Der Pfeiler der Gerechtigkeit

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Der Pfeiler der Gerechtigkeit
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Johanna von Wild

Der Pfeiler der Gerechtigkeit

Historischer Roman


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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:De_Merian_Frankoniae_156.jpg und HAH / Wikimedia Commons

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ruetschenhausen_Kirche_Wappen.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Boucicaut_Master_-_Book_of_Hours_(Use_of_Paris)_-_1942.169_-_Cleveland_Museum_of_Art.tif

Wappensymbol im Buch: © Echter-Wappen.png – Wikimedia Commons

ISBN 978-3-8392-6898-8

Widmung

Für Ralf. Danke für so viele zuckersüße Jahre.

Zitate

»Geselle ist, der etwas kann, Meister ist, der etwas ersann, Lehrling ist jedermann.«

Johann Wolfgang von Goethe

*

Tibi de relictus est pauper – in praece pauperum spem habui (Dir ist der Arme anvertraut – Ich setze meine Hoffnung auf das Gebet der Armen)

Spruchband der steinernen Stiftungsurkunde des Julius­spitals Würzburg – Stiftungsgründer: Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn

Personenverzeichnis

historische Personen sind mit * gekennzeichnet

Familie Reber

Simon: Bäckerlehrling

Anna: seine Mutter

Barbara: seine Schwester

Gebhard: sein Vater

Familie Bernbeck

Melchior: Bäckermeister

Wulf: sein Sohn

Sibylla: seine Tochter

Gerfried: sein Bruder

Ranhild: seine Enkelin

Jörg: sein Schwiegersohn

Familie Sterzing

Konrad: Apotheker, Lilien-Apotheke

Teresa: seine Frau

Julia: seine Tochter

Familie Landauer

Friedhelm: Apotheker, Einhorn-Apotheke

Josepha: seine Frau

Ferdinand: sein Sohn

Katharina, Magdalene: seine Töchter

Theodor, Martin: seine Schwiegersöhne

Familie Tardelli

Francesco: Zuckerbäcker

Carlotta: seine älteste Tochter

Aurora: seine Frau

Benedetto, Matteo, Tomaso

Isabella, Bianca, Antonio,

Michele: seine weiteren Kinder

Davide: sein Enkel

Familie Hansen

Philipp: Kaufmann

Reinhild seine Frau

Agatha, Renata, Meinhard: seine Kinder

Adalbert, Rudolf: seine Schwiegersöhne

Julius Echter von Mespelbrunn* : Fürstbischof von Würzburg

Weitere Personen

Balthasar von Dernbach*: Fürstabt von Fulda

Joris Robijn*: Baumeister aus Flamen

Wilhelm Upilio*: Stadt- und Leibarzt

Johannes Posthius*: Leibarzt

Jonas Adelwerth*: Leibarzt, Dekan med. Fakultät

Hans Rodlein*: Bildhauer

Friedrich Albrecht: Oberschultheiß

von Heßberg*

Johann Voit von Rieneck: Adliger in Echters Dienst

Neidhart von Thüngen*: Domdekan

Erasmus Neustetter

genannt Stürmer*: Domherr

Johann Stamitz: Schreinermeister

Reinhold Zollner: Rechtsgelehrter

Andreas Riehl: Schneidermeister

Stefan Dinkel: Oberpflegherr im Juliusspital

Walther: Koch

Rupert: Küchenmeister

Gottfried Schwarzmann: Rabenwirt

Alfred Heber: Zimmermeister

Wulfram Heber: sein Sohn

Anselm: Zimmergeselle

Dietrich Wenzel: Goldschmied

Vater Magnus Pfarrer: Marienkapelle

Martin Tauchert: protestantischer Pfarrer

Johann Eschbach: Apotheker

August: Apothekengehilfe

Otto: Bäckergehilfe

Friedlinde, Berta: Mägde

Max Krämer, Bartl, Lorenz,

Winfried und Caspar: Knechte

Karl und Lois: Bäckergesellen

Schloss Mespelbrunn

Christina Alberdinen*: Magd

Michel Vetterer*: Knecht

Korbinian: Förster

Zunftmeister der Bäcker

Sebastian Schlichting

Robert Wachter

Adalbert Sieber

Gerhard Schedel

1550
Schloss Mespelbrunn, Spessart

»Arkan, hierher!«, rief Julius Echter dem davonjagenden Hund nach.

