Pädagogische Differenzierung

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Pädagogische Differenzierung
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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich


Studiendirektorin Ingvelde Scholz ist Fachleiterin für Latein und Lehrbeauftragte für pädagogische Psychologie sowie Leiterin der Profilgruppe Begabtenförderung und Binnendifferenzierung am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung in Stuttgart. Darüber hinaus ist sie als Lehrerin mit den Fächern Latein und Religion am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach am Neckar (Deutscher Schulpreis 2007) tätig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detailliertere bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN der elektronischen Ausgabe: 978-3-8385-3401-5

ISBN 978-3-846-33401-0 (E-Book)

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-8252-3401-0

© 2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. –

Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Ruhrstadt Medien, Castrop-Rauxel

Hinweis zur Zitierfähigkeit

Diese EPUB-Ausgabe ist zitierfähig. Um dies zu erreichen, ist jeweils der Beginn und das Ende jeder Seite gekennzeichnet. Bei Wörtern, die von einer zur nächsten Seite getrennt wurden, steht die Seitenzahl hinter dem im EPUB zusammengeschriebenen Wort.

Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Hinweis zur Zitierfähigkeit Einführung Pädagogische Differenzierung im Profil 1 - Heterogenität und Differenzierung

Begriffsklärung Dimensionen der Heterogenität Aspekte der Heterogenität Bildungspolitische Entwicklung Prinzip der Passung Kompetenzorientiertes Lernmodell Kompetenzbereiche Literatur

2 - Diagnose- und Förderverfahren

Aufgaben und Ziele der pädagogischen Diagnose Gütekriterien für die pädagogische Diagnosekompetenz Stolpersteine und Meilensteine Subjektive Fehlerquellen Zyklus zur Verbesserung der Diagnosefähigkeit Kriterien und Kompetenzbereiche der Diagnose Phasen eines Diagnose- und Förderprozesses Instrumente des Diagnose- und Förderprozesses Literatur

3 - Innere Differenzierung Differenzierung nach Unterrichtsmaterialien Mögliche Stolpersteine Differenzierung nach Umfang des Lernstoffes Differenzierung nach Anforderungsniveau Differenzierung nach Inhalten und Interessen Differenzierung nach Lernwegen und Zugangsweisen Differenzierung nach Unterrichtsformen Lernen an Stationen

Verlaufsschema Hinweise zur Durchführung

Freiarbeit (FA)

Verlaufsschema Hinweise zur Durchführung

Gruppenpuzzle (GP)

Schaubild Verlaufsschema Hinweise zur Durchführung

Lernen durch Lehren (LdL) Lernen mit dem Computer Differenzierung nach Sozialformen Einzelarbeit (EA) Partnerarbeit (PA) Gruppenarbeit (GA) Klassenu nterricht (KU) Differenzierung in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen Literatur Internet

4 - Äußere Differenzierung Schulklassen mit besonderem Profil Sportklassen Musikklassen Hochbegabtenklassen Internationale Klassen Differenzierung nach Entwicklungsstand Schüler mit besonderen intellektuellen Begabungen

Merkmale zur Identifikation besonders begabter Schüler Hinweise auf eine besondere intellektuelle Begabung (Scholz 2007)

Diagnose besonders begabter Schüler Fördermöglichkeiten besonders begabter Schüler

Voreinschulung und Überspringen einer Klasse Teilnahme am Unterricht oder Teilunterricht eines Faches in der nächst höheren Klassenstufe

Schüler mit besonderen Lernschwierigkeiten

Integration oder Segregation?

Fördermöglichkeiten bei Lernschwierigkeiten

Zusätzliche Förderstunden Sommerschule

 

Differenzierung nach leistungshomogenen Lerngruppen Differenzierung nach geschlechtshomogenen Lerngruppen? Problembereiche von Jungen und Mädchen Konsequenzen für Schule und Unterricht

Angebote, die vor allem vielen Mädchen entgegenkommen dürften

Monoedukation oder Koedukation? Mädchen- und Jungenschulen? Literatur Internet

5 - Differenzierte Leistungsbeurteilung Bildungspolitischer Kontext Kompetenzorientierter Lern- und Leistungsbegriff Traditionelle und kompetenzorientierte Leistungsbeurteilung im Vergleich Bezugsnorm der Leistungsbeurteilung Mögliche Stolpersteine bei der Leistungsbeurteilung Perspektiven für eine erweiterte Leistungsbeurteilung Umsetzung in der Beurteilungspraxis Schriftliche Schülerleistungen Mündliche Schülerleistungen Alternative Schülerleistungen Differenzierte Schülerleistungen

Dem unterschiedlichen Arbeitstempo gerecht werden Dem unterschiedlichen Leistungsniveau gerecht werden Beispiel: Differenzierte Klassenarbeit in Mathematik (Auszug) Den unterschiedlichen Interessen gerecht werden und die Teamfähigkeit stärken

Literatur

6 - Impulse für die Schulentwicklung Personalentwicklung Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung Unterrichtsentwicklung Rückmeldung der Schülerinnen und Schüler Erstellung und Austausch von differenzierten Unterrichtsmaterialien Kollegiale Unterrichtshospitation

Vorbereitung der kollegialen Unterrichtshospitation Durchführung der kollegialen Unterrichtshospitation Nachbesprechung der kollegialen Unterrichtshospitation

Organisationsentwicklung Teamstrukturen Regelmäßige Workshop-Aktivitäten Zeitliche und räumliche Strukturen Netzwerkstrukturen Schulhospitation

Tipps für die Schulhospitation

Ausblick: Die nächsten Schritte Literatur Internet

Anhang

Glossar Literatur

Sachregister

Einführung

Was wir zu lernen haben, ist so schwer und doch so einfach und klar: Es ist normal, verschieden zu sein. (Richard von Weizsäcker, 1993)

Lerngruppen in der Schule werden immer bunter: Die Vielfalt der Kinder und Jugendlichen im Hinblick auf die Lernvoraussetzungen, das Leistungsvermögen, die Motivation und die Interessen erfahren Lehrkräfte tagtäglich. Die Antwort auf die zunehmende Heterogenität in unseren Schulklassen lautet: pädagogische Differenzierung. Sie bietet die Chance, allen Kindern und Jugendlichen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden.

Zu Recht gilt der erfolgreiche Umgang mit Vielfalt seit vielen Jahren als ein wesentliches Kriterium für Unterrichtsqualität und Schulerfolg (Helmke 2003, Meyer 2004). Auch beim Schulwettbewerb „Der Deutsche Schulpreis“, bei dem jedes Jahr die besten deutschen Schulen ausgezeichnet werden, wird der Umgang mit Vielfalt als einer der sechs wesentlichen Qualitätsbereiche angeführt, an denen sich Unterrichts- und Schulqualität messen lassen muss. Doch die Umsetzung in der Praxis scheint durch die äußeren Rahmenbedingungen rasch an ihre Grenzen zu stoßen: Raumnot, Klassengröße und zu wenig geeignete Materialien werden oft als Argumente gegen die Realisierbarkeit eines differenzierenden Unterrichts ins Feld geführt. Hinzu kommt, dass das Thema ‚Umgang mit Heterogenität‘ vor allem in weiterführenden Schulen oft ein Schattendasein führt. Diese Lücke möchte das vorliegende Buch schließen, indem es anhand zahlreicher erprobter und bewährter Beispiele aus der Unterrichtspraxis zeigt, wie man mit vertretbarem Aufwand und mit dem „ganz normalen pädagogischen Handwerkszeug“ sinnvoll und effektiv differenzieren kann.

• Die Antwort auf Vielfalt ist Vielfalt: Im ersten Kapitel werden grundsätzliche Aspekte und Dimensionen der Heterogenität aufgezeigt und bildungspolitische Reaktionen auf die pädagogische Vielfalt skizziert, die sich auf die Schlagworte ‚innere‘ und ‚äußere Differenzierung‘ fokussieren lassen. Es folgen Ausführungen zum kompetenzorientierten Lern- und Leistungsbegriff, der im Kontext der Differenzierungsdebatte eine wesentliche Rolle spielt.

• Keine differenzierte Förderung ohne sorgfältige Diagnose: Im zweiten Kapitel werden verschiedene Diagnose- und Förderverfahren vorgestellt und an Beispielen aus der Unterrichtspraxis erläutert. Dabei geht die Autorin u.a. auf Ziele und Aufgaben sowie Kriterien und Kompetenzbereiche einer pädagogischen Diagnose ein, bevor sie die Phasen und Instrumente eines Diagnose- und Förderprozesses vorstellt. Denn erst wenn es gelingt, den Schülerinnen und Schülern ein realistisches Bild von ihren Stärken und Schwächen zu vermitteln, können Kompetenzen gezielt weiterentwickelt und Lernrückstände sukzessive abgebaut werden.

• Auf die Passung kommt es an: Das dritte Kapitel macht zunächst auf mögliche Stolpersteine bei der pädagogischen Differenzierung aufmerksam. Anschließend erhält der Leser einen praxisorientierten Überblick über die Möglichkeiten der inneren Differenzierung nach Unterrichtsmaterialien, Unterrichtsformen und Sozialformen.

• So viel innere Differenzierung wie möglich, so viel äußere Differenzierung wie nötig: Das vierte Kapitel enthält Überlegungen zur äußeren Differenzierung nach homogenen Lerngruppen, die z.B. auf der Grundlage von Interessen, Leistungsbereitschaft o.Ä. gebildet werden können. Dabei geht die Autorin auf die aktuelle Diskussion ein, ob unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Differenzierung nach geschlechtshomogenen Lerngruppen sinnvoll sein könnte.

• Differenzierter Unterricht braucht Möglichkeiten einer differenzierten Leistungsbeurteilung: Das fünfte Kapitel zeigt, wie eine differenzierte Erhebung, Beurteilung und Bewertung von schriftlichen, mündlichen und sog. alternativen Schülerleistungen (wie z.B. Hausarbeit oder Projekt) gelingen und weiterführende Perspektiven eröffnen kann.

• Kooperative Schulentwicklung als Basis für eine differenzierte Unterrichtskultur: Das sechste Kapitel widmet sich der Frage, wie die Impulse zur individuellen und differenzierten Förderung der Schüler im Unterricht und in der Schule umgesetzt können. Dabei werden verschiedene Aspekte der Personal-, Unterrichts- und Organisationsentwicklung thematisiert.

Die Ausführungen der Autorin sind dem Ansatz KISS („Keep it small and simple!“) verpflichtet und können im Unterrichts- und Schulalltag unmittelbar umgesetzt werden.

Schwäbisch Gmünd, im August 2010

Ingvelde Scholz

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Pädagogische Differenzierung im Profil

1

Heterogenität und Differenzierung

Wenn Bildungspolitiker und Pädagogen sich über Heterogenität in Schule und Unterricht äußern, haben sie bisweilen recht unterschiedliche Blickwinkel. Deshalb soll es in diesem Kapitel zunächst darum gehen, den Begriff Heterogenität samt seinen vielfältigen Facetten zu beleuchten. Anschließend werden bildungspolitische Entwicklungen und didaktische Modelle der inneren und äußeren Differenzierung skizziert, mit denen man der Heterogenität der Schülerschaft gerecht zu werden versucht.

Begriffsklärung

Der Begriff ‚Heterogenität‘ hat im griechischen Adjektiv heterogenés seine Wurzeln, das aus heteros (= verschieden) und gennáo (= erzeugen, schaffen) zusammengesetzt ist (Prengel 2005, 20).

Definition

Im pädagogischen Kontext meint Heterogenität die Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ein oder mehrere Merkmale.

Dimensionen der Heterogenität

In der Schule und im Unterricht treten verschiedene Dimensionen der Heterogenität zutage, die für die Diagnoseverfahren und Differenzierungsmaßnahmen von Bedeutung sind:

• Vertikale Heterogenität: Das unterschiedliche Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler begegnet den Lehrkräften in vