Der Fall Gloriosa

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der Fall Gloriosa
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Johannes Wilkes

Der Fall Gloriosa

Kriminalroman


Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © kamera7 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6718-9

Zitat

»Wenn die Gloriosa spricht, haben alle anderen Glocken zu schweigen.«

(Spruchweisheit aus Erfurt)

Zitat

Vivos voco.

Mortuos plango.

Fulgura frango.

Lebende rufe ich.

Tote beklage ich.

Blitze zerbreche ich.

(Friedrich Schiller: Das Lied von der Glocke)

Ostersonntag

Laude patronos cano gloriosa


(Ich besinge mit ruhmreichem Lob die Schutzherrn – Inschrift der Gloriosa)

Erfurt, 10.45 Uhr

Ein stiller Frühlingshimmel wölbt sich erwartungsschwanger über der Stadt. Alle Glocken schweigen, warten gespannt darauf, dass die größte von ihnen, die berühmteste, die Gloriosa, den Ostertag einläutet. So ist es Brauch seit alters her, der Gloriosa gebührt der Vorrang. Erst wenn ihr majestätisch schöner Klang die Erfurter Luft zum Vibrieren bringt, dürfen sich auch die anderen Glocken in Bewegung setzen, dürfen sie mit einfallen in das österliche Festkonzert.

Die Stadt, sie hält den Atem an, sehnt sich nach dem Signal vom Domberg, nach dem ersten Schlag der Gloriosa. Was aber ist das? Welch grässliche Töne, welch eiernder, scheppernder Lärm! Das soll die Gloriosa sein, die Göttliche, die Königin der Kirchenglocken? Unerträglich falsch hört sich das an, höhnisch schmerzt es in den Ohren, ein teuflisch-schiefes Geläut, klirrend, verzweifelt, ohne jeden Rhythmus. Als kämpfe die Glocke gegen etwas an, gegen einen geheimen Widerstand, einen Widersacher, der sich gegen ihr Schwingen stemmt.

»Nein, lasst ihn bitte noch hängen!«

Wie alt mochte der Mann sein, der da neben dem Klöppel hing? 40, vielleicht Anfang 50? Es fällt schwer, das Alter eines Menschen zu schätzen, dessen Schädel zerschmettert ist wie eine Wassermelone, die man unter ein Hammerwerk gelegt hatte.

»Unsere Gloriosa wiegt locker zehn Tonnen, das hält selbst der größte Thüringer Dickschädel nicht aus.«

Kommissar Mütze nickte und kniff die Augen zusammen. Sanft baumelte der Mann mit dem Strick um die Füße im Inneren der Glocke, den letzten Bewegungen des Klöppels folgend. Der zerquetschte Kopf schmiegte sich an das verdickte Klöppelende, die herunterhängenden Arme, von denen es rot hinablief, strichen fast über die Holzdielen und malten mit dem hinabtropfenden Blut zierliche Schleifen und Kreise auf den Boden. Der Mann war tot, mausetot, da gab es keine Zweifel, und doch, solange ein Mensch sich noch bewegt, schien eine Prise Leben in ihm zu sein.

Mütze beugte sich nieder und leuchtete mit seinem Handy in die Glocke hinein. Ganz oben, dort, wo der Klöppel aufgehängt war, hatte man den Strick befestigt. Das linke Hosenbein des Mannes war heruntergerutscht, was etwas unordentlich aussah. Zudem passten die gelb-blauen Ringelsocken nicht zu dem eleganten schwarzen Anzug. Und da war noch etwas, das nicht passte, es waren die Hände des Toten. Das waren nicht die Hände eines Anzugträgers, das waren die Hände eines Mannes, der hart anpacken musste, breit und blutig sahen sie aus, zerschunden von einer übermenschlichen Aufgabe. Unter dem Klöppel, vom Blut getränkt, lag eine weiße Nelke auf den Dielen.

Während sich Mann und Klöppel noch sacht bewegten, war die Glocke bereits zum Stillstand gekommen. Mütze besah sie sich genauer. Ein Relief zierte die Außenseite, eine Frau in einem Strahlenkranz war darauf zu sehen. Vielleicht die heilige Maria? Mütze war die katholische Heiligenkunde so vertraut wie einem Hamster der Buddhismus. Das Messing der Gloriosa war stumpf geworden im Laufe der Jahrhunderte, an zwei Stellen unten am Rand aber glänzte es, und diese Stellen lagen sich genau gegenüber. Was da glänzte, war frisches Blut.

