Vage Sehnsucht

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Kai Sichtermann / Jens Johler

VAGE SEHNSUCHT

Der Bassist von TON STEINE SCHERBEN erzählt sein Leben

Unter Mitarbeit von Angie Olbrich

FUEGO

- Über dieses Buch -

Kai Sichtermann ist Bassist und Gründungsmitglied der legendären Agitrock-Band TON STEINE SCHERBEN. Er hat ihn von Anfang an miterlebt, den ganz normalen Scherben-Wahnsinn, von der ersten Schallplatte „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ bis zum Tod von Rio Reiser. In diesem Buch erzählt Kai sein Leben: Kindheit in Kiel, Schulversager, abgebrochenes Musikstudium, Umzug ins damalige West-Berlin, wo er Bassist der Scherben wurde; aber auch von seiner Zeit als Lastwagenfahrer, Raubdrucker, Büroangestellter, Töpfer, Gastronom, Discjockey, Hobbyastrologe und Drogenschmuggler ― und von seinen Liebesgeschichten.

„Vage Sehnsucht“ heißt auch ein Song, den TON STEINE SCHERBEN 1982 als Demoversion für die Album-Produktion „Scherben“ aufgenommen hatten, veröffentlicht 2017 auf der CD „Radio für Millionen“.

Vielen Dank an Ursula Anders, Sema Binia, Michael Habecker, Uli Mentz, Angie Olbrich, Ingo Rose, Lara Tunnat, Patricia Schindler, Wolfgang Seidel u.v.a.

ALLER ANFANG IST GEHEIMNISVOLL

Der eigentliche Anfang war bei mir nicht die Geburt, sondern die Zeugung. Und auch das stimmt nicht ganz. Da war noch etwas anderes. Ich sehe es noch genau vor mir. Ich bin ein feinstoffliches Wesen irgendwo im Jenseits, neben mir eine engelhafte Gestalt, die mir im Diesseits eine Frau und einen Mann zeigt, die meine zukünftigen Eltern sein sollen. Ich weiß, ich habe die Wahl Ja oder Nein zu sagen, überlege aber nicht lange und nicke. Irgendwie fand ich die beiden ganz okay. Wann diese Erinnerung in mir aufstieg, habe ich vergessen. – Nun aber zur Zeugung. 1986 habe ich bei Thorwald Dethlefsen in München eine Therapie begonnen. In deren Verlauf fiel ich durch beschleunigtes Atmen in einen Trancezustand und konnte meinen Eltern ganz deutlich von der Zimmerdecke aus beim Liebesakt zuschauen. Als ich meiner Mutter später im lockeren Plauderton davon erzählte, rief sie entsetzt aus: „wie indiskret!“. Ich gebe zu, das klingt alles etwas fantastisch, aber es ist die Wahrheit.

Meine richtige Geburt geschah am 6. März 1951 im Anschar-Krankenhaus in Kiels nördlichem Stadtteil Wik. Die Hebamme soll gesagt haben, „sieben Uhr sechs, ein Bub“. Gewohnt hat meine Familie damals in der Eckernförder Straße 20a, nicht weit entfernt vom Exerzierplatz, also ziemlich zentral. Im Haus befand sich ein Kino, aber das weiß ich nur aus Erzählungen. Etwas später sind wir an den Blücherplatz umgezogen, das ist die erste Wohnung, an die ich mich erinnern kann. Getauft wurde ich noch im selben Jahr zu Weihnachten in der Luther-Kirche am Kieler Schrevenpark; meine Eltern waren evangelisch. Meine beiden Schwestern, Barbara und Marie, waren acht beziehungsweise sieben Jahre älter als ich. Sie waren Wunschkinder, und das war ich auch, ich hatte allerdings noch eine spezielle Aufgabe; ich sollte die Ehe meiner Eltern retten. Das ist mir leider nicht gelungen. Kein Wunder, ein Jurist und eine Malerin, das konnte auf Dauer nicht gut gehen, zu wenig gemeinsame Interessen. Ich hab‘s nur ein bisschen hinauszögern können. 1956, ich war fünf Jahre alt, haben sich meine Eltern scheiden lassen; ich habe das damals gar nicht so richtig begriffen. „Ich verstehe das gar nicht, warum sind wir eigentlich geschieden“, soll ich meine Mutter später mal gefragt haben.

Meine ersten Lebensjahre habe ich in Kiel verbracht, der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein mit dem Hafen an der Ostsee. Ich liebe das Wasser, das Gekrei-sche der Möwen, die Schiffe, die salzige Luft und den Wind, wenn er sich nicht gerade zum Sturm entwickelt und einem tagelang wild um die Ohren bläst. Jahr-zehnte später habe ich zusammen mit Angie Olbrich das Ostseelied von Hildegard Knef aufgenommen. „Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit, mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß. Gib mir den salzigen Wind meiner Ostsee, das Jammern der Möwe, die hoffnungsvoll kreist.“

Mein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Jacob Möllgaard und war ein Bauernsohn aus Angeln, das ist ein Landstrich im Nordosten Schleswig-Holsteins. Von hier wanderte um 400 n. Chr. ein Teil der Bevölkerung auf die britischen Inseln aus – daher der Name Angel-Sachsen. Mein Urgroßvater gründete so um 1900 in der Hafenstraße in Kiel-Gaarden eine Fischräucherei, in der Sprotten geräuchert wurden. Damals war die Kieler Förde noch voll von diesen kleinen Fischen, die unter dem Namen Kieler Sprotten verkauft wurden. Die Sprotten wurden in Holzkisten verpackt, in die halbe Welt verschickt und auf diese Weise weltbekannt. Meine Oma hat mir davon erzählt, auch, dass sie dafür die Adressen schreiben musste. Von ihr kenne ich den Spruch „Kieler Sprott, halb verrott, Kopp und Steert, is nix wert“. Sie war eine richtige Bilderbuch-Oma, sehr verständnis- und liebevoll. Ich habe sie über alles geliebt. Manchmal durfte ich bei ihr übernachten, dann habe ich mit großer Begeisterung ferngesehen, Bonanza oder Kommissar Maigret, alles in schwarzweiß. Zu Hause, in meiner Familie, gab es während meiner gesamten Kinder- und Jugendzeit überhaupt keinen Fernseher. Das kann man sich heute kaum noch vorstellen.

Wenn ich mit der Straßenbahn in die City fuhr, hörte ich das Glockenspiel des Kieler Rathausturmes; um viertel nach ein Viertel der Melodie – um halb die Hälfte – um viertel vor Dreiviertel – und um voll die ganze Melodie. Meine Oma verriet mir den Text dazu, „Kiel hat kein Geld, das weiß die Welt, ob es was kricht, das weiß man nicht“. Es gab ein Ritual zwischen uns. Früh am Morgen stand sie auf und zog sich ihren Morgenmantel an. Ich war ein alberner Junge von vielleicht acht, neun Jahren und habe dann immer zu ihr gesagt: „Oma, das ist doch ein Morgenmantel, den darfst du doch erst morgen anziehen.“ Da hat sie geantwortet: „Du Ütz!“ Das heißt, glaube ich, so viel wie Schlingel oder Frechdachs. Gestorben ist sie im Sommer 1970.

