des Vaters beschäftigt. Dabei war der Vater brillenlos, hatte ein kindliches, weiches Gesicht. Nach Beendigung (das magere rote Mädchen schleicht verstohlen die Treppen hinunter) ist Griet wieder mit Kehrblech und Handbesen zur Stelle und fegt, was einst Nägel, Nagelhaut und raue Stellen waren, zusammen. Diesmal fasst sie es in das Wort: Dreckszeug.

Die Sonntagnachmittage verbringt er schlafend auf dem altmodischen Kanapee. Manchmal schnarcht er so heftig, dass sein Rücken auf und ab wogt. Rolien nutzt diesen Rücken dann als Schaukel für Tom, ihre unzerbrechliche Matrosenpuppe. Tom hat seinen Spaß, bis das Schnarchen aufhört, dann fällt er mit einem Plumps hintenüber.

Geld bekommt sie von ihm nie, Schläge selten und Naschkram oft (wenn er mit ihr allein ist).

DIE MUTTER. Von der Mutter bekommt sie weder Geld noch Schläge und nur selten Naschkram. Sie empfängt Rolien und deren Schwestern morgens, bevor sie in die Schule gehen, in ihrem Schlafzimmer. Meist liegt sie dann noch im Bett, und ihre blonden Locken breiten sich wie exotische Blumen auf dem Kissen aus. Sie ist freundlich und mahnt sie mit sanfter Stimme, in der Schule gut aufzupassen. Rolien trödelt ein bisschen, damit sie noch einen Moment mit ihr allein bleiben kann.

»Darf ich ein bisschen Parfüm haben?«, fragt sie, oder zuweilen: »Darf ich mir heute deine goldene Brosche anstecken?«, und oft: »Wenn ich in die große Schule gehe, darf ich dann zwei Zöpfe tragen?«

Mittags findet sie die Mutter wieder vor: Sie riecht das Parfüm, und die Goldbrosche schmückt jetzt deren Bluse. Der morgendliche Wunsch, diesen Geruch und diesen Glanz selbst zu besitzen, ist vergessen. Auf ihrem Teller liegen Brot und Honigkuchen, und daneben steht ein weichgekochtes Ei. Sie spielt mit dem weißen, warmen Oval, bis sie es aufessen muss. Am Handwaschbecken im Flur werden die Schwestern noch einmal gekämmt und gewaschen. Dann ist es Zeit für Roliens Mittagsschlaf. Für diesen demütigendsten Moment des Tages wird sie durch das Leuchten entschädigt, das durch die roten Vorhänge um die blonde Mutter herum aufscheint. Die blonde Mutter mit den blauen Augen, der kleinen, geraden Nase und dem Mund, aus dem die Worte kommen, die immer wieder neue Geschichten von damals aneinanderreihen, als Rolien noch ein ganz kleines Mädchen war.

»War ich echt so klein?«

»Ja, so klein, dass du bestimmt zweimal in den Einkaufskorb gepasst hättest.«

»Hab ich echt nicht sprechen können?«

»Nichts außer grr, gu und gaaahh.«

Ein wenig später küsst sie dieser Mund auf Wangen und Stirn. Das ist das Allerallerschönste.

Zwei Hände wühlen durch ihre Locken, Rolien vergräbt alle zehn Finger mit den abgenagten Nägeln in dem blonden Haar und denkt, oder sagt sogar manchmal laut: »Geh nicht fort, oh, geh nicht fort!«

Ach, sie geht doch. Denn unabhängig davon, ob das Abendlicht von Glühbirnen, vom aufsteigenden Mond oder von der untergehenden Sonne kommt oder noch vom Tageslicht mit nur einer Nuance mehr oder zwei Nuancen weniger, unabhängig von all diesen Farbschattierungen erscheint die blonde Mutter in der Realität des Abendessens, dem Zeitpunkt, an dem sich die Familie zusammenfindet, wie ein anderes, fremdes Wesen. Ach, sie geht doch, denkt Rolien, wenn von der anderen Seite des Tisches (wo der Vater sitzt) harte, zornige Laute ertönen, dem abwechselnd zu tiefe und zu hohe Töne von der anderen Seite (wo das fremde Wesen »Mutter« sitzt) antworten.

Sie geht doch, sie geht doch, denkt Rolien. Auf ihrem Teller liegt grünes Gemüse neben weißem Reis, und wenn sie mit ihrem Schieberchen für die Sauce Kanäle gräbt, in denen die Reiskörner versinken, muss sie nicht hochsehen.

Manchmal dröhnen die Töne so laut, dass das Schieberchen in ihrer Hand erzittert und damit auch ihre Hand am Schieberchen und sogar die Puppe Dora auf dem Kanapee und das Kanapee unter Dora erschüttert wird. Ein Wort der Mutter in einer unverständlichen Sprache – »lesanfants, Marius, lesanfants« – ist meist beim Schokopudding mit Vanillesauce oder beim Grießbrei mit Zimtzucker zu hören, und Vaters »Gesegnete Mahlzeit«. Und dann vergehen achtzehn Stunden, bis Rolien wieder denkt oder manchmal laut sagt: »Geh nicht fort, oh, geh nicht fort!«

DIE SCHWESTERN. Schwestern sind Agnes und Mieke ausschließlich voneinander. Nicht von Rolien. Sie gehören zum Haus, zum Esstisch, zum Spielzimmer und zu ihren schmalen Betten. Nicht zu Rolien. Sie sind immer zusammen, und wenn sie sich mit ihr abgeben, dann in der überlegenen Rolle der Älteren: der Vernünftigeren oder Frecheren.

Agnes’ Vernünftigere ist hilfsbereit und geduldig. Ihre Stimme und ihre Gesten sind beschützend und verraten aufkeimende mütterliche Gefühle. Miekes Vernünftigere dagegen befiehlt und schimpft, teilt Schläge aus, zieht an Haaren und versteckt die Lieblingssachen der Jüngsten. Weder die eine noch die andere hat nachhaltig Einfluss auf Rolien. Agnes hinterlässt bei ihr ein Gemisch aus Respekt und Überdruss; Mieke weckt bei ihr Abscheu und Angst. Zusammen aber bringen die beiden die Jüngere auf die Spur ihrer eigenen Vernunft.

Im Frechsein sind sich beide auffallend ähnlich. Sie lassen morgens das Wasser in die Waschbecken laufen, ohne ihre Schwämme einzutauchen, und machen ihre Handtücher nass, damit die Mutter überprüfen kann, dass sie sich gut gewaschen haben. In der Zwischenzeit schlüpfen sie noch nach Schlaf müffelnd in Windeseile in ihre Kleider. Sie schmieren sich, sobald die Mutter ihnen den Rücken zudreht, eine zweite Portion Butter aufs Brot. Wenn die eine nachsitzen muss, erfindet die andere eine Ausrede. Sie wagen es, zu widersprechen und Rolien völlig grundlos zu beschuldigen. Abends lesen sie beim Licht der Taschenlampe im Bett und stellen sich – wenn jemand nach oben kommt – mit zuckenden Lidern schlafend.

Ab und zu beziehen sie die Jüngste in ihren Bund der Frechen ein. Rolien begreift noch nicht, dass die beiden sie brauchen, und kann deshalb nur stolz sein, dass sie mitspielen darf, was vor allem vorkommt, wenn die Eltern aus dem Haus sind. Das Spiel, das gewöhnlich Verstecki genannt wird, dehnt sich zu einem Riesenverstecken aus. Denn anders als atmende Heuberge, weite Wälder, wo sich Hüften und eingezogene Bäuche hinter viel zu magere Baumstämme pressen, wo sich Köpfe hinter Hügel ducken und ein Haarband, eine Tolle oder ein Mützenschirm zum Verräter wird, anders als enge Hauseingänge, zu schmal, um zwei schmuddelige Knie zu verbergen, oder im Vergleich mit Gemüsekarren, die zum falschen Zeitpunkt wegfahren, bietet das dreistöckige Haus unbegrenzte Möglichkeiten. Es ist eine stillschweigende Vereinbarung, dass Rolien Erster sein muss. Sie zählt, mit den Händen vor den Augen, bis hundert. Gewissenhaft, entsprechend dem Ticken der Standuhr im Gang, bis fünfzig, danach schnell und vor allen Zehnern die Neun auslassend. Denn Neun ist eine braune Zahl, so eklig braun wie der Donnerstag. Bei achtundneunzig ruft sie: »Ich kohomme« – und noch einmal: »Ich ko-ho-homme.« Und dann kommt sie. In die nächste Nähe der Möglichkeiten. In Schränke, unter Tische, unter und in Betten, hinter und zwischen Vorhänge. Sie läuft von einem Zimmer ins andere, von den Klos zu Griets Alkoven. Hier betrachtet sie interessiert das kolorierte Foto eines nackt auf dem Rücken liegenden Babys und flüchtet beim Aufschlagen der Zudecken vor dem Bettmief, der daraus aufsteigt. Sie ruft abermals, und jetzt hört sie ein Kichern. Es kommt vom Dachboden. Sie öffnet leere Koffer und volle Kisten, spürt dem unterdrückten Lachen nach.

 

Plötzlich ertönen von unten zwei neckende Stimmen: »Eins, zwei, drei, ich bin frei!«, und sie weiß, was das bedeutet: Sie muss wieder Erster sein, muss wieder suchen. Ihre Tränen fließen, aber Agnes, die Vernünftigere, übernimmt für sie; eine zweite Versteckrunde beginnt. Bei der dritten Runde weigert sich Rolien aufsässig, noch einmal suchen zu müssen, sie vergießt den Rest ihrer Tränen, die aber an den Älteren abperlen, die beide nun die Vernünftigeren geben und ihr auftragen, das Haus in Ordnung zu bringen. Sie muss die Betten machen, die Kisten und Kästen schließen, die Perserteppiche geradeziehen, ohne die Fransen zu berühren, und die Fransen kämmen, ohne die Teppiche zu berühren. Wenn die Mutter die diversen Spuren vom Versteckspiel entdeckt, richtet sie ein paar unfreundliche Worte an die beiden Älteren. Aber die Schwestern trauen sich zu widersprechen und ohne Beweise Beschuldigungen auszustoßen. Und damit verstoßen sie die Jüngste wieder aus ihrem Bund der Frechen. Denn Schwestern sind Agnes und Mieke ausschließlich voneinander. Nicht von Rolien.

2
Spielzeug

Als Rolien aufwacht, steht die Sonne schon am Himmel. Die Katze Nellie liegt am Fußende ihres Betts. Sie stupst das Tier sanft in den Bauch. Aber Nellie will heute nichts von ihr wissen, sie mauzt und schlägt verwirrt ihre Krallen in die rosa Daunendecke. Oh, denkt Rolien, die schöne teure Seide geht kaputt. Sie springt aus dem Bett und ruft in den Gang: »Mutter, Mutter, Nellie zerfetzt das Rosa!«

Als sie mit der Mutter zurückkommt, ist Nellie damit beschäftigt, etwas abzulecken. Das Etwas lebt. Griet wird eilends herbeigeholt, sie bringt das zerfetzte Rosa und die inzwischen drei lebenden, tropfenden, abgeschleckten Winzlinge in einen leeren, unbewohnten Alkoven. Als Rolien ihnen kurz darauf einen Besuch abstattet, zählt sie schon fünf. Jetzt hat sie zu dem vielen Spielzeug, das sie neulich beim großen Hausputz von den Schwestern geerbt hat, noch fünf Kätzchen bekommen. »Danke, liebe Nellie«, sagt sie, »könntest du bitte noch viel öfter Kinderkriegen spielen?«

Die Kätzchen wachsen, und die Puppen leiden. Sie werden zwar rechtzeitig gewaschen, angezogen und gefüttert, aber ansonsten sitzen sie manchmal zwölf Stunden am Stück kerzengerade und mit der Schultasche unter dem Arm unten auf dem Lavabo, um von dort eilends in ihre Notwiege, eine gesprungene Schüssel, gebracht zu werden. Auch auf den Gute-Nacht-Kuss warten sie derzeit vergeblich, und das nur, weil man bei Morle und Pünktchen das kleine Herz in der Hand klopfen fühlt und weil sie aus unter Nellie verborgenen Fläschchen trinken und überall im Alkoven echtes Aa machen, ohne dass man es selber basteln muss, und weil sie balgen und kratzen und echte Töne von sich geben. Aber warum glotzen einen diese dummen Glasaugen jetzt so an, dass einem innendrin ganz mulmig wird? Die blonde Emmie, das stille Kind, blickt verächtlich unter ihren langen Wimpern hervor, und Dora mit den schwarzen Haaren, ihre Lieblingscharakterpuppe, tut gerade so, als würde sie nichts verstehen, wenn sie freundlich nachfragt, ob sie gut gelernt hat.

Deshalb rebelliert Rolien gegen die kleinen Menschen aus Kleie, Holz und Porzellan, gegen die unechten Zöpfe, die sich neben dem jungen, flauschigen Katzenhaar hart und trocken anfühlen. Sie gibt Dora grundlos eine Tracht Prügel dorthin, wo der Po sein sollte; die Scharniergelenke wehren sich, und Dora verliert im Kampf ihr rechtes Bein. Um es wiedergutzumachen, geht Rolien mit all ihren Kindern in den Zirkus, wo sie Bärchen und Affe auftreten lässt. Und bevor sie an diesem Abend alle miteinander in der geborstenen Schüssel im Kreis schlafen legt, wäscht sie ihr Gewissen rein: »Die Kätzchen, das müsst ihr doch verstehen, die sind noch so klein, deswegen mag ich sie so sehr. Aber sie werden größer, und ihr nicht, und wenn sie groß sind, drehen sie sich nicht mehr nach mir um, aber ihr, ihr braucht mich doch für immer, stimmt’s?«

Dora verbeugt sich zweimal und singt ein klägliches: »Mama … Mama …«

»Du verschlafener Faulpelz«, sagt sie zu Morle, der still in einer Ecke des Alkovens liegt, »ich such dich überall, warum versteckst du dich denn, du Frechdachs?« Sie streicht über sein Köpfchen und schaudert. Dann streichelt sie ihn mit der anderen Hand über den Rücken, schaudert abermals und muss dreimal schlucken, bevor sie wieder atmen kann. Morle schläft nicht einfach, Morle bewegt sich nicht, Morle kann sich nie mehr bewegen. »Leblos, leblos«, sagt sie laut, und dann wieder: »Ohne Leben«, noch ein Wort mit los, wärmelos, noch eins, spiellos, und zusammen leblos. Eine tote Katze wird irgendwo im Garten, an einer Stelle, die sie dir nicht sagen, in der Erde vergraben. Dann musst du auch nicht mehr daran denken. Und du hast ja noch Nellie und die vier anderen. Die führen kurz darauf vor, wie man eine Maus fängt. Sie pressen ihre Füße auf eine Steinstufe, damit sie nicht weglaufen kann, und lassen sie quieken. Dann ziehen die Kätzchen zu einem Cousin von Griet, nur Nellie bleibt da. Die Puppen bekommen wieder einen Gute-Nacht-Kuss, und Rolien kostet es aus, Nellie zu trösten, die im ganzen Haus nach ihren Jungen sucht, ja sogar bis in den Vorgarten der Nachbarn. Roliens Arm ist zu kurz, um das Tier durch die eisernen Gitterstäbe zurückzuholen. Der Arm eines großen blonden Mannes mit freundlichem Gesicht ist länger. »Vielen Dank«, sagt Rolien, aber warum … Der Mann läuft eilig davon, mit Nellie in dem Jutesack über seiner Schulter.

»So etwas ist Diebstahl«, erklärt ihr die Mutter.

»Aber das darf man doch nicht machen, und wenn man es trotzdem macht, dann ohne dass einen jemand sieht.«

Dann stellt sich heraus, dass im Naschkästchen sehr viel weniger Süßigkeiten liegen, als laut Statistik da sein müssten. Der Verdacht fällt auf Rolien. Schließlich ist sie versessen auf alles, was süß ist oder so aussieht. Sie kann an keiner Konditorei vorbeigehen, ohne Tirelireli zu trällern, etwas, das sie unter anderen Umständen selten oder gar nicht tut, weil ihr zu oft gesagt wird, dass sie den Ton nicht halten kann. Agnes und Mieke antworten beim Verhör, ohne die Miene zu verziehen oder sich durch ein anderes Lügensignal zu verraten. Ohne mit der Wimper zu zucken, gibt Rolien sofort zu, dass sie genascht hat, und ist erfreut zu hören, dass so etwas ebenfalls Diebstahl heißt. Auch wenn dir dabei ein bisschen das Herz klopft, du hast es gekonnt, es liegt allein in deiner Macht, schlimme Dinge zu tun oder nicht.

Natürlich ist es sehr viel schlimmer, die liebe Nellie zu stehlen, als saure Drops zu lutschen, die ein anderer hätte lutschen sollen. Und außerdem wollte sie es sowieso nach drei Tagen beichten, aber ihre Mutter war schneller. Jedenfalls kann sie von jetzt an alles, was sie will, selbst erleben. Und hat damit einen Sieg über dieses minderwertige Kind-Sein errungen.

Da sitzt eines Tages ein Mischling vor der Tür. Griet holt ihn herein, Mutter legt ihn in ein rundes Binsenkörbchen und nennt ihn Molli. Molli verschafft ihr neben all dem, was ein Hund so mit sich bringt, eine neue Erkenntnis. Und auch hier erlebt sie die Machtlosigkeit, die für jeden Gutgläubigen die natürliche Folge einer jeden Täuschung ist. Denn Molli, der weder schön noch intelligent oder besonders anhänglich ist, lässt sich verhätscheln und necken, ohne dafür etwas zurückzugeben außer seinen zweifelhaften Geruch und die Weichheit seines sinnlos gefleckten Fells. Rolien reicht das vollkommen. Minutenlang schmiegt sie ihre Wangen an seine warmen Schlappohren, während Molli ihr die Hände sauberleckt. Das alles geschieht heimlich, und Rolien weiß sehr wohl, warum. Ein Tier ist nun mal nicht so sauber wie ein Kind, oder zumindest wie ein großer Mensch ein Kind gern hätte. Doch wie um alles in der Welt kann eine Mutter überhaupt daran denken, wenn man einfach so gern mit dem Kopf auf dem Hunderücken liegt und vor sich hin phantasiert? Nichts fällt schwerer, als das sein zu lassen, was man so angenehm findet, und mitten in ihren Phantastereien erhebt sich störend die Frage, warum es sich gerade besonders angenehm anfühlt, wenn es verboten ist. Ihr ist auch klar, dass sie damit aufhören könnte, wenn sie es wirklich wollte, aber weil sie sich sowieso lieber gehen lässt, beginnt sie gleich damit, ihrem Durchhaltevermögen jede Energie zu entziehen. Und dann unterbricht sie erneut ein Gedanke, und zwar, ob sich das für Molli genauso angenehm anfühlt wie für sie. Da nach wiederholtem Fragen keinerlei Reaktion erfolgt, beschleicht sie plötzlich der Gedanke, dass der Hund sie mit seinen kleinen Triefaugen vielleicht gar nicht so sieht, wie sie in Wirklichkeit ist, sonst würde er ihr doch bestimmt mehr Beachtung schenken.

Sie trägt ihn auf dem Arm zu dem großen Spiegelschrank im Gästezimmer. Dort wird sie unversehens im Spiel der Sonnenstrahlen gefangen, die über Fenster- und Spiegelglas funkelnde Lichter in ihren Locken tanzen lassen. Sie lacht sich mit Augen und Mund zu und sagt, ohne ihr Spiegelbild auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen: »Das hier ist dein Frauchen, dein liebes Frauchen«, und wieder betört sie das zarte, flüchtige Funkeln, das sich mit dem stolzen Hin- und Herwenden des Kopfes bewegt und sie berührt, wie eine Fee sie berühren könnte.

Was dann passiert, hat sie nie richtig begriffen, aber ein paar Wochen lang profitiert sie von ihrem Talent, so natürlich und mitreißend zu erzählen und den Unfall auszumalen – wobei noch hinzukommt, dass die Wunde unter ihrem rechten Auge sehr langsam abheilt –, dass es ihr immer wieder gelingt, zum Gesprächsmittelpunkt zu werden.