Stolz ohne Vorurteil

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Stolz ohne Vorurteil
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Jana Zöller

Stolz ohne Vorurteil

Warum wir Menschen in Schubladen stecken und wie sie da wieder rauskommen


Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.




Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0403-5

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0414-1

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stttgart

Covermotiv: Lifestyle Travel Photo / shutterstock.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt

Einleitung – Oder: Warum wir Menschen in Schubladen stecken und wie sie da wieder rauskommen

Warum brauchen wir Vorurteile?

Sind Vorurteile unbegründet?

Kann ich tolerant sein – trotz Vorurteilen?

Was will dieses Buch?

1. Kapitel • Die Kanaken – Oder: Warum nicht nur der Döner zu Deutschland gehört, sondern auch der Dönermann

Warum haben türkischstämmige Menschen hier einen so schlechten Stand?

Durch kulturelle Unterschiede entstehen schnell Missverständnisse

Wie der Glaube an Gott die Integration erschweren kann

Sind Muslime eine Gefahr für die deutsche Kultur?

Frauen mit Kopftuch sind nicht gleich unterdrückt

Auch türkischstämmige Menschen schätzen Deutschland

2. Kapitel • Die Penner – Oder: Warum es nur ein Mythos ist, dass in Deutschland niemand auf der Straße leben muss

Wann gilt man in Deutschland eigentlich als obdachlos?

Erkenne ich Wohnungslose und Obdachlose sofort?

Wie wird man wohnungslos oder gar obdachlos?

Werden nur Ungebildete obdachlos?

Staatliche Hilfen muss man annehmen können

Notunterkünfte bedeuten oft mehr Probleme als eine Lösung

Wie gehe ich am besten mit Obdachlosen um?

3. Kapitel • Die Flittchen – Oder: Warum nicht alle »Professionellen« aus ihrer misslichen Lage gerettet werden müssen

Wie viele Prostituierte gibt es in Deutschland?

Werden Prostituierte immer zum Sex gezwungen?

Prostituierte führen oft ein Doppelleben

Würde es helfen, Prostitution abzuschaffen?

Können die Frauen »gerettet« werden?

Auch Pornodarstellerinnen werden schnell verurteilt

4. Kapitel • Die Homos – Oder: Warum schwul zu sein keine Entscheidung ist

Woran erkennt man einen schwulen Mann?

Ist Homosexualität angeboren?

Was bedeutet Homophobie?

Sich nicht zu outen bedeutet ständiges Verstecken

Wie weiblich darf ein schwuler Mann sein?

5. Kapitel • Die Babymörder – Oder: Warum nicht nur Jugendliche abtreiben, die zu dumm zum Verhüten sind

Verhütung ist keine Garantie

Es gibt keine gute Entscheidung, sondern nur eine weniger schlechte

Es treiben nur junge Leute ab, die nicht richtig aufgeklärt worden sind

Ungewollt schwanger werden Singlefrauen, die zu viel und zu unvorsichtig durch fremde Betten hüpfen

Frauen treiben ab, weil sie keine Lust auf Kinder haben

Ungewollt schwanger werden ist was für Dumme

6. Kapitel • Die Behinderten – Oder: Warum Menschen mit Behinderung oft weniger behindert sind als Menschen ohne Handicap

Berührungsängste schränken viele mehr ein als ihre Behinderung

Viele geistig Behinderte sind besonders engagiert

Sind kostenlose Trisomietests Fluch oder Segen?

»Das könnte ich nie«

Müssen Menschen mit Behinderung bemitleidet werden?

Menschen mit niedrigem IQ können trotzdem intelligent sein

7. Kapitel • Die Psychos – Oder: Warum psychisch Kranke noch alle Tassen im Schrank haben

Eine psychosomatische Klinik ist kein Trauerladen

»Einfach weniger zu arbeiten« ist gar nicht so einfach

Wie bekommt man Burn-out?

Den meisten Menschen merkt man eine psychische Erkrankung erst mal nicht an

Kann jeder Depressionen bekommen?

Kann aus jedem Stimmungstief eine Depression werden?

Kann reden helfen?