»Die Glocke? Sie meinen wirklich, die Glocke hat ihn auf dem Gewissen?« Mütze trat dicht an den Seziertisch heran. Die abgenommene Schädeldecke neben dem zerquetschten Gehirn erinnerte ihn an ein antikes Gefäß, das man, tausendfach zerbrochen, mühsam wieder zu kitten versucht hatte.

»Alles sieht danach aus«, sagte Professor Hahnemann, ein grauhaariger Hüne, den nichts mehr erschüttern konnte. »Sehen Sie, Herr Kommissar, die inneren Organe, Herz, Lunge, Bauchraum, alles völlig unversehrt. Der Schädel hingegen, das Gehirn, ein einziger Brei. Die Glocke hat ihn erschlagen, vielleicht auch der Klöppel, wer will das entscheiden?«

»Und wenn er vorher schon tot gewesen ist? Ich meine, wenn man eine Leiche aufgehängt hat?«

»Eine Leiche hätte sich nicht gegen den Tod gewehrt«, sagte der Professor und hob eine der Hände des Toten auf. »Die Hand hier muss man sich im Original deutlich schmaler vorstellen. Schauen Sie hier.« Bei diesen Worten ließ er eine milchige Scheibe aufflammen, an der mehrere Röntgenbilder hingen. »Hier außen, das sind die Hände.«

Man brauchte kein Radiologe zu sein, um zu erkennen, was passiert war. Die feinen Fingerknochen waren vielfach gebrochen, ja, an vielen Stellen völlig zersplittert.

»Der Ärmste muss versucht haben, der Gloriosa auszuweichen. Als sie stärker zu schwingen begann, hat er vielleicht noch probiert, sich in der entgegengesetzten Richtung vom Klöppel abzustoßen und den Zusammenprall auf diese Weise zu vermeiden. Als das nicht mehr möglich war, als seine Kräfte nachließen, wollte er zumindest seinen Kopf schützen und hat seine Hände verzweifelt vor die Schläfen gehalten. Zusammen mit dem Kopf sind sie zwischen Klöppel und Glocke geraten, so lange, bis sie völlig zertrümmert waren. Das Opfer hat schließlich das Bewusstsein verloren, seine Arme sind schlaff hinabgesunken und der Kopf hat die volle Dröhnung abbekommen: dong, dong, dong!«

Mütze nickte. So konnte es gewesen sein. Wer aber ließ sich freiwillig in eine Glocke binden? Oder hatte es zuvor einen Kampf gegeben, gab es entsprechende Spuren?

Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Bislang haben wir nichts dergleichen gefunden. Aber Sie sehen ja selbst, der Zustand der Hände … Wir sind noch dran. Ob sich jedoch DNA-Spuren vom Täter finden lassen, bleibt ungewiss.«

»Adam Sternberg, 59 Jahre, städtischer Gärtner.« Hauptkommissar Thomas Stulpenpilz, von jedermann nur »Braunkärsch« gerufen wegen seiner unbezähmbaren Vorliebe für Butterstullen mit Brunnenkresse, wischte auf seinem Tablet herum, während Mütze hinter ihm stand.

Seit gerade mal vier Wochen bildeten sie ein Team. Nach sieben Erlanger Jahren hatte sich Mütze nach Erfurt versetzen lassen, der Liebe wegen. Sein Freund Karl-Dieter hatte eine neue Herausforderung gesucht. Vielleicht hatte er sich auch nur von seinem einfach nicht verstummenden Kinderwunsch zu befreien versucht, wer weiß? Alle sieben Jahre muss man sich häuten, hatte er jedenfalls gesagt. Die Stelle des leitenden Bühnenbildners am Theater Erfurt war ausgeschrieben gewesen und die Wahl war auf Karl-Dieter gefallen. Ein paar Monate waren die Freunde zwischen Erfurt und Erlangen hin- und hergependelt, mit dem ICE durch den durchlöcherten Thüringer Wald, dann waren sie die Reiserei mit der chronisch unpünktlichen Bahn leid geworden und Mütze hatte sich ebenfalls in Erfurt beworben. Nun war er da und hatte seinen ersten Mordfall. Und was für einen!

»Bist du sicher, Braunkärsch, ich meine, wir haben dem Toten ins Gesicht gesehen. Auch wenn es ziemlich zermatscht gewesen ist, die Ähnlichkeit ist doch wirklich nur eine sehr entfernte. Zudem haben wir keinerlei Papiere gefunden.«

Braunkärschs Augen blitzten. »Mensch, mach de Glotzen uff!« Er vergrößerte die Fotografie auf seinem Tablet so weit, dass der kleine Ohrring, der das linke Läppchen zierte, zu einem Türklopfer heranwuchs. »So einen Ohrring gibt es nur einmal in Erfurt, da kannste Gift drauf nehmen!«

Mütze kniff die Augen zusammen. Der Ohrring war offensichtlich ein handgeschmiedetes Unikat. Er zeigte ein stilisiertes Mühlrad. Genau dieser Ohrring hatte in der Nierenschale neben dem Seziertisch gelegen.

Insgeheim hatte sich Mütze auf Erfurt und das neue Umfeld gefreut, auch wenn er das Karl-Dieter gegenüber nie zugeben würde. Ewig seinem Lebenspartner hinterherzureisen, war das nicht etwas würdelos? Der Umzug von Dortmund nach Erlangen war echt hart gewesen, vom fröhlich mordenden Ruhrpott in eine Stadt, die keine Universität hatte, sondern eine war. Das Leben in Erlangen glitt einfach zu friedlich übers Pflaster. Lauter Akademiker, die meinten, jeden, aber wirklich jeden Streit friedlich lösen zu müssen. Was blieb da für einen Kommissar übrig? Der einzige Grund, die Ärmel hochzukrempeln, war das Schäufele am Sonntag. Der aktuelle Umzug versprach beruflich eine deutliche Verbesserung. Erfurt war zwar nicht als Thüringens Antwort auf die Bronx verschrien und doch durfte man sich als hungriger Kriminalkommissar mehr erwarten als Klöße und Rostbratwürste. Und hungrig war Mütze immer noch, auch wenn er bereits einen 50. Geburtstag hatte erdulden müssen. Nach wie vor scharrte er mit den Hufen und suchte die berufliche Herausforderung. Und nun, nach nur vier Wochen, steckte er schon mittendrin in seinem ersten Erfurter Fall. War das nicht wunderbar? Zumal eines klar war: Dieser Fall war keiner von der Stange. Mord mit ’ner Glocke! Wumm-bum! »Den Mörder muss ein unglaublicher Hass getrieben haben. Wozu sonst der Aufwand?«

 

»Oder wir haben es mit seinem Sadisten zu tun, mit einem Psychopathen«, gab Braunkärsch zu bedenken.

Mütze verzog sein Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen. Die Thüringer sprachen das P so zärtlich aus wie die Franken, weich wie ihre Klöße war auch ihre Art zu sprechen. Dialektmäßig betrachtet hatte der Umzug keine Probleme bereitet. Aber klar, Braunkärsch war nicht zu widersprechen, auch ein Psychopath kam in Betracht.

»Und zwar einer von der geschmacklosen Sorte«, fügte der Kollege hinzu, »unsere Gloriosa als Mordwaffe zu missbrauchen, welch bodenlose Frechheit!«

Geschmacklos, ja direkt widerlich fand auch Karl-Dieter das Verbrechen. Die Freunde saßen zusammen in ihrer schicken Wohnung im Brühl, dem Stadtteil, der sich zwischen das Theater und den Petersberg kuschelte. Das Brühl ist ehemals eine Schmuddelecke gewesen, verschiedene Gewerbebetriebe hatten sich hier angesiedelt. Lange her. Mittlerweile hatte man das ehemalige Werksgelände zu Büros und Wohnungen umgebaut, hohe Räume mit französischen Fenstern im Industriedesign, sehr stylisch. Am schicksten war das Dompalais in der Peterstraße, in dem sich die Wohnung von Karl-Dieter und Mütze befand. Von der Dachterrasse hatte man einen Blick auf einen kleinen Grünstreifen, den ein Bächlein wässerte, auf der gegenüberliegenden Seite sah man zum Domberg hinauf. Einfach malerisch!

Karl-Dieter musste erst am Nachmittag zur Probe und hatte anlässlich des Osterfestes butterzarte Lammlachse gebrutzelt. Dazu gab es Rosmarinkartoffeln, schön kross, wie Mütze sie liebte, grüne Speckbohnen und als Osterwein einen Bio-Primitivo von einem kleinen Familienweingut aus Apulien.