In meiner frühen Kindheit gab es ein einschneidendes Erlebnis: Einen Sturz aus dem Kinderbett, durch den ich eine Gehirnerschütterung bekam. Aber der Sturz war eigentlich nicht das Schlimme. Ich bin zwar auf den Kopf gefallen, war aber kein Patient mit Dachschaden, so wie Jerry Lewis in dem Film. Wirklich schlimm war der Krankenhausaufenthalt, der folgte. Es war kurz vor Weihnachten 1952, ich war eindreiviertel Jahre alt. Unsere Ärztin gab meiner Mutter den verhängnisvollen Rat, mich in eine Kinderklinik zu geben, weil sie meinte, ich bräuchte Ruhe und müsste liegen. Dort hat man mich dann im Bett festgebunden. Meine Mutter durfte während der Besuchszeit nicht zu mir, sondern nur durch ein kleines Fenster gucken, und sie sah und hörte, wie ich immer den Kopf hin und her bewegte und „Mama, Mama!“ rief. Das war schrecklich für meine Mutter, aber sie traute sich nicht, gegen die Autorität der Ärzte anzugehen. Als mein Vater mich nach zwei Wochen aus dem Krankenhaus abholte, sagte er, „wir haben ein neues Kind bekommen.“ Und wirklich: Vor dem Klinikaufenthalt war ich ein lebhaftes und aufgewecktes kleines Kind, das interessiert an seiner Außenwelt Anteil nahm. Hinterher war ich introvertiert, verschlossen und wirkte oft abwesend. Ich weiß das aber alles nur aus Erzählungen. Kurze Zeit später bekam ich eine schwere Lungenentzündung. Ich wollte offenbar sterben. Doch die Antibiotika, die damals erst knapp zehn Jahre auf dem Markt waren, retteten mich. Meine Mutter erzählt, ich sei ein vollkommen anspruchsloses und wunschloses Kind gewesen. Einmal hätte sie mich gefragt, was ich mir zu Weihnachten wünschte; ich hätte mich ratlos im Zimmer umgesehen, mein Blick sei zufällig auf ein Glas mit Pinseln gefallen, und ich hätte gesagt „einen Pinsel“. Daraufhin war sie vollkommen begeistert und hat gedacht, endlich interessiert der Junge sich für etwas, und dann auch noch für Malerei! Also bekam ich einen wunderschönen Malkasten zu Weihnachten, habe ihn aber nie angerührt, nicht ein einziges Mal. Peter Handke hat das Buch über das Leben seiner Mutter Wunschloses Unglück genannt. Ich war auch ziemlich wunschlos, würde aber nicht generell sagen, dass ich unglücklich war. Ich war nur oft traurig, das kam bestimmt von diesem schrecklichen Krankenhausaufenthalt. Latent leide ich heute noch unter den Folgen, die Trauer ist mein ständiger Begleiter. Es fällt mir zum Beispiel schwer, mich zu verabschieden. Sogar, wenn ich bei einem Abschied gar nicht beteiligt bin, tut es mir weh. Ich stehe im Bahnhof und warte auf meinen Zug. Auf dem Bahnsteig gegenüber verabschieden sich zwei mir völlig unbekannte Menschen. Die Bahn fährt ab, der eine drinnen im Zug, der andere draußen auf dem Bahnsteig, sie winken einander zu. Und ich bin traurig, obwohl ich nur ein unbeteiligter Beobachter bin. Unbeteiligt, aber nicht ohne Empathie. Aber ich glaube inzwischen, Trauer ist ein wichtiger Baustein unseres Daseins. Der buddhistische Meditationsmeister Chögyam Trungpa sagt, „Das Ideal der Kriegerschaft besteht darin, traurig und sanft zu sein, nur dadurch kann der Krieger auch mutig sein. Ohne diese tiefe Traurigkeit ist der Mut brüchig wie Porzellan. Der Mut des Kriegers ist wie eine chinesische Lackschale: Holz unter dünnen, elastischen Lackschichten. Lässt man solch eine Schale fallen, dann zerbricht sie nicht, sondern federt zurück. Sie ist hart und weich zugleich.“ Als ich diese Sätze las, war ich wie befreit. Innere Traurigkeit kannte ich ja aus Erfahrung, aber sie als Tugend und Stärke zu verstehen, das war neu für mich. Ich bin mit Leitsätzen aufgewachsen wie „Ein Junge weint nicht“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“.

 

Die allerfrühesten Erinnerungen meiner Kindheit sind vermischt mit der Vorstellung von Nichtzugehörigkeit. Das war wirklich seltsam. Ich glaubte, alle meine Mitmenschen würden mir etwas vorspielen und die Welt wäre in Wirklichkeit ganz anders, auch wenn ich nicht wusste, wie. Als hätten sich alle Menschen untereinander abgesprochen und ich wäre ihr Versuchsobjekt. Ungefähr vierzig Jahre später sah ich im Kino The Truman Show. Ich war vollkommen perplex! Offenbar gab es Menschen, die ähnliche Gedanken hatten wie ich, wenn auch etwas anders gelagert. Truman ist Hauptdarsteller einer Fernsehserie, ohne dass er selbst davon etwas ahnt – anfangs jedenfalls. Ich konnte mich sofort in ihn hineinversetzen, weil ich es aus eigener Erfahrung kannte. Auch wenn in meiner Fantasie keine TV-Show vorkam, war es für mich ein faszinierendes Aha-Erlebnis. Der Unterschied zwischen mir und Truman war allerdings, dass ich das Gefühl hatte, alle spielen mir etwas vor, obwohl es nicht so war, während Truman das Gefühl hat, sie sind echt, obwohl sie alle nur Darsteller der Fernsehshow sind – genau spiegelverkehrt.

Eines Morgens – es muss so in meinem fünften oder sechsten Lebensjahr gewesen sein, ich ging jedenfalls noch nicht zur Schule – lag ich allein im Bett; ich wachte auf, die Sonne schien ins Zimmer und die Vorhänge bewegten sich leicht im Wind, der sanft durchs offene Fenster wehte. Alles war wunderschön. Ich war entzückt von dem, was ich sah. Nie zuvor hatte ich die Welt so wahrgenommen. Ein tiefer innerer Friede erfüllte mich. Ich habe dieses Erlebnis nie vergessen, weil es so besonders und so eindringlich war. Erst nach der Jahrtausendwende habe ich in einem Buch gelesen, dass solche besonderen spirituellen Zustandserfahrungen auch oder gerade bei Kindern nicht ungewöhnlich sind. Die Mystiker berichten von ähnlichen Erfahrungen. Jakob Böhme sah auf einem silbernen Teller die Spiegelung des Sonnenlichts, und auf einmal umgab ihn eine solche Helligkeit, dass er vor Begeisterung aus dem Haus lief, aus der Stadt hinaus und in die freie Natur. Und in diesem erleuchteten Zustand erkannte er, dass alle Dinge ihre Signatur haben, ihre Sprache oder ihre ganz eigene Melodie. Der spirituelle Lehrer Eckhart Tolle litt an schweren Depressionen, und als er zu dem Schluß kam „ich kann mit mir selbst nicht weiterleben“ durchdrang ihn die jähe Erkenntnis, dass es ein ICH und ein SELBST gibt. Diese Erkenntnis ging ihm buchstäblich über den Verstand. Er wurde plötzlich von einem Energiewirbel ergriffen, verlor das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, hatte er ein neues höheres Bewusstseinslevel erreicht; seitdem lebt er in einem Zustand tiefen inneren Friedens, wohl so etwas wie Glückseligkeit.

In meinem Kinderbett am Blücherplatz in Kiel hörte ich abends vor dem Einschlafen einige Male, wie jemand aus der Ferne ein melodisches Instrument spielte. Wahrscheinlich war es eine Klarinette. So schön, so intensiv. MUSIK. Da berührte sie mich zum ersten Mal richtig. Als ich sieben Jahre alt war, führten meine beiden Schwestern zusammen mit ihren Schulfreundinnen ein Theaterstück auf; es hieß Das Bambus-Kind und beruhte auf einem alten japanischen Märchen. Ich wurde als japanisches Mädchen zurechtgemacht und durfte mitspielen.


Kai als Bambus-Kind (© Archiv Kai Sichtermann)

Während der Aufführung wurde der Bolero von Maurice Ravel von einer Langspielplatte eingespielt. Ich war völlig hin und weg. Diese Musik hat mich total beeindruckt. Ravel schrieb das Stück für eine russische Tänzerin. Später soll er dazu gesagt haben, „Ich habe nur ein Meisterwerk gemacht, das ist der Bolero; leider enthält er keine Musik.“ Ich weiß nicht genau, was er damit meint, vielleicht, dass immer dasselbe Motiv wiederholt wird, jeweils von einem anderen Instrument, oder dass der Rhythmus immer gleich bleibt. Für mich ist der Bolero einfach grandios, ich bin immer noch wie verzaubert, wenn ich ihn höre. Aber es gab bei uns zu Hause damals noch eine zweite wichtige Langspielplatte, Lotte Lenya singt Kurt Weill. Abgesehen von den großartigen Brecht-Weill-Songs und der einmaligen Interpretation Lotte Lenyas hat mich auch das Plattencover beeindruckt, auf dem Lotte Lenya als Jenny in der Dreigroschenoper zu sehen ist. Das Besondere daran war, dass sie ein bisschen nuttig oder ordinär aussieht, ich glaube, das wars, was mich angezogen hat.

Zum Glück und zu meiner Freude wurde bei uns zu Hause auch gesungen, vor allem in der Adventszeit und zu Weihnachten. Es gehörte sozusagen zum guten Ton, Weihnachtslieder zu singen. Ich mochte das sehr und habe gerne mitgesungen. Einige der Stücke hat meine Schwester Barbara mit mir auf der Blockflöte eingeübt, ja, das war mein erstes Instrument. Mein Vater hat seine Geige ausgepackt und Pizzicato gespielt, also gezupft, und auch das hat mir gefallen. Meine Schwestern haben überhaupt oft gesungen, bei ihren Treffen mit den Wandervögeln oder auch einfach nur beim Abwaschen in der Küche. Alles Mögliche haben sie geträllert, auch Heimat- und Küchenlieder, und dabei haben sie sich manchmal halb totgelacht. Und dann gabs noch die Spielmannszüge, die damals immer am 1. Mai durch die Stadt marschierten, mit Blasinstrumenten und großer Trommel; ich bin jedes Mal begeistert mitgelaufen. Durch meine Schwestern kam ich in Kontakt mit Jazz und Rock’n’Roll; Chris Barber und Louis Armstrong waren die ersten Jazz-Musiker, die ich hörte, Ice Cream, Down by the Riverside, When the Saints Go Marchin’ in. Beim Rock’n’Roll waren es Buddy Holly, Chuck Berry und natürlich Elvis Presley; Heartbreak Hotel und Hound Dog sind die ersten Elvis-Songs, an die ich mich erinnere, später noch Jailhouse Rock. Ich bin also schon in frühester Kindheit auf Rock’n’Roll abgefahren.