Werden Patienten mit Psychopharmaka einfach ruhiggestellt?

Kann man Depressionen überhaupt heilen?

8. Kapitel • Die Dicken – Oder: Warum es saublöd ist, andere »fette Sau« zu nennen

Drei Gruppen, eine Gemeinsamkeit: Dicke Menschen werden zur Zielscheibe

9. Kapitel • Die Dürren – Oder: Warum es nicht hilft, Magersüchtigen ein Stück Pizza in den Mund zu schieben

Sind Formate wie »Germany’s Next Topmodel« schuld an Essstörungen?

Magersucht wird häufig als »Modeerscheinung« abgetan

Fällt es dem Umfeld nicht auf, wenn jemand hungert?

Wer erkrankt an Magersucht?

Ist Magersucht eine Frauenkrankheit?

 

10. Kapitel Die Rabenmütter – Oder: Warum das Beste fürs Kind nie gut genug ist

Wie schnell sollte eine Mutter nach der Geburt ihres Kindes wieder arbeiten?

Warum bekommen die Deutschen immer weniger Kinder?

Man kann nur vermissen, was man nicht hat

Mama muss immer alles geben

Fazit – Oder: Wie mir die TV-Sendung »Der Bachelor« bei der Bewältigung meiner Vorurteile hilft

Danksagung

Einleitung — Oder: Warum wir Menschen in Schubladen stecken und wie sie da wieder rauskommen

Würdest du eine Frau als Babysitterin engagieren, die vorher als Prostituierte gearbeitet hat? Findest du es ganz normal, wenn sich zwei Männer leidenschaftlich küssen? Würdest du bei einem Rohrbruch lieber Sanitär Özdemir als Sanitär Meier anrufen? Hältst du dicke Menschen für genauso diszipliniert wie dünne? Und würdest du als Arbeitgeber jemanden einstellen, der schon mal einen Burn-out hatte?

Wenn du all diese Fragen mit Ja beantwortet hast, ist dieses Buch vermutlich nicht das Richtige für dich. Wenn du aber auch nur bei der einen oder anderen Frage gezögert hast, bis du hier goldrichtig. Bist du tolerant? Ich sage dir ganz ehrlich: Ich bin es nicht. Das klingt jetzt hart und ist auch nur ein Teil der Wahrheit. Ich bin weder rechtsradikal noch homophob, sondern halte mich für aufgeschlossen gegenüber anderen Lebensformen und Menschen. Aber meine Toleranz hat genauso Grenzen wie die jedes anderen Menschen auch. Zum Beispiel, wenn ich mit Veganern gemeinsam grille (bei allem Respekt für ihre Lebensform) und sie mir dabei eine Szene machen, wie ich nur mein Bio-Hühnchen auf das gleiche Rost wie ihre Tofu-Wurst legen kann (»Bah, die soll nicht neben dem toten Tier liegen«) – da hört meine Toleranz auf.

Jeder von uns hat Vorurteile. Müssen wir uns deswegen schlecht fühlen? Womöglich manchmal, wenn wir anderen damit schaden. Aber sie sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes.

Warum brauchen wir Vorurteile?

Ich möchte dem Begriff »Vorurteil« einmal kurz seine ausschließlich negative Behaftung nehmen, denn im Kern bedeutet er, dass man sich ein Urteil erlaubt, bevor man einen Menschen oder eine Situation wirklich einschätzen kann. Und das geht für uns überhaupt nicht anders: Wir müssen Menschen und Dinge in Schubladen stecken, damit unsere Welt funktioniert. Wenn wir bei jedem Menschen, den wir treffen, oder bei jedem Handgriff, den wir tun, hinterfragen würden, ob jemand oder etwas gut oder schlecht ist, würden wir unsere gesamte Lebenszeit mit Sortieren verbringen. Da wir weder die Zeit noch die Nerven dazu haben, müssen wir also darauf zurückgreifen, was wir selbst schon einmal erlebt haben oder aber von anderen Menschen, in den Medien oder sonst irgendwo darüber gehört haben.

Dieses Schubladendenken ist dabei kein Phänomen der Neuzeit, sondern tief in unserer Evolution verwurzelt. So hat zum Beispiel das Gehirn eines Steinzeitmenschen Dinge in Schubladen sortiert wie: »großes Tier bedeutet Gefahr«. Gott sei Dank kam der Steinzeitmensch voreilig zu diesem Urteil, denn: Hätte er erst bei jedem großen Tier unvoreingenommen geschaut, ob es ein liebes oder ein gefährliches Tier ist, hätte die Menschheit vermutlich nicht überlebt.

Sind Vorurteile unbegründet?

Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Die meisten Vorurteile haben irgendwo ihren Ursprung. Die Annahme, dass die Deutschen besonders ordentlich und pünktlich sind, kommt zum Beispiel daher, dass viele Deutsche im Verhältnis zu Menschen anderer Nationen tatsächlich besonders sauber und pünktlich sind. Das erfährt man spätestens, wenn man in Afrika die Berge von Müll an den Straßenrändern sieht oder merkt, dass in der Türkei keine verlässlichen Fahrpläne existieren, sondern der Bus dann kommt, wann er eben kommt. Trotzdem zeigt diese Annahme über Deutsche, dass es sich dabei nur um ein Vorurteil handelt: Sicher kennst du mehr als nur einen, der weder ordentlich noch pünktlich ist.

Der wahre Kern offenbart sich bei Vorurteilen oft darin, dass eine Annahme auf mehrere Menschen einer Personengruppe zutrifft. Diese Annahmen können übrigens sowohl positiv als auch negativ sein. So sind zum Beispiel viele schwarze Menschen gute Läufer, viele Frauen frieren schnell und ja, tatsächlich trifft auf einige Universitätsbesucher auch der Spruch zu: »Gelfrisur und Polohemd, ich bin ein BWL-Student.« Aber nur, weil es mehrere Menschen gibt, die sich in bestimmten Punkten ähnlich sind, treffen die Annahmen in den seltensten Fällen gleich auf eine gesamte Personengruppe zu.

Entscheidend bei der Frage nach Vorurteilen ist oft, ob man die Erfahrungen selbst gemacht hat oder ob sie auf dem Hörensagen basieren. In den allermeisten Fällen sind Vorurteile gesellschaftlich gewachsen. Wir lernen schon als Kinder, dass man einen Mann an kurzen und eine Frau an langen Haaren erkennt, dass man vor Spinnen Angst hat, aber Marienkäfer bedenkenlos auf die Hand nehmen kann oder dass die Farbe für »echte« Jungs Blau ist, während Mädchen Rosa lieben. Alles, was davon abweicht, ist zunächst einmal »nicht normal« – und das führt oft zu einer negativen Bewertung. Was wir kennen, gibt uns Sicherheit, während wir Unbekanntem oft skeptisch gegenüberstehen, weil es uns unsicher macht. Das hat nicht zwangsläufig etwas mit der Erziehung durch Eltern, Lehrer oder andere Bezugspersonen zu tun, sondern ist zum Teil auch eine angeborene Skepsis gegenüber allem, was wir nicht kennen. Ich kann mich zum Beispiel daran erinnern, dass ich einen schwarzen Kinderarzt hatte. Als ich sehr klein war, wollte ich mich nicht von ihm untersuchen lassen, weil ich dachte, dass seine Hautfarbe abfärben könnte. Obwohl meine Eltern nicht die geringsten Vorurteile gegenüber Schwarzen hegen und sie diese dementsprechend auch nicht an mich weitergegeben haben, hatte ich erst einmal Angst, denn ich hatte schlicht und ergreifend vorher noch nie einen schwarzen Menschen gesehen.

Kann ich tolerant sein – trotz Vorurteilen?