»Wie ist der Täter denn auf den Turm hinaufgelangt? Ich meine, da ist doch sicher immer abgesperrt.«

»Man muss links um den Dom zur Hochterrasse, dort geht’s zu den Türmen. Das Türschloss war unversehrt, der Täter muss einen Schlüssel gehabt haben.«

»Und wie hat er sein Opfer überzeugt, mit ihm auf den Turm zu steigen?«

»Vielleicht so.« Unvermittelt sprang Mütze auf, setzte Karl-Dieter das Steakmesser auf die Brust und zischte: »Komm mit auf den Turm, wenn dir dein Leben lieb ist!«

Entsetzt wich Karl-Dieter zurück: »Mensch, Mütze, hör doch auf mit dem Scheiß!«

Lachend setzte sich Mütze wieder, um sich eine weitere Scheibe vom Lamm hinunterzusäbeln. »Vielleicht hat der Täter aber auch einen Trick gebraucht, vielleicht hat er seinem Opfer erzählt, in der Glockenstube sei ein Schatz verborgen.«

»Ganz genau, Mütze. Und oben angekommen hat er dann zu ihm gesagt, halt mal schön still, den Schatz kannst du besser betrachten, wenn ich dich mit den Füßen in der Glocke aufhänge.«

»Hast schon recht, Knuffi, er wird ihm natürlich vorher was auf die Glocke gegeben haben.«

»Mütze!«, sagte Karl-Dieter pikiert.

Zugegeben, das Wortspiel war etwas daneben. Und doch könnte es so gewesen sein. Und kein Rechtsmediziner der Welt würde herausfinden, ob Sternbergs Schädel vor dem Glockenschlag bereits ein anderer Gegenstand getroffen hatte, nicht mal Professor Hahnemann, und das wollte etwas heißen.

»Keine Angehörigen?«

»Nur eine senile Tante, die in einem Arnstädter Altenheim ihr Leben fristet«, sagte Braunkärsch. »Sternberg lebte allein. Keine Frau, keine Kinder, nicht mal einen Wellensittich. Eigentlich stammt er aus Nordhausen, seine Eltern sind beide schon verstorben.«

Die beiden Kommissare hatten die Trommsdorffstraße erreicht, die von der Altstadt kommend in die südöstlichen Vororte führte. Mütze trat auf die Bremse und schwang seinen Manta auf den Bürgersteig. Sternbergs Wohnung befand sich im zweiten Stock eines unscheinbaren Mietshauses vis-à-vis dem Ursulinenkloster, also noch innerhalb des Altstadtringes, den man nach Juri Gagarin benannt und nach der Wende nicht in Neil-Armstrong-Ring verwestlicht hatte. Die Spusi war schon bei der Arbeit, als die Kommissare eintrafen. Sternbergs Wohnung war äußerst zweckmäßig eingerichtet. Nichts Überflüssiges stand herum.

»Schon was Verwertbares gefunden?«, fragte Mütze den Oberspurensicherer, einen fülligen Mann namens Wullkopf, der in seinem Ganzkörperanzug aussah wie ein zu groß geratener Bruder des Sams.

»Ich wünschte, alle Wohnungen wären so aufgeräumt wie diese«, scherzte Wullkopf. Dann zog er aus einer Schublade eine runde Blechdose mit dem Aufdruck Cottbuser Buttergebäck hervor und öffnete scheppernd den Deckel.

Mütze pfiff durch die Zähne: »Nicht schlecht, Herr Specht!«

»Über 80.000 Piepen! Mehr als 160.000 Mark!« Braunkärsch hatte die Angewohnheit beibehalten, alle Geldbeträge umzurechnen, als wäre die Währungsreform spurlos an ihm vorübergegangen. »Überleg doch mal, Sternberg war ein einfacher Stadtgärtner. Woher hatte er die Knete?«

Die beiden Kommissare hatten einen Kaffeestopp eingelegt und standen am Bistrotisch einer Bäckereifiliale nahe der Hauptpost, gleich ums Eck von Sternbergs Wohnung. Ein Käffchen war schon okay, gegen ein erstes Bierchen und eine Bratwurst hätte Mütze jedoch gleichfalls nichts einzuwenden gehabt. »Ich muss sehen, wie ich meinen Fleischbedarf stille«, pflegte er zu scherzen. Je älter Karl-Dieter wurde, desto vegetarischer kochte er. Wenn das so weiterging, wucherte bald nur noch Grünzeug auf ihren Tellern. Das Lamm heute war eine echte Ausnahme gewesen. Weil Ostern war.