Doch es nützte nichts. Die schwarzbraune Dachsbracke hetzte weiter und kümmerte sich nicht um die Befehle des Fünfjährigen. Arkan hatte vermutlich einen Hasen aufgespürt, jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Der Hund war erst sechs Monate alt und seine Ausbildung noch nicht weit fortgeschritten; eigentlich hätte Julius ihn gar nicht mit in den Wald nehmen dürfen. Aber der blonde dünne Fünfjährige hatte nicht widerstehen können. Schließlich war es sein Hund, denn er hatte den Welpen aus dem Wurf ausgesucht, oder umgekehrt.

Der damals acht Wochen alte Arkan war mit wedelnder Rute und auf tapsigen Pfoten geradewegs auf Julius zugekommen und hatte sich in dessen Schoß zusammengerollt. Die Ausbildung des Welpen oblag dem Förster Korbinian, der seit Jahren für die Echters arbeitete. Schließlich sollte der Hund einmal ein erfolgreicher Spürhund werden. Arkan hatte zwar schon einiges gelernt, doch er hörte nicht auf einen kleinen Jungen, sondern auf Korbinian.

Wieder und wieder brüllte Julius dem Hund hinterher, rannte so schnell er konnte und blieb irgendwann keuchend stehen. Arkan würde erst zurückkommen, sobald er entweder den Hasen – oder was auch immer ihm in die feine Nase gestiegen war – erlegt hatte oder seine Beute entkommen war. Was dagegen sicher war: Julius konnte sich auf eine Strafpredigt gefasst machen.

Rascheln und das laute, wütende Grunzen eines durch das Unterholz brechenden Wildschweins drangen an seine Ohren, gepaart mit Arkans aufgeregtem Gebell und plötzlichem schrillem Aufjaulen. Julius blieb vor Schreck beinahe die Luft weg. Angestrengt horchte er in das Gebüsch hinein, hörte, wie das Wildschwein sich entfernte, dann ein schwaches Winseln.

»Arkan?«

Das Herz des Jungen hämmerte vor Angst und Aufregung, als er den kläglichen Hundelauten folgte und Arkan schließlich am Fuße einer Fichte liegen sah. Blut rann aus einer tiefen, klaffenden Wunde am linken Hinterbein und tränkte den Waldboden. Julius fiel auf die Knie, schob beide Arme unter den Körper des Hundes und kam mit zitternden Beinen zum Stehen. So schnell er konnte, lief er durch den Wald, den schwer verletzten Hund an sich gedrückt.

»Julius! Julius, wo steckst du?« Michel Vetterer, der treue Hausknecht der Familie Echter, rief nach ihm.

»Hier! Michel, hilf mir!« Die Stimme des Jungen klang dünn und gequält. Julius weinte, ohne es zu bemerken. Tränen rannen seine Wangen hinab, tropften auf Arkans seidiges Fell. Dann stand er plötzlich am Waldrand vor dem Knecht, der scharf die Luft einsog, als er den verletzten Hund sah.

»Gib ihn mir«, sagte er und nahm das Tier sanft aus Julius’ Armen. »Geh, und lauf zu Korbinian, schnell! Er wird wissen, was zu tun ist«, drängte Michel. »Ich bringe Arkan zum Schloss.«

Julius stürmte los zum Forsthaus, das ganz in der Nähe des Schloss Mespelbrunn umgebenden Sees lag.

Wenig später kam er in Begleitung des Försters über die heruntergelassene Zugbrücke durchs Tor. Im Innenhof hatte Michel bereits den Hund auf eine alte Decke gelegt. Wortlos kniete sich Korbinian nieder, betastete vorsichtig die Wunde, die inzwischen zu bluten aufgehört hatte.

»Michel, besorg sauberes Leinen und verdünnten Wein, ich bin gleich wieder hier«, ordnete der Forstmeister an.

Julius blieb bei seinem Schützling, redete auf ihn ein und streichelte seinen Kopf.

Eiligen Schrittes kehrte Korbinian mit einem Beutel zurück. Er spülte die Wunde mehrfach mit Wein und entfernte das Fell um die Wundränder mit einem scharfen Messer, während Michel den Hund festhielt. Dann nahm er eine Salbe aus dem Beutel und trug sie auf die nun sichtbare rosafarbene Haut auf.

»Wofür ist das?« Julius schluckte, als er sah, wie Arkan zusammenzuckte und wieder zu winseln begann.

»Die Opiumsalbe nimmt Arkan die Schmerzen«, brummte Korbinian, ohne aufzusehen.

Nachdem er die Wunde mit einem Pferdehaar vernäht und eine kleine Öffnung gelassen hatte, damit später der Eiter abfließen konnte, bestrich er ein Leinentuch mit Honig, legte es auf die Wunde, nahm ein weiteres Tuch, faltete es geschickt und brachte einen Verband an.

»Ich nehme Arkan mit zu mir, damit ich ihn weiter versorgen kann. Er bekommt einen Lederkragen, so kann er sich den Verband nicht abreißen.«

»Wird er wieder gesund?«, fragte Julius mit trockenem Mund.

 

»Ich weiß es nicht, doch wenn er es schafft, ist er wahrscheinlich als Jagdhund nicht mehr zu gebrauchen«, erwiderte der Forstmeister missmutig.

Julius stand mit gesenktem Kopf vor seinem Vater im Jagdzimmer des Schlosses und weinte. Die ausgestopften Köpfe der erlegten Hirsche, Böcke und Keiler an den Wänden schienen anklagend auf ihn herunterzustarren.

»Hör auf zu weinen. Du enttäuschst mich, mein Sohn. Es war dir verboten, Arkan mit in den Wald zu nehmen, und trotzdem hast du es getan. Wenn er stirbt, ist es deine Schuld, nicht die des Keilers. Dem Herrn sei Dank, dass unser Forstmeister auch heilkundig ist und weiß, wie man verletzte Tiere behandelt. Doch trotz seiner Kunst liegt es allein in Gottes Hand, ob Arkan überlebt.«

Nachdem sein Vater ihn entlassen hatte, ging Julius zur Kapelle, die sich im kleineren der beiden Schlosstürme befand. Der Ballsaal im Erdgeschoss, durch den man zur Kapelle gelangte, war verlassen, worüber Julius froh war. Oft spielten er und seine Brüder dort Ball, wenn der Hauskaplan sie aus dem Unterricht entließ. Julius kniete sich in eine der Gebetbänke, auf deren hölzerner Front das Echterwappen prangte. Ein silberner Balken mit drei blauen Ringen, gekrönt von einem blausilbernen Helm, dessen Büffelhörner ebenso mit Ringen verziert waren. Das durch die Glasfenster fallende Sonnenlicht erleuchtete die winzige Kapelle und tauchte die farbigen Heiligenbilder an der Gewölbedecke in warmes Licht. Stumm betete der Junge zum Allmächtigen, er möge ihm vergeben und Arkan gesund werden lassen. Gelobte, sich fortan um Schwächere und weniger Begünstigte zu kümmern. Zeit seines Lebens.

Sein Vater hatte ihm mehr als deutlich gemacht, was er von ihm erwartete. Er, Julius, sei der Kirche versprochen und solle ein würdiger Diener Gottes werden. Ein Pfeiler des Glaubens auf dem Fundament der Nächstenliebe – das waren seine eindringlichen Worte gewesen. In eine ehrenhafte und reiche Familie hineingeboren worden zu sein, bedeute auch, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann erhob sich Julius mit schmerzenden Knien und verließ die Kapelle. Traurig und mit hängenden Schultern schlich er durch die Gänge des Schlosses.

»Julius, was ist mit dir?«

Plötzlich stand er vor Christina Alberdinen. Die zwergenhafte Magd mit ihrer verwachsenen Schulter war nur wenig größer als er. Sie war die gute Seele auf Mespelbrunn und wurde von allen geliebt, besonders von den Kindern, Adolf, Julius und Sebastian. Meist hütete sie die kleine Schwester der Echterbrüder, Margarethe, und kümmerte sich um den wenige Monate alten Valentin, der im Mai zur Welt gekommen war.

Julius begann zu schluchzen und stürzte sich in Christinas Arme. Sie drückte ihn an ihren üppigen Busen, und nachdem er sich etwas beruhigt hatte, fasste sie nach seiner Hand und führte ihn in die Schlossküche mit ihrem Kreuzrippengewölbe. Warm und behaglich war es hier. Über dem Herd baumelten Kupfertöpfe und Pfannen unterschiedlicher Größe. Die Köchin bereitete das abendliche Mahl zu, und es duftete bereits köstlich.

»Setz dich, mein Junge«, sagte Christina.

Auf dem gemauerten Wandvorsprung neben dem großen Backofen stand ein frisch gebackenes, süßes Brot gefüllt mit Rosinen und Nüssen. Die kleinwüchsige Magd schnitt zwei dicke Scheiben ab, legte sie auf einen einfachen Teller und brachte ihn an den Tisch. Dann nahm sie Julius auf den Schoß und sah ihn aufmerksam an.

»Und nun erzählst du mir, was dich so bedrückt.«

Während Julius von seinem Ungehorsam, den Geschehnissen im Wald und von seiner Angst um Arkan berichtete, brach Christina immer wieder ein kleines Stückchen Brot ab und reichte es ihm, wenn er ins Stocken geriet und die Tränen zurückdrängte. Am Ende war das himmlisch schmeckende Brot aufgegessen. Julius fühlte sich erleichtert und so voller Zuversicht, Arkan werde wieder gesunden, dass sich sogar ein Lächeln auf sein Gesicht stahl.

Er schmiegte seinen Kopf an Christinas Halsgrube und murmelte schläfrig: »Wie nennt man dieses Brot?«

»Ich nenne es Seelenbrot«, antwortete sie und strich dem Jungen sanft über den blonden Schopf. »Es ist mit Liebe gebacken.«

Erster Teil

1572 - 1578
Würzburg

Im kalten Nieselregen stand der dreizehnjährige Simon am Grab seines Vaters und fror erbärmlich. Es war Anfang November, und neben ihm zitterte seine Mutter, Anna, die stumm weinte und die Hände vor dem Körper gefaltet hatte. Seine kleine Schwester Barbara hatte ihre rechte Hand in Simons Linke gelegt und schluchzte leise. Tränen rannen ihre blassen Wangen hinab und Rotz lief aus ihrer Nase. Simon spürte einen dicken Kloß im Hals, als der Priester die Grabstelle mit Weihwasser besprengte, das Kreuzzeichen schlug und den Sargträgern mit einem Kopfnicken bedeutete, die letzte Ruhestätte seines Vaters abzulassen.

Viele waren gekommen, um dem Bildhauermeister Gebhard Reber das letzte Geleit zu geben. Simons Vater war ein angesehener und beliebter Bürger der Stadt gewesen. Wahre Kunstwerke hatte er hervorgebracht, und wer es sich leisten konnte, der ließ sich Grabplatten und Skulpturen fertigen, aber auch Rosenkränze, die Gebhard aus den bei der Bildhauerei anfallenden Bruchstücken herstellte. Doch das vermochten nur die Adligen, Fürstbischof Friedrich von Wirsberg und die gut betuchten Bürger und Amtmänner. Gebhard hatte gute Geschäfte mit reichen Kaufleuten gemacht, die kleinere Statuen für ihn verkauften, und so ein hübsches Vermögen angehäuft. Schon als junger Mann war er bis nach Florenz gezogen, um seine Kunst bei den Meistern der Bildhauerei zu erlernen. Simon hatte nie genug von seines Vaters Geschichten bekommen und beschlossen, wenn er einmal alt genug war, auch in die fernen Lande jenseits der Alpen zu ziehen.

Die Trauergäste zogen vorbei, schüttelten der Mutter die Hand, manche strichen Barbara mitleidig über den Kopf, und der eine oder andere legte Simon die Hand auf die Schulter.

»Dein Vater war ein guter Mann, sei tapfer, Junge.«

Als der letzte Händedruck erfolgt war, blieb Gebhards Familie noch einen Augenblick stehen, um einen letzten Blick auf den Sarg zu werfen, bevor der Totengräber das Grab zuschaufelte. Anna Reber legte die Arme um die Schultern ihrer Kinder und drückte sie an sich.

»Nun kommt, ihr beiden, der Leichenschmaus im ›Stachel‹ wartet schon.«

Der ›Stachel‹ war mehr als zweihundertfünfzig Jahre alt, und das Weinhaus hatte einst für geheime Zusammenkünfte während des Bauernkrieges gedient. Der Bildhauer und Ratsherr Tilman Riemenschneider hatte sich dort mit den Reichsrittern Götz von Berlichingen und Florian Geyer getroffen, um sich gegen den damals regierenden Fürstbischof Konrad von Thüngen zu verbünden. Nur wenige Wochen hatte der Aufstand in Würzburg gedauert. Den Soldaten des Bischofs, unterstützt vom Schwäbischen Bund, hatte das Bauernheer nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Am Ende waren Tausende Bauern tot, die Anführer verhaftet und gefoltert und mehrere Bürger auf dem Fischmarkt enthauptet worden.