Chuck Berry und Elvis, das wusste ich damals natürlich noch nicht, waren Rebellen, auch wenn Elvis für meinen Geschmack nicht revoluzzermäßig aussah. Elvis förderte mit seiner Musik die Aufhebung der Rassentrennung, indem er die schwarzen Musikstile wie Blues und Rhythm & Blues mit weißen Country & Western-Elementen verband. Er interpretierte Songs schwarzer Künstler und bewegte sich wie sie, was damals ein Skandal war. Aber Elvis hatte natürlich seine Vorläufer. Schon mit Rock Around The Clock von Bill Haley, dem Song aus dem Film Die Saat der Gewalt, hatte die Rock-Rebellion begonnen. Die Haley-Single gehört zu den meistverkauften Hits aller Zeiten. Sie war ’55 in Amerika „die“ Hit-Sensation und bei uns mit der üblichen Verspätung ebenso. Übrigens wurde in Deutschland anfangs zwischen Jazz und Rock’n’Roll noch gar nicht unterschieden. Die legendäre Deutschlandtournee von Bill Haley im Jahre 1958 wurde als Jazzkonzert angekündigt. Den ersten Teil bestritt das Orchester Kurt Edelhagen mit dem Sänger Bill Ramsey, das war sauberer Bigband-Jazz, im zweiten Teil trat dann Bill Haley auf – aber in Berlin und Hamburg hatten die Fans schon keine Lust mehr auf den braven Bigband-Jazz und fingen an zu randalieren. Als Bill Haley endlich auf die Bühne kam, geriet endgültig alles außer Rand und Band. Die Konzerte wurden abgebrochen, die Fans fühlten sich betrogen, und draußen kam es zur Schlacht mit der Polizei. Am nächsten Tag beeilten sich die Repräsentanten der Jazz-Szene zu beteuern, Rock’n’Roll habe nichts mit Jazz zu tun. Dabei hatte es drei Jahre zuvor noch Krawalle bei Konzerten mit Louis Armstrong gegeben. Aber von nun an war der Jazz brav, angepasst und gesellschaftsfähig, und die Rolle der Rebellion übernahm endgültig der Rock’n’Roll. Er lieferte damit auch die musikalische Grundlage für die Revolte der 60er-Jahre. Einer meiner Lieblingssongs aus jener Zeit ist der Klassiker Roll Over Beethoven von Chuck Berry. Er erzählt oder besingt darin, wie sehr er auf Rock’n’Roll-Musik abfährt, dass die klassische Musik à la Beethoven davon überrollt wird, und er fügt hinzu, man solle auch gleich noch Tschaikowski Bescheid sagen. Auf der Original-Single von 1956 spielt übrigens Willie Dixon Kontrabass, einer der bedeutendsten Bluesmusiker ever. Daran sieht man, wie sehr der Rock’n’Roll mit dem Blues verwoben ist. Chuck Berry machte sich auch Gedanken über das Gemeinwohl; durch Too Much Monkey Business durften sich all jene angesprochen fühlen, die von sich sagen konnten, „irgendwie bin ich mit meiner Gesamtsituation unzufrieden“. Elvis hat den Song natürlich auch gesungen.

Ende der ’50er Jahre wurde das Radio ein wichtiges Medium für mich, dem ich jahrzehntelang treu blieb. Ich habe sehr viel gehört, hauptsächlich Musiksendungen, das waren überwiegend deutsche Schlager, aber auch hin und wieder englische Titel. Später, in den ’60er-Jahren, hatte ich ein kleines Röhrenradio der Marke Philetta und stellte gerne über Mittelwelle Radio Luxemburg ein. Der Sender war zwar meistens verrauscht, aber ich konnte trotzdem den englischsprachigen Titeln lauschen und war happy. Und wenn ich es irgendwie schaffte die Schule zu schwänzen, hörte ich vormittags im NDR den Schulfunk. „Neues aus Waldhagen“ mit Bauer Piepenbrink war meine Lieblingssendung.

Ich weiß nicht mehr genau, wann wir den ersten „modernen“ Plattenspieler bekamen, er war auf jeden Fall integriert in eine Musiktruhe, eine Kombination aus Radio und Plattenspieler. Eine der frühesten 45er-Singles, die es bei uns zu Hause gab, war der Banana Boat Song von Harry Belafonte. Ich habe die Platte wieder und wieder gehört, obwohl ich kein Wort verstand. Zu meinem siebten Geburtstag bekam ich meine erste eigene Single geschenkt, Buona Sera auf Deutsch gesungen. Mann, hab ich mich gefreut! Das Original ist von Louis Prima, meine deutsche Version war von Ralf Bendix. Ein Jahr später erschien das zweite deutschsprachige Lied, das mich aufhorchen ließ, Kriminal-Tango vom Hazy-Osterwald-Sextett; alles, was in Kriminal-Tango besungen wird, fand ich stark, „Kriminal-Tango in der Taverne, dunkle Gestalten, rote Laterne. Glühende Blicke, steigende Spannung, und in die Spannung, da fällt ein Schuss.“ Es gab in Kiel so ein verrauchtes Lokal, in dem ich zwar nie drin war, damals schon gar nicht, aber es hatte so eine gewisse Ausstrahlung, und die Leute, die da rauskamen, das waren für mich solche dunklen Gestalten. Eine andere Kneipe, die meine Fantasie anregte, befand sich in der Puffgegend am Hafen. Ich stellte mir vor, dass dort so etwas geschehen könnte, was in dem Lied besungen wird. Meine Affinität zur Halbwelt, zum Rotlichtmilieu, hat hier ihre Wurzeln; ich hatte schon früh eine gewisse Abneigung gegen die vermeintlich heile bürgerliche Welt. Obwohl ich nie wirklich dauerhaft in diesen lasterhaften Kreisen verkehrt habe, hat mich das Milieu immer irgendwie angezogen und fasziniert.

Die relativ unbeschwerte schulfreie Kindheit ging zu Ende, und es folgte ein würgender Schraubstock, eine große Qual für alle Beteiligten, für meine Eltern, für die Lehrer und für mich: SCHULE. Vermutlich weil ich ein Träumer war und mit der damals noch ziemlich strengen Schuldisziplin nichts anfangen konnte. Wenn der Lehrer für den nächsten Tag ein Diktat ankündigte, auf das wir uns vorbereiten sollten, hatte ich das zu Hause längst wieder vergessen und fiel aus allen Wolken, wenn dann die Hefte für das Diktat ausgeteilt wurden. Alle anderen wussten, worum es ging, ich hatte keine Ahnung, und das Ergebnis war entsprechend. Den Wandertag habe ich verpasst, weil ich mit dem Ranzen vor der Schule stand, während alle anderen schon irgendwo unterwegs waren. Ich hatte einfach keinerlei Ehrgeiz und war immer ein schlechter oder allenfalls mittelmäßiger Schüler. Vielleicht lag es daran, dass ich damals aus dem Bett gefallen bin. „Der ist nicht auf den Kopf gefallen“, sagt man über jemanden, der von schneller Auffassungsgabe ist, ich aber WAR auf den Kopf gefallen und entwickelte mich im Vergleich zu den anderen extrem langsam, ich war ein Spätentwickler. Bei einem Test, den meine Eltern mit mir durchführen ließen, stellte man Legasthenie und Dyskalkulie fest – zu Deutsch Lese- und Rechtschreibstörung sowie Rechenschwäche. Deswegen wurde ich auch erst mit sieben Jahren eingeschult, also 1958. Heute sind diese Schwächen bei den Schulbehörden allgemein anerkannt und werden bei der Notenvergabe berücksichtigt, aber zu meiner Zeit gab es das nicht, ich war eben einfach der Dumme. Immerhin hatte mein Vater das Problem erkannt und mich sanft dazu gedrängt, jeden Tag ein paar Seiten aus einem Buch zu lesen. Ich hatte vorher schon die Sagen des klassischen Altertums gelesen, wenn auch nicht regelmäßig. Nun empfahl er mir die Werke von Karl May. Nach anfänglichem Zögern kam ich schnell in einen gewissen Sog, den wohl die meisten Karl May-Leser kennen. Mit Winnetou I fing ich an, und im Laufe der Jahre habe ich bestimmt an die zwanzig Romane von Karl May gelesen. Und dann gab es natürlich die Micky Maus-Hefte, die hatte ich sogar abonniert, dafür habe ich einen Großteil meines Taschengelds hergegeben. Onkel Dagobert, der sein Vermögen abwechselnd gegen die Attacken von Gundel Gaukeley und den Panzerknackern schützen mußte; Daniel Düsentrieb mit seinem kleinen Helferlein, einer Glühbirne mit Gliedmaßen; und Donald Duck mit seinen Neffen Tick, Trick und Track – ach, ich habe sie alle geliebt. Und wenn Kater Karlo mit Kumpel Schnauz seinem Widersacher Micky Maus eine Falle stellte und ihn mit den Worten „Kleiner Schreck in der Morgenstunde!“ empfing, dann war die Welt für mich ganz einfach in Ordnung. Ein anderes Problem war, dass ich Linkshänder bin. Mein Lehrer in der ersten Klasse, Herr Enz – er hatte eine Brille mit einem Milchglas, so dass man immer nur ein Auge von ihm sah, das einen streng anschaute -, hat mich gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben. Meine Mutter versuchte zwar zu intervenieren, aber vergebens. Heute weiß man, dass so eine erzwungene Umstellung alles andere als förderlich ist. Aus all diesen Gründen konnte von Freude und Lust am Lernen keine Rede sein, für mich bedeutete Schule immer nur Druck und Stress. Ein weiterer Aspekt dieses Horrorszenarios war die Prügelstrafe. Wir waren eine gemischte Klasse mit knapp vierzig Kindern, hinten im Klassenzimmer stand ein Schrank, in dem sich ein Rohrstock befand. Die Jungen mussten sich über den Schreibtisch des Lehrers beugen und bekamen die Stockhiebe auf den Hintern, die Mädels mussten ihre Hände mit den Handflächen nach oben ausstrecken, um darauf geschlagen zu werden. Warum geschlagen wurde, weiß ich nicht mehr genau. Ich vermute, wegen aller möglichen Anlässe, nicht gemachte Hausaufgaben, Störung des Unterrichts, Schwänzen der Schule. Aber da ich ein relativ braver Schüler war, jedenfalls in den ersten vier Grundschuljahren, bin ich selber nie geprügelt worden. Ich bin oft gefragt worden, ob meine Eltern mal daran gedacht hätten, mich auf eine andere Schule zu schicken, auf eine Waldorfschule zum Beispiel. Ja, das haben sie, aber ich glaube, mein Vater scheute die Kosten; Waldorfschulen müssen privat bezahlt werden, jedenfalls, wenn die Eltern es sich leisten können. Immerhin gab es während der ersten zwei Grundschuljahre noch ein paar Lichtblicke. Einer davon war mein Roller, ein hellblauer Tretroller mit richtigen dicken Luftreifen, den ich sehr geliebt habe. Ich war mobil, bin durch halb Kiel gerollert und oft mit der Straßenbahn um die Wette gefahren. Während der Fahrt war die Straßenbahn schneller als ich, aber wenn sie an den Haltestellen stoppen musste, konnte ich aufholen. Trotzdem habe ich immer verloren, wenn auch nur knapp. Die Straßenbahn hatte drei Wagen, vorne im ersten saßen meist ältere Herrschaften und Frauen mit kleinen Kindern, im mittleren saßen die angepassten Schlips- und Kragenträger, und hinten im letzten Wagen trafen sich die rauchenden Typen aus dem Arbeitermilieu. Obwohl ich gerne dem Fahrer ganz vorn zuschauen mochte, stieg ich meistens in den hinteren Wagen.

 

Ein anderer heller Streifen am Horizont des Lebens war das kleine Häuschen in Angeln, direkt an der Schlei, das meine Mutter sich nach der Scheidung zusammen mit ihrem zweiten Ehemann O.B. kaufte, als ich sieben Jahre alt war; O.B. war die Abkürzung für Onkel Blaue, das hatten meine beiden Schwestern sich ausgedacht. Eigentlich hieß er Alwin Blaue und war ein ziemlich bekannter Bildhauer und Maler. Die Schlei, auch Tochter der Ostsee genannt, ist ein circa vierzig Kilometer langer Meeresarm zwischen Kiel und Flensburg, in Schweden würde man sagen, ein Fjord. Das Wasser ist salzig, aber nicht so salzig wie das der Ostsee, weil es sich mit dem Süßwasser aus kleineren Zuflüssen vermischt, deswegen spricht man von Brackwasser. In dem kleinen Häuschen an der Schlei gab es außer Elektrizität nur Natur pur. Wasser mussten wir mit’m Eimer vom Brunnen des Nachbarn ranschleppen, das war hauptsächlich mein Amt. Als Toilette diente ein Plumpsklo, und geheizt wurde mit Holz und Kohle in einem alten Böllerofen. Die kleine Zufahrtsstraße bestand aus Sand und Schotter. Ach, war das schön urig! Ich habe dort wundervolle Wochenenden und Ferien verbracht. Jeden Sommer haben wir in der Schlei gebadet, schon morgens, noch vor dem Frühstück; wenn meine Mutter dann hinterher erfrischt aus dem Wasser stieg, schwärmte sie oft, „das Zweitschönste auf der Welt ist ein Bad in der Schlei.“ Ein paar Mal habe ich sie gefragt, was denn das Schönste sei, bekam aber als Antwort immer nur ein vielsagendes Lächeln.

Wir hatten ein kleines Ruderboot, das hieß Auguste, mit dem war ich viel auf der Schlei unterwegs. Einmal bemerkte ich, wie sich ein Segelboot mit seinem langen Kiel auf einer Sandbank festgefahren hatte. Bald darauf kam ein großer Schlei-Dampfer, der bereit war, das Segelboot herauszuziehen. Da ich mit Auguste ganz in der Nähe war, wurde ich per Zeichensprache und mit lauten Zurufen gefragt, ob ich das dicke Tau, das zum Abschleppen nötig war, vom Schlei-Dampfer zum Segelboot bringen könnte. Ich ruderte zum Dampfer, übernahm das Tau, das von oben herabgelassen wurde, ruderte es zum Segelboot, und dann konnte die Abschleppaktion beginnen. Und sie gelang. Mann, war ich stolz, an solch einer Hilfsaktion beteiligt zu sein! Außer den Wasseraktivitäten gab es noch Federballspielen, zusammen mit einem Nachbarjungen Gänsehüten, am Lagerfeuer sitzen, Feste feiern und singen. Manchmal habe ich auch auf den Bauernhöfen im Dorf bei der Heu- oder Kartoffelernte mitgeholfen, und einige Male bin ich sogar Trecker gefahren. Ich lernte auch Angeln, mit Angelhaken und Regenwürmern, habe Aale, Barsche und Plötze rausgeholt. Anders als heute, machte es mir damals nichts aus, die Fische aufzuschneiden, auszunehmen und meiner Mama mitzubringen, damit sie mir meinen Fang zum Abendessen braten konnte.

Die Landbevölkerung in Angeln sprach Plattdeutsch, jedenfalls untereinander. Der Nachbar unseres kleinen Häuschens, Opa Hansen, sprach nur Platt. Wenn ich ihn morgens typischerweise mit einem freundlichen „Moin“ begrüßte, antwortete er stets mit einem lang gezogenen „Mooiiiin“, quer durch die Tonleiter, das war schon fast eine halbe Sinfonie. Opa Hansen hatte den Schalk im Nacken und war immer für ein Späßchen gut. Wenn meine Mutter ihn nachmittags zu Kaffee und Kuchen einlud und ihn nach einer Weile fragte, „na, Opa, schmeckt’s denn?“, antwortete er schlagfertig „ick heff noch gornich too schmeckt.“ Das heißt auf hochdeutsch „ich hab noch gar nicht hingeschmeckt.“ Plattdütsch ist ja kein Dialekt, wie man annehmen könnte, sondern eine eigene Sprache. Ich habe diese Sprache damals ein bisschen gelernt, nicht perfekt, doch immerhin so viel, dass ich einer niederdeutschen Theateraufführung folgen kann. Meine Mutter hat sich sehr mit dieser Sprache beschäftigt. Deswegen lagen in unserem Häuschen auch ein paar plattdeutsche Bücher rum. Eines davon hieß Dat harr noch leger warn kunnt, der Titel gefiel mir. Später, als ich Angie kennenlernte, habe ich ihr diesen Satz vorgetragen und sie gefragt, ob sie ihn versteht. Sie hat kurz überlegt und dann vorsichtig geantwortet, „der Hahn noch mehr Eier legen kann?“ Die richtige Antwort wäre gewesen, „das hätte noch schlimmer kommen können.“ Alles in allem waren diese Besuche in Angeln an der Schlei immer wundervoll, ein Hauch von Bullerbü-Romantik – ich denke gern daran zurück.