»Die meisten Scheine sahen ziemlich verwuselt aus, das Geld hat sich Sternberg nicht frisch aus dem Automaten gezapft, das hat er sich mühsam zusammengespart.«

»Magst recht haben«, sagte Braunkärsch, »dennoch, als Gärtner! Was wird er schon verdient haben? Und selbst wenn er sich das Geld von den Rippen abgespart hat, warum hat er die Scheine nicht zur Bank getragen?«

»Wozu? Seit die Zinsen verdraghisiert sind, kriegst du doch keinen Cent mehr.«

»Dennoch, 80.000 Euro! Die verwahrt man nicht in einer Keksdose auf.«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Die Dose war doch recht hübsch. Oder hast du was gegen die Stadtansicht von Cottbus?«

»Willst du mich verkackeiern?«

»Quatsch, Braunkärsch, im Ernst, du hast natürlich recht, hast ja immer recht. Keksdosen taugen vielleicht für die Skatkasse, nicht aber für 80.000 Euro.«

»Eben. Wenn es der Täter aber auf die Knete abgesehen hatte, warum ist dann alles noch an Ort und Stelle?«

Mütze sah Braunkärsch an und in seinen Augen blitzte es: »Vielleicht, weil er ohnehin alles erbt.«

»Dafür der Aufwand mit der Glocke?«

»Das ist ja das Raffinierte! Er will uns in die Irre führen, aber nicht mit uns!«

Notar Michael von Gleichen war ein höchst bedächtiger Mann. Nur weil zwei Kommissare an seiner Haustür standen, die Auskunft von ihm verlangten, fing er nicht gleich an zu springen. Das war ja gerade das Erfolgsgeheimnis des deutschen Notarwesens, seine ausgesprochen geringe Sprungfreudigkeit. Beim Notar ging alles seinen geordneten Gang, man arbeitete mit Terminen und Fristen, jede Form von Spontaneität war dem Notar fremd, ja suspekt. Mindestens ebenso wichtig wie die Einhaltung formaler Ordnungen aber war dem deutschen Notar die Verschwiegenheit. Bloß weil er im Telefonbuch eines Mordopfers auftauchte, musste er doch nicht in beruflicher Verbindung mit dem Mann stehen. Von Gleichens Empörung speiste sich vor allem aus dem Faktum, dass man sich erdreistete, ihn privat aufzusuchen. Bei dienstlichen Angelegenheiten, und um eine solche handelte es sich zweifelsohne, war er es gewohnt, dass alles über sein Vorzimmer lief. Wie Wasser, das über mehrere Reinigungsstufen geklärt wurde, so wurde jeder Vorgang zunächst durch seine Damen (er sprach immer von seinen Damen, wenn er seine Angestellten meinte) vorbereitet, aufgearbeitet und in eine bekömmliche Form gebracht. Erst dann beschäftigte er sich selbst mit der Sache. Einfach so überfallen zu werden, an der Haustür seines privaten Anwesens, ohne jede Vorankündigung, war ziemlich ungeheuerlich. Noch dazu am Ostersonntag. Nicht, dass er sich in seinem religiösen Empfinden gestört hätte, jedes religiöse Empfinden war von Gleichen fremd, gerne bezeichnete er sich als Freigeist. Ein Feiertag aber war nun mal ein Feiertag.

»Hören Sie, Herr von Gleichen, wir stören wirklich nur ungern, aber wir ermitteln in einem Mordfall. Wer ist der Erbe von Adam Sternberg?«

Der Notar hatte dankend abgelehnt, in den Manta zu steigen. Wenn man ihn schon nötigte, an einem Feiertag in seine Kanzlei zu fahren, dann nahm er selbstverständlich sein eigenes Auto, einen schwarzen Porsche 911. Sein Sohn, der soeben sein zweites Studium abgebrochen hatte, um sich in Ruhe einem dritten widmen zu können, hatte ihn naserümpfend gefragt, wie man sich in der heutigen Zeit nur eine solche Kiste (er hatte tatsächlich »Kiste« gesagt) kaufen könne. Ob er nichts von der Klimakatastrophe gehört habe. So ein Rotzlöffel! »Mit dem Kauf eines Porsches leiste ich meinen Teil gegen die Wegwerfgesellschaft«, hatte von Gleichen seinen Sohn zurechtgewiesen. Kein Auto, das werthaltiger sei. Ein Porsche würde nämlich niemals verschrottet und fände nach 50 Jahren noch seinen Liebhaber. Aber so war die Jugend. Wusste alles besser. Wenn man jedoch einer neuen Freundin imponieren wollte, spielte das Klima plötzlich keine Rolle mehr, dann war Papas Porsche plötzlich genau der richtige Schlitten.

Von Gleichens Notariat befand sich im ersten Stock eines grün gestrichenen Altbaus am Fischmarkt, oberhalb eines italienischen Restaurants, in dem von Gleichen gerne zu Mittag speiste. Wenn er aus seinem stuckverzierten Arbeitszimmer schaute, fiel sein Blick auf den neogotischen Bau des Rathauses und auf die prächtigen Häuser zum Roten Ochsen und zur Güldenen Krone, Renaissancekunst vom Feinsten. Noch reicher verziert war die Fassade des Hauses zum Breiten Herd, ein Anblick, der von Gleichen stets einen schmerzlichen Stich versetzte. Wie gerne wäre er mit seinem Notariat dort eingezogen, ein Konkurrent aber war schneller gewesen. Doch auch seine Räumlichkeiten brauchten sich nicht zu verstecken und sie besaßen den Vorteil, dass man von ihnen die Renaissancefassade des Breiten Herds bewundern konnte, was vom Breiten Herd aus natürlich nicht möglich war. Von Gleichen hatte das Notariat unmittelbar nach der Wende bezogen, zum bestmöglichen Zeitpunkt. Erfurt als Landeshauptstadt boomte, Immobilien wanderten hin und her, schnell war er zu Geld gekommen und seit sich seine Frau darum kümmerte, seine Damen auszuwählen, lief das Notariat wie auf Schienen. Ein dummer Fehltritt, viele Jahre her und zum Glück schon fast vergessen, hatte den Ausschlag gegeben, dass seine Frau von einem Tag auf den anderen die Einstellungsgespräche übernommen hatte. Sie hatte das Notariat an einem Sonntag aufgesucht, um Kopien für einen Benefiznachmittag ihres rotarischen Inner-Wheel-Circles zu machen, als sie im Auswurfschacht des Kopierers den nackten Hintern von Susi gefunden hatte, seiner jungen Chefsekretärin, die ihn am Freitag zuvor, nachdem alle gegangen waren, noch zu einem Quickie verführt hatte. Blöderweise muss von ihnen beiden unbemerkt der Kopierer angesprungen sein, was das Ende ihrer Arbeitsbeziehung bedeutet hatte.

Aufgrund der fantastischen Ordnung, die mit der neuen Personalpolitik Einzug gehalten hatte, fand der Notar Sternbergs Testament auch ohne bürokommunikative Hilfe. Ganz wie er es gewohnt war, händigte er das Dokument jedoch nicht aus, sondern begann, es vorzulesen: »Hiermit bestimme ich, Adam Sternberg, im Falle meines Ablebens, Herrn Kevin Wieland, geboren am 17. April 1996 in Weimar, derzeit wohnhaft im Pegasusweg 32 in Erfurt-Bindersleben, zu meinem alleinigen Erben. Erfurt, den 8. August 2018, gezeichnet Adam Sternberg.«

 

Bindersleben klebte wie ein Schwalbennest an Erfurts westlichem Rand. Mütze ließ den Manta fröhlich aufheulen. Vorbei ging’s an den Berufsschulen, am Hauptfriedhof mit seinem munter rauchenden Krematorium, immer die Binderslebener Landstraße entlang Richtung Flughafen. Natürlich leistete sich Erfurt einen Flughafen. Schließlich war man Landeshauptstadt und was wäre eine Landeshauptstadt ohne Fluglärm? Vor einigen Jahren hatte man ihn in »Flughafen Erfurt-Weimar« umbenannt. Der krampfhafte Versuch, mit der benachbarten Goethe- und Schillerstadt zu punkten, hatte in Erfurt viel Kopfschütteln hervorgerufen. Mann! Was war denn das für ein Selbstbewusstsein?

Während Mütze Gummi gab, wischte Braunkärsch auf seinem Smartphone herum.

Mütze grinste. »Und? Heute was dabei?«

»Ach, hör uff.«

Seit mehr als drei Jahren schon war Braunkärsch Single. Viel zu lange hatte er seiner Sylvia hinterhergetrauert, hatte vergeblich auf eine zweite Chance gehofft. Nun versuchte er es mit Tinder, konnte sich aber nicht entschließen, eine der Frauen auf die rechte Seite zu wischen. Die einen waren zu attraktiv, vor denen fürchtete er sich, und die anderen, na ja, die anderen wollte er nicht.

»Du musst von der Attraktivität mindestens fünf Punkte abziehen«, lachte Mütze, »weißt schon, wegen Photoshop und so.«

Braunkärsch brummte nur einen unverständlichen Kommentar. Auch verriet er nicht, wer ihn auf Tinder gebracht hatte. Oder wusste es Mütze etwa schon?

Rechts erhob sich lustlos der Tower. Bindersleben war erreicht. Statt zu den Terminals abzubiegen, ließ Mütze seinen Manta in eine südlich gelegene Siedlung rollen. Alle Straßen des Viertels hatte man nach Sternbildern und Sternen benannt, vielleicht als Referenz an die letzten noch abhebenden Flieger: Orion, Capella, Pegasus … Das Haus mit der Nummer 32 war eines dieser freundlich-nichtssagenden Reihenhäuser, wie sie auch in den Weichbildern von Castrop-Rauxel und Buxtehude herumlümmelten.

»Hier könntest du mich nacksch über den Zaun hängen«, sagte Braunkärsch, der zum überzeugten Innenstadtkäfer mutiert war.

Mütze lächelte und drückte die Klingel. Nichts rührte sich. Mütze klingelte ein zweites Mal. Kevin Wieland schien nicht zu Hause zu sein.

»Schönes Wetter heute, nicht wahr?«

Eine ältere Nachbarin mit blumenübersätem Strohhut besprenkelte ihre Osterglocken und grüßte zugleich freundlich über die wellenförmig beschnittene Tujenhecke.

»Mütze, Kriminalpolizei, mein Kollege, Hauptkommissar Stulpenpilz. Können Sie uns sagen, wo Herr Wieland steckt?«

»Kriminalpolizei?« Erschrocken ließ die Frau ihre Gießkanne sinken. »Ist was passiert?«

Statt auf die Frage einzugehen, kramte Mütze ein Foto des Toten aus der Tasche, das er aus dessen Wohnung mitgenommen hatte. »Kennen Sie diesen Herrn?«

Die Frau fingerte nach ihrer Brille, die an einem silbernen Kettchen vor ihrer Gartenschürze baumelte. »Ja, gewiss, der Herr ist mir bekannt. Er hat den jungen Herrn Wieland immer mal besucht. Ich glaube, die beiden sind Kollegen. Herr Wieland ist Gärtner, wissen Sie. Was ist denn mit dem Herrn auf dem Foto?«

»Er ist von hinnen, und zwar nicht ganz freiwillig.«

»Um Himmels willen! Und Sie glauben, dass Herr Wieland …? Nein, niemals! Der junge Mann ist der freundlichste Mensch der Welt, er gibt mir so viele gute Tipps für unseren Garten, der tut keiner Fliege was zuleide.«

»Haben Sie vielleicht mitbekommen, dass die beiden sich einmal gestritten hätten?«

»Nein, nein! Wie kommen Sie darauf? Die zwei sind gute Freunde gewesen.«

»Wo arbeitet Herr Wieland denn?«

»Bei der Stadtgärtnerei. Die haben doch jetzt so viel zu tun, Sie wissen schon, unsere Gartenschau. Aber sagen Sie, der Mann da auf dem Foto, der Freund von Herrn Wieland, das ist doch nicht etwa der Ärmste, den die Gloriosa erschlagen hat?«

Erfurt verstand das Kunststück, Hauptstadt zu sein und zugleich ein Dorf. Noch bevor die Presse über den Mordfall berichten konnte, wussten alle längst Bescheid. Erfurt kam prächtig ohne digitale Netzwerke zurecht, ohne soziale und unsoziale. Von Mund zu Mund lief die Neuigkeit weiter, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Der Glockenwart des Mariendoms, der wegen des grausamen Glockenklangs auf den Turm geeilt war, hatte den schockierenden Grund in der Sakristei berichtet, so hatten es die Besucher des Ostergottesdienstes erfahren, hatten schnell ihr Kreuzzeichen gemacht, um sich vor der Domtür auszutauschen und dann die Handys zu zücken und Verwandte und Freunde zu informieren. »Es heißt, er habe in der Gloriosa gehangen.« »Kann man’s glauben?« »Er sei total zerklöppelt worden.« »Nein, wie furchtbar!« »So ein Verbrechen!« »Das hätte es früher nicht gegeben.«