Drinnen war es warm und der Geräuschpegel hoch. Simon rieb sich die kalten Hände und legte sie um den Becher mit dem verdünnten heißen Würzwein. Der deftige Linseneintopf mit Speck, seines Vaters Lieblingsspeise, wärmte ihn von innen und erweckte seine blau gefrorenen Zehen wieder zum Leben. Auf dem Friedhof hatte er noch gedacht, er brächte vor Trauer keinen Bissen hinunter, doch wider Erwarten schmeckte es ihm. Auch Barbara löffelte den Teller leer und wischte ihn mit einem Stück Brot aus. Dann kuschelte sie sich an ihren Bruder, lehnte den Kopf an seine Schulter und gähnte herzhaft.

Gemeinsam mit ihnen am Tisch saßen der Schreinermeister Johann Stamitz, Bäckermeister Melchior Bernbeck, zwei Zimmerleute und drei Steinmetze. Sie priesen Simons Vater und leerten dabei einen Krug Wein nach dem anderen. Simon erging es kaum anders als seiner kleinen Schwester, die längst eingeschlummert war, auch er verspürte eine bleierne Müdigkeit. Doch dann horchte er auf.

»Anna, was hast du nun vor?«, fragte Stamitz.

»Ich werde das Haus verkaufen. Eigentlich sollte Simon einmal Gebhards Werkstatt übernehmen, aber daraus wird wohl nichts werden.« Ihre Stimme zitterte, die Trauer drohte sie zu überwältigen.

»Sag ihm, er soll bei den Steinmetzen anfragen. Zumindest lernt er dort, wie man welchen Stein bearbeiten muss und kann. Und wenn er die Begabung seines Vaters geerbt hat, dann wird er eines Tages ebenso kunstvolle Statuen erschaffen.«

Anna berührte Stamitz kurz an der Schulter. »Du bist ein guter Mensch, Johann. Aber die Steinmetze ziehen von Baustelle zu Baustelle, ich weiß nicht, ob das das Richtige für ihn ist. Er soll nicht auch noch von mir fortgehen.«

Einen Monat später wurde das Haus samt Werkstatt für zweihundert Gulden an einen Goldschmied veräußert, und Anna mietete ein kleineres Haus für sich und ihre Kinder. Das Geld aus dem Verkauf hütete sie wie einen Schatz und sparte, wo sie konnte, bis sie wusste, wie es mit ihr weitergehen sollte. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt und zu jung, um ewig Witwe zu bleiben. Niemals hatte sie damit gerechnet, dass Gebhard so früh von ihr gehen würde. Er war so stark und immer gesund und fröhlich gewesen. Und nun war er mit sechsunddreißig ins Grab gestiegen.

Nur eine kleine Wunde war es gewesen, die ihm den Tod gebracht hatte. Ein rostiger Nagel hatte Gebhards Schuhsohle durchbohrt und war in seiner Ferse stecken geblieben. Fünf Tage nachdem der Nagel herausgezogen worden war, hatten die Krämpfe begonnen. Anna hatte Gebhard zum Stadtarzt geschickt, doch dieser war hilflos gewesen. Gebhards Kiefer weigerten sich, sich vollständig zu öffnen, und es hatte ausgesehen, als lächle er. Ein geradezu teuflisches Grinsen war es gewesen. Sprechen war ihm unmöglich gemacht, und der nächste Krampf hatte seine Wirbelsäule bis aufs Äußerte durchgebogen. Schließlich war Gebhard jämmerlich erstickt.

Anna besaß nun genug Geld, um ihre Kinder durchzubringen. Gebhard hatte viele Gulden verdient und beiseitegelegt. In der Truhe auf dem Dachboden waren vierhundertfünfzig Gulden verstaut gewesen, und hinzu kam noch das erkleckliche Sümmchen aus dem Verkauf des Hauses. Aber all die Münzen würden nicht auf ewig reichen. Nahrung war teuer geworden, die Miete betrug zwanzig Gulden im Jahr, und eine Magd erhielt einen Jahreslohn von zwölf Gulden. Hinzu kamen noch Kosten für Brennholz, Kerzen, Kleidung und Schuhe. Simon schoss in die Höhe und brauchte allein zwei neue Paar Schuhe und Stiefel im Jahr, von den Hosen ganz zu schweigen. Sie würde arbeiten müssen. Oder neu heiraten.

Anna war das siebte und jüngste Kind ihrer Eltern, hatte vier Schwestern und zwei Brüder. Ihr Vater betrieb gemeinsam mit ihrer Mutter einen Gasthof in Passau. Dort war ihr einst Gebhard begegnet, der auf der Durchreise gewesen war. In den riesigen Wäldern der Gegend wurden verschiedenste Gesteine und Erze gewonnen, und Gebhard hatte sich selbst davon überzeugen wollen, ob diese gut genug für seine Bildhauerkünste waren.