Nicht tolerant zu sein und Vorurteile zu haben, ist nicht das Gleiche, hat aber einiges miteinander zu tun. Was heißt es, tolerant zu sein? Der Duden sagt dazu, dass jemand »in Fragen der religiösen, politischen oder anderen Überzeugung bereit ist, eine andere Anschauung, Einstellung, andere Sitten, Gewohnheiten und anderes gelten zu lassen«. Ein Vorurteil hegt jemand hingegen, wenn er »ohne Prüfung der objektiven Tatsachen eine voreilig gefasste, meist von feindseligen Gefühlen gegen jemanden oder etwas geprägte Meinung« hat. Das heißt: Je mehr Vorurteile ein Mensch hat, desto weniger tolerant ist er. Ob sich jemand stark oder weniger stark von Vorurteilen leiten lässt, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab. Von seinen Ängsten zum Beispiel. Denn je mehr Ängste ein Mensch hat, desto mehr »helfen« ihm die Vorurteile, einer vermeintlichen Gefahrensituation aus dem Weg zu gehen. Außerdem spielt es eine Rolle, ob ein Mensch gelernt hat, seine Gedanken und sein Verhalten zu reflektieren oder nicht.

Besonders oft haben wir außerdem dann Vorurteile, wenn das Verhalten anderer unseren Lebensbereich direkt berührt und wir uns angegriffen fühlen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Ich kann spendabler mit meiner Toleranz sein, wenn mich die Andersartigkeit eines Menschen nicht betrifft. Wenn zum Beispiel meine Freunde Lisa und Marc am liebsten Aktivurlaub machen, während ich am liebsten faul am Strand liege, dann ist mir das egal. Schwierig wird es, wenn wir gemeinsam Urlaub planen. Dann hinterfrage ich ihre Vorlieben und nehme vielleicht an, dass Lisa und Marc auch im Urlaub pausenlos etwas zu tun haben müssen, weil sie nicht in der Lage sind, einfach mal abzuschalten (was sie im Übrigen sind – sie ziehen ihre Erholung nur aus den Bergen, während ich auch gerne mal beim Blick aufs Meer entspanne).

Darüber hinaus haben wir Vorurteile an den Stellen, wo wir uns mit anderen Menschen vergleichen. Und das machen wir leider permanent. Indem ich akzeptiere, dass ein anderer Mensch eine (andere) Religion hat, sehr dünn ist oder sein Kind anders erzieht als ich, muss ich mir unweigerlich die Frage stellen, ob meine eigene Haltung die »richtige« ist. Dafür bleibt im Alltag oft keine Zeit. Da ist es leichter, die Eigenart eines anderen als schlecht zu bewerten, als zu hinterfragen, ob man sich selbst anders verhalten sollte.

Wenn wir aber alle Vorurteile haben, gibt es dann keine wirklich toleranten Menschen? Ich glaube, dass es keinen Menschen gibt, der zu hundert Prozent tolerant ist. Aber das wäre auch nicht gut. Intoleranz kann nämlich tatsächlich wichtig sein. Wenn ich es beispielsweise nicht dulde, dass ein Kollege einen anderen mobbt. Und zusätzlich sollte Toleranz nie bedeuten, dass man sich selbst überall unterordnet und keine eigene Meinung mehr vertritt. Die Grenze zwischen Verständnis für andere zu haben und sich selbst zu verleugnen ist dabei manchmal fließend. Natürlich muss man nicht jeden Menschen und sein Verhalten leiden können. Aber tolerant sind wir dann, wenn wir uns über jemand anderen erst informiert haben, bevor wir ihn dauerhaft »abstempeln«. Wenn wir die Hintergründe für sein Verhalten kennen, können wir entscheiden, ob wir es nachvollziehbar und sogar akzeptabel finden oder eben nicht. Und vor allem sind wir dann tolerant, wenn wir nicht gleich ganze Personengruppen verurteilen, denn es wird kaum eine geben, wo ein Vorurteil wirklich auf jede Person zutrifft.