Auch am Theater schüttelte jeder ungläubig den Kopf. Zwar kannte man sich in der Bühnenwelt mit blutigen Mordfällen bestens aus, eine solche Moritat aber wäre selbst Shakespeare nicht eingefallen. Viel Zeit für langes Rühren in der Gerüchteküche blieb allerdings nicht, steckte man doch in den finalen Vorbereitungen für die Premieren anlässlich der angelaufenen Gartenschau. Diese sollte ein Erfurter Gesamtkunstwerk werden, nicht allein auf die Präsentation hübscher Blümchen wollte man sich beschränken, alle Bürger der Stadt und erst recht die Kulturschaffenden sollten sich einbringen, das war der Plan. Der Intendant des Erfurter Theaters hatte sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Sebastian Bächlein, der Erfurter Hauskomponist, hatte Les Fleurs du Mal, die Blumen des Bösen, für das Ballett eingerichtet, eine Auswahl von sechs Gedichten Baudelaires, vertont mithilfe assoziativer Klänge. Grandios war das Bühnenbild gelungen, das Karl-Dieter entworfen hatte. Baumhohe Blumen wuchsen aus der Bühne, helle, freundliche Margeriten, welche im Laufe des Stückes allmählich zu schwarzen Monstern welkten, eine technisch schwierige Aufgabe, die Karl-Dieter mit Bravour gelöst hatte, auch wenn er, bescheiden und selbstkritisch, wie er war, alle Vorschlusslorbeeren von sich wies. Morgen war Premiere, das Publikum sollte staunen. Bei der Generalprobe am heutigen Nachmittag war die Öffentlichkeit nicht zugelassen. Nichts sollte nach außen dringen. Das junge Ballettensemble war hoch motiviert und ging bis an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Besonders gefiel Karl-Dieter ein dunkelhaariger Spanier, Eduardo Contés mit Namen, der sich durch eine große Ernsthaftigkeit auszeichnete. In jeder seiner Bewegungen spürte man, wie er in seiner Rolle aufging, jeder Sprung, jede Drehung war Ausdruck einer enormen inneren Energie, einer völligen Verschmelzung mit der Musik, ja, in manchen Momenten schien es, als würde nicht der Dirigent im Graben, sondern der Körper des jungen Mannes das Orchester leiten. Wenn Eduardo am Ende des Stücks erschöpft auf der Bühne stand, atemlos und schweißgebadet, fühlte Karl-Dieter bei aller Begeisterung eine leichte Sorge in sich aufsteigen. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Bei aller Professionalität – und Karl-Dieter liebte Professionalität –, die Gefahr schien nicht gering, dass der junge Mann seinen enormen, ja schon fast übermenschlichen Einsatz bald bitter bezahlen musste.

Wer hatte etwas gesehen? Wer hatte eine Beobachtung gemacht? Wer war in der Nacht zuvor oder am frühen Morgen am Domberg gewesen und hatte mitbekommen, wie jemand die Tür zu den Türmen geöffnet hat? Der Erfurter Domberg war das Zentrum der Stadt, sein Panorama weltweit einzigartig. Selbst der abgebrühteste Atheist verspürte einen Moment der Ergriffenheit angesichts des Ensembles, zu dem der Hohe Dom und die Severikirche verschmolzen. Ihre sechs Türme bildeten die Krone der Stadt. Die freie Treppe mit ihren 70 Stufen, einst »Graden« genannt, führte genau auf das seitlich angebrachte Triangelportal zu, eine raffinierte architektonische Lösung, betrat man gotische Kirchen doch zumeist durch das Westportal, welches sich in Erfurt jedoch an der stadtabgewandten Seite des Domes befand. Die breite Freitreppe verschmälerte sich nach oben zusehends, was den Eindruck der Steilheit des Berges noch hervorhob.

Angesichts der besonderen Umstände des Falls war Mütze sehr damit einverstanden, frühzeitig an die Öffentlichkeit heranzutreten, ja, er selbst hatte ihren Chef, den sie heimlich das Brot nannten, darum gebeten. Seinen Spitznamen trug der Leiter des Kommissariats, weil er mindestens so missmutig dreinschaute, wie Bernd das Brot, ja, der depressive Brotlaib war verglichen mit dem Kriminalbeamten eine echte Stimmungskanone. Nur der alte Pförtner behauptete, beim Brot einmal den Anflug eines Lächelns bemerkt zu haben, gute 20 Jahre her, zumindest habe ein Mundwinkel für einen Sekundenbruchteil die Andeutung einer Verlängerung gemacht, er könne sich jedoch auch täuschen. Winfried Mühlhauser, so der bürgerliche Name des Leiters der Erfurter Kriminalpolizei, stand kurz vor der Pensionierung, in der er sich ganz seinem Hobby, der Erfurter Stadtgeschichte, widmen wollte. Der Tod in der Glocke hatte auch ihn schockiert. Das Attentat am Gutenberg-Gymnasium ausgenommen, war ihm in seinem ganzen Arbeitsleben ein solch brutales Verbrechen noch nicht vorgekommen.