Annas ältere Geschwister waren bereits ein paar Jahre aus dem Haus, nur sie – mit ihren fünfzehn Lenzen – wohnte noch in einer Kammer unter dem Dach und arbeitete als Schankmagd in der Wirtsstube. Der große Blonde mit den breiten Schultern war ihr gleich aufgefallen, als er den Schankraum betrat und mit einem Lächeln ein Bier und einen Teller Suppe orderte. Noch mehr als von seinen blitzenden blauen Augen war sie von den schmalen, langen Fingern beeindruckt gewesen. Hände, die zugleich zupacken konnten, aber auch zartfühlend aussahen. Gebhard war fast eine Woche geblieben, und Anna hatte jedem Abend entgegengefiebert, um dem Gast das Essen aufzutragen und sich, wenn Zeit blieb, kurz zu ihm zu setzen. Am letzten Tag hatte Gebhard, ohne lange zu überlegen, bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten und sie mit nach Würzburg genommen.

Seufzend flickte Anna das Kleid ihrer Tochter. Mehr schlecht als recht, befand sie, während sie das Ergebnis betrachtete. Als Schankmagd wollte sie nicht arbeiten, und zur Näherin taugte sie nicht. Also blieb ihr doch nur eine zweite Heirat.

Kurz vor Weihnachten starb die Frau des Bäckermeisters Melchior Bernbeck. Auf dem Weg zum Schneider war sie so unglücklich auf dem vereisten und schneebedeckten Kopfsteinpflaster ausgeglitten und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, dass sie drei Tage später ihren letzten Atemzug tat.

Mitfühlend legte Anna Reber beim Leichenschmaus ihre Hand auf die groben, kräftigen Finger des Witwers.

»Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Du musst jetzt stark sein für deine Kinder.«

 

Melchior legte seine andere Hand über die ihre und räusperte sich vernehmlich.

»Wiltrud war wieder guter Hoffnung, Anna. Das macht den Verlust umso schrecklicher. Die letzten beiden Schwangerschaften hatte sie verloren, und wir hatten schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, noch ein weiteres gesundes Kind zu bekommen.«

»Jesus Christus im Himmel, ich hatte ja keine Ahnung«, entfuhr es Anna und entzog ihm ihre Hand.

»Kaum jemand wusste davon, und unter dem dicken Wintermantel konnte man nichts erkennen.« Er schüttelte den Kopf, als könne er immer noch nicht begreifen, was geschehen war. »Wulf ist fünfzehn, alt genug, um ohne Mutter aufzuwachsen, aber Sibylla ist erst sieben, genauso alt wie deine Barbara.«

Anna nickte nur. Der Bäckermeister und seine Frau hatten viel verkraften müssen. Vor zwei Jahren waren drei ihrer fünf Kinder unter die Räder eines Fuhrwerks gekommen, als die Zugpferde durchgegangen waren und alles, was ihnen im Weg gewesen war, überrannt hatten. Wiltrud hatte diesen Schicksalsschlag nie verwunden. Aus der fröhlichen Bäckersfrau war ein zurückgezogenes, verhärmtes Weib geworden. Anna hatte alles versucht, um Wiltrud aufzumuntern, doch es war ihr nicht gelungen.

»Das Weihnachtsfest wird dieses Jahr kein Fest werden, dabei hat sich vor allem Sibylla so auf das Krippenspiel gefreut«, seufzte Melchior.

»Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam mit unseren Kindern die Feierlichkeiten begehen? Wir gehen in die Christmette und feiern dann das Ende der Fastenzeit«, schlug Anna vor. Melchior sah nicht so gut aus wie sein Bruder Gerfried, dafür besaß er ein Haus, auch wenn es nicht so groß wie das ihre war. Für die Dauer eines Lidschlags tauchte Gerfrieds Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Und mit ihm diese kurze und stürmische Begegnung in Gebhards Werkstatt vor langer Zeit. Einsam war sie gewesen, weil ihr Ehegatte sie, wie so oft, allein gelassen hatte, um sich nach Steinen umzusehen, die seinem Urteil standhielten, um neue Figuren daraus entstehen zu lassen.

Melchior schürzte die Lippen. »Warum nicht? Ja, das ist ein guter Einfall. Und für unsere Kinder wird es so bestimmt ein bisschen einfacher.«