Vorurteile können verletzend sein und sogar zu Diskriminierungen führen. Wenn zum Beispiel ein Mensch mit arabischem Aussehen eine Wohnung oder einen Job nicht bekommt, nur weil er »anders« aussieht und ihm der Vermieter oder Arbeitgeber deswegen per se nicht traut. Im schlimmsten Fall können Vorurteile sogar richtig gefährlich werden. Über die deutsche Geschichte muss ich an der Stelle wenig erzählen – hätte Hitler an seinen Vorurteilen gearbeitet, wären vermutlich Millionen von Menschen am Leben geblieben. Und vor einigen hundert Jahren wären viele Frauen nicht verbrannt worden, wenn man sie nicht aufgrund ihrer ausgezeichneten Kräuterkenntnisse für Hexen gehalten hätte. Auch heute sind Vorurteile überall dort gefährlich, wo sich Menschen aufgrund ihrer Voreingenommenheit radikalisieren. In vielen europäischen Ländern bekommen rechtsextreme Parteien immer mehr Zuwachs. Und egal, welche Ausprägungen Andersartigkeit hat – ob es sich um Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung handelt –, es wird propagiert, dass es nur ein Ideal gibt und kein Platz für Menschen ist, die jenseits dieser Norm stehen. Dabei wird oft mit den Ängsten der Menschen gespielt. Mit der Angst vor Andersartigkeit, die durch Vorurteile entsteht.

Was will dieses Buch?

Ziel dieses Buches ist es nicht, dass du vorurteilsfrei wirst – das wird vermutlich auch dem weltbesten Ratgeber nicht gelingen. Das Buch soll dich stattdessen stolz machen – stolz darauf, dass du genau wie jeder andere Mensch anders und einzigartig bist. Du sollst nicht stolz darauf sein, keine Vorurteile zu haben, aber stolz darauf, dass du anderen zunehmend offener begegnen kannst und dir deine Vorurteile zumindest immer häufiger bewusst werden. Wie das gelingt, möchte ich dir in diesem Buch zeigen. Es soll helfen, die eigenen Vorurteile zu erkennen. Das ist der erste Schritt, um sie zu verändern und auch mit anderen darüber zu sprechen, um mehr Akzeptanz untereinander zu schaffen.

In den folgenden Kapiteln erzähle ich dir Geschichten und Fakten über Menschen, die häufig Vorurteilen ausgesetzt sind. Ich habe sie oder ihre Geschichten entweder durch meine Arbeit als Journalistin kennengelernt oder im Privatleben. Teilweise haben die Begegnungen auch meine eigenen Vorurteile abgebaut und mich umdenken lassen. Ich möchte dir zeigen, dass Wissen und Aufklärung die beste Waffe gegen gefährliche oder verletzende Vorurteile sind. Wenn dir diese Geschichten nur ab und zu einen Denkanstoß geben, dann wird es dir auch bei anderen Menschen leichter fallen, erst einmal hinter die Fassade zu schauen, bevor du ihnen mit Vorurteilen begegnest. Das lohnt sich zum einen für deine Mitmenschen. Denn das Schöne ist, dass auch einzelne kleine Situationen das Leben eines anderen verändern können. Wenn sich ein Schüler zum Beispiel einen beleidigenden Kommentar bei einem übergewichtigen Mitschüler spart oder ein Obdachloser mit Respekt behandelt wird. Aber es lohnt sich zum anderen auch für dich selbst: Du wirst überrascht sein, um wie viele positive Begegnungen dich das reicher macht.

 

Wichtig ist mir dabei: Selbstverständlich sind diese Geschichten nur Beispiele aus meinen Erfahrungen und meiner Recherche. Ich möchte damit zeigen, dass nicht alle Menschen in die vorgefertigten Schubladen passen und dass viele Vorurteile ungerechtfertigt sind. Das heißt aber nicht, dass du vielleicht bei dem einen oder anderen Thema trotzdem einen Menschen kennst, der exakt dem Klischee entspricht.

Außerdem zähle ich der Einfachheit halber in diesem Buch nur eine Geschlechtsform auf, das heißt, wenn ich von Studenten spreche, dann meine ich selbstverständlich Studentinnen und Studenten beziehungsweise alle Studierenden.

Auch wenn es mir leidtut, dass das nötig ist: Viele Namen von Betroffenen habe ich in diesem Buch verändert, um sie zu schützen. Denn auch wenn ich mir Toleranz für sie wünsche, ist sie leider in den Köpfen vieler Menschen noch nicht vorhanden.

Zum Ende dieses Buchanfangs noch ein Zitat von Albert Einstein: »Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten, als ein Vorurteil.« Aber es ist nicht unmöglich. Auch wenn wir dazu keine Atomphysiker werden müssen: Lasst uns anfangen, unsere Energie sinnvoll zu nutzen, sonst fliegt sie uns irgendwann um die Ohren.

1. Kapitel Die Kanaken – Oder: Warum nicht nur der Döner zu Deutschland gehört, sondern auch der Dönermann

Weißt du, was ein Kanake ist? Na klar, ein Schimpfwort für Türken. Steht sogar im Duden. Allerdings ist die Verwendung als Schimpfwort nur an zweiter Stelle genannt, denn zuerst steht die eigentliche Bedeutung, die eine ganz harmlose ist: Ein Kanake ist ein Ureinwohner der Südseeinseln. Das Wort entstammt vermutlich dem Hawaiianischen. Es wurde zunächst in verschiedenen europäischen Regionen positiv zweckentfremdet als Begriff für alle ausländisch aussehende Menschen und in Deutschland erst mit dem Anwerbeabkommen in den Siebzigerjahren im negativen Sinn für Gastarbeiter benutzt. So wie ein harmloses Wort zu einem Schimpfwort werden kann, kann ein friedvoller Mensch zu einer Projektionsfläche für Vorurteile und Ängste werden.

Wir beurteilen Menschen auf den ersten Blick danach, wie sie aussehen. Wie eingangs beschrieben, ist das soweit normal. Schwierig ist dennoch für »anders« beziehungsweise »fremd« aussehende Menschen, was diese Ausgrenzung mit ihnen macht: Sie gehören von vornherein nicht dazu. Sie werden nicht als Deutsche wahrgenommen, ob sie hier geboren sind oder nicht. Nur in zwei Dingen sind sie für unsere Gesellschaft selbstverständlich: Wenn sie günstig ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen oder zum Wohlbefinden der restlichen Bevölkerung beitragen. Denn ihre Dienstleistungen werden gern in Anspruch genommen: Italiener sind gut genug, um uns eine leckere Pizza zu backen, Russen, um unseren Kindern Klavierunterricht zu geben, Chinesen, um uns Akupunkturnadeln zu setzen, Thailänder, um uns den Rücken zu kneten, Polen, um unsere Alten zu pflegen, Bulgaren, um unser Obst zu ernten, und Türken, um uns billig die Waschmaschine zu reparieren und selbstverständlich den geliebten Döner zu servieren. Wir brauchen sie, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten – und besonders oft brauchen wir sie, um die weniger schönen Aufgaben erledigen zu lassen oder möglichst günstig an Dinge zu kommen, für die ein »Deutscher« mehr Geld verlangen würde. Sie sind jedoch alle nicht gut genug, um losgelöst von ihrer Herkunft als gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Ob es ein türkischer, russischer oder italienischer Nachname ist: Er erschwert seinem Träger die Ausbildungs-, Arbeits- oder Wohnungssuche bereits, bevor das Gegenüber ihn überhaupt kennengelernt hat. Der Stempel »nicht deutsch« ist innerhalb von Sekunden aufgedrückt, aber nur extrem mühsam wieder zu entfernen.

Jede Gruppe von Menschen, die nach Deutschland eingewandert ist, ebenso wie jeder Einzelne, hat eine ganz persönliche Einwanderungsgeschichte. Beispielhaft für die vielen verschiedenen Nationen möchte ich in diesem Kapitel besonders auf Menschen mit türkischstämmigem Hintergrund eingehen, da ich mich während eines Auslandssemesters in der Türkei sowie in den Jahren davor und danach besonders damit beschäftigt habe. Darüber hinaus sind viele von ihnen Muslime, und das führt in Deutschland ganz besonders zu Ausgrenzung und Vorurteilen.

In der Bundesrepublik leben drei Millionen Türken (beziehungsweise Türkischstämmige), doch wenn über sie gesprochen wird, dann fallen vielen zuerst die Unterdrückung der Frau (»Die müssen alle Kopftuch tragen«) und die radikalen Islamisten ein (»Die sprengen uns noch alle in die Luft«). Die deutsche Rechnung lautet schnell: Türken = Muslime = Islamisten = Gefahr für Deutschland. Darüber hinaus werden sie für ungebildet und rückständig gehalten. Aber woher kommen diese Vorurteile?

Warum haben türkischstämmige Menschen hier einen so schlechten Stand?

Wir vergessen gerne, dass es Menschen aus der Arbeiterschicht waren, die beim Anwerbeabkommen in den Sechziger- und Siebzigerjahren nach Deutschland geholt wurden. Damals sind Türken und Italiener nicht von allein gekommen, die Deutschen wollten sie haben. Die hiesige Wirtschaft boomte, und es gab nicht genug Deutsche, die in den Fabriken arbeiten konnten oder wollten. Also holte man Türken und Italiener hierher. Angefordert wurden aber nicht die Studierten, sondern jene, die für wenig Geld viel wegschaffen konnten. Wichtigstes Kriterium war dabei, dass die sogenannten »Gastarbeiter« (überwiegend männlich) gesund und kräftig waren. Dass sie bereits eine Ausbildung hatten, war ausdrücklich nicht erwünscht, sodass einige Türken auf der Istanbuler Verbindungsstelle lieber verschwiegen, wenn sie doch eine Ausbildung hatten. Die meisten waren tatsächlich aber nicht besonders gebildet. Die Deutschen wollten damals billige Arbeitskräfte, die keine Fragen stellen, und heute werden als Migranten gut ausgebildete Menschen erwartet, die sich in die Gesellschaft einfügen, als wären sie schon immer Deutsche gewesen. Das lässt sich nur schwer damit rechtfertigen, dass die Gastarbeiter nach ein paar Jahren, wenn sie Deutschland genug zu Reichtum verholfen hatten, wieder nach Hause zurückkehren sollten. Die Hälfte von ihnen ging tatsächlich zurück, die andere Hälfte blieb – aber nicht nur, weil sie das unbedingt wollten, sondern auch, weil ihre Arbeitskraft weiter benötigt wurde. So etwas wie Integrationskonzepte gab es trotzdem weiterhin nicht. Integration musste also quasi von selbst laufen; die Ungebildeten mussten sich vielerorts allein um Bildung und Anschluss bemühen.

Eine der größten Schwierigkeiten bei der Integration war für Türkischstämmige mit Sicherheit die deutsche Sprache. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Türkisch ist so schwer! Deutsch und Türkisch sind vom Aufbau der Sprachen sehr unterschiedlich. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum du möglicherweise nicht besonders viele Wörter auf Türkisch kennst. Wie viele »Deutsche« gehen in eine italienische Pizzeria und begrüßen mit einem »Ciao« oder »Buon Giorno« und bedanken sich mit einem »Grazie«? Und selbst wenn sie das nicht tun, wüssten sie vermutlich wenigstens, wie das geht. Aber obwohl Türkischstämmige mit Abstand den größten Anteil der Migranten in Deutschland darstellen und obwohl viele von uns zumindest hin und wieder einen Döner essen, wissen die meisten nicht, was guten Tag (iyi günler) oder danke (teşekkürler) heißt. Das liegt zumindest zum Teil sicher auch daran, dass die türkische Sprache für uns einfach nicht eingängig ist. Versuche mal, dir zu ergründen, was yakışıklı (gutaussehend) oder çilek (Erdbeere) heißt. Da kommt man ohne Wörterbuch nicht weit. Im Englischen, Französischen, Italienischen oder Spanischen können wir uns viele Wörter irgendwie herleiten, im Türkischen geht das nur selten.

Umgekehrt geht es vielen Türken, die versuchen, Deutsch zu lernen. Im Türkischen werden alle möglichen Wörter, Fälle oder Pronomen nicht etwa als eigenes Wort in einen Satz gebaut, sondern als Endung an ein Wort drangehängt. So kann es zum Beispiel sein, dass ein deutscher Satz plus Nebensatz im Türkischen nur durch ein einziges Wort ausgedrückt wird. Das längste Wort der Welt ist übrigens ein Türkisches – es hat 75 Zeichen:

Muvaffakiyetsizleştiricileştiriveremeyebileceklerimizdenmişsinizcesinesiniz.

Übersetzt heißt das so viel wie: »Sie scheinen einer dieser Menschen zu sein, die wir nicht in jemanden verwandeln können, der jemanden erfolglos macht« – was auch immer das im übertragenen Sinne heißen mag; der Satz stammt aus einer fiktiven Geschichte. Weil man sich türkische Sätze eher zusammenpuzzelt als einfach Vokabeln zu lernen, kam es mir immer so vor, als würde ich Mathe anstatt einer Sprache lernen. Für Türken wiederum ist es schwer, dass sie sich viel mehr Begriffe merken müssen. Während die türkische Sprache über 150 000 Wörter verfügt, gibt es in der deutschen über 500 000. Hinzu kommt, dass Türken Wörter lernen müssen für Dinge, die es in ihrer Sprache überhaupt nicht gibt. Kein Wunder, dass sie Probleme haben, den richtigen Artikel zu benutzen, wenn es im Türkischen gar keine Artikel gibt und auch Verben deutlich sparsamer verwendet werden. »Die Mutter ist krank« heißt »Anne hasta«. Punkt. Vor dem Hintergrund muss ich sagen, dass ich schon gleich viel mehr Respekt vor den Türken habe, die überhaupt Deutsch können.

Was passieren kann, wenn man die deutsche Sprache nicht richtig lernt, möchte ich dir anhand der Geschichte von Mehmet erzählen. Ich habe ihn während meiner Arbeit in einem Internationalen Begegnungszentrum kennengelernt. Mehmet war das, was ich als »Checker-Typ« bezeichnen würde. So »Ey jo, voll cool drauf und so«. Netter Typ, etwas zu lässig, aber im Herzen eine gute Seele. Seine Rechtschreibung und auch der korrekte deutsche Sprachgebrauch ließen ehrlich gesagt sehr zu wünschen übrig, was ihm in seinem Studium der Sozialen Arbeit manches Mal im Weg stand. Dass er es aber überhaupt geschafft hat, ein Studium zu beginnen, war ein hartes Stück Arbeit.

Zu Hause hat Mehmet mit seiner Mutter immer nur Türkisch gesprochen. Sein Vater hat sich bemüht, Deutsch mit ihm zu reden, aber leider war das Deutsch des Vaters auch nicht sehr gut. Die Folge: Mehmet hat schlechtes Deutsch gelernt. Mein Türkischlehrer an der Uni (selbst türkischstämmig) hat mir einmal gesagt, dass Kleinkinder lieber gar kein Deutsch lernen sollten als schlechtes Deutsch. Er hielt es für schlauer, ihnen zuerst die türkische Sprache richtig beizubringen, damit sie ein Gefühl für Sprache entwickeln und wenigstens ein Sprachsystem fehlerfrei beherrschen. Wenn sie eine Sprache können, dann lernen sie danach auch leichter eine andere. Denn was man einmal falsch gelernt hat, lässt sich später nur schwer wieder vergessen oder durch Richtiges ersetzen.

So ist die sprachliche Barriere auch Mehmet zum Verhängnis geworden. Da die Familie in einem Brennpunkt von Köln wohnte, war er überwiegend mit anderen Migrantenkindern im Kindergarten, die alle entweder ihre Muttersprache oder schlechtes Deutsch sprachen. In der Grundschule wurde es nicht besser. Mehmet hatte Probleme, beim Unterrichtsstoff mitzukommen, weil er oft gar nicht richtig verstand, worum es ging. Auch wenn er schon als kleines Kind mit Onkel Emre in seinem Laden Gemüse gezählt hatte, scheiterte er daran, die Textaufgaben im Matheunterricht zu verstehen. Seine Lehrerin schaute leider nicht genau genug hin und sah deswegen nicht, dass Mehmet nicht dumm war, sondern nur sprachliche Probleme hatte. Deswegen bekam er von ihr nach der Grundschule eine Empfehlung für die Hauptschule. Mehmets Vater wusste, dass sein Sohn dadurch in Deutschland keine besonders guten Karrierechancen haben würde und sprach mit der Lehrerin. Doch die bügelte ihn ab: Er könne froh sein, dass Mehmet keine Förderschulempfehlung bekommen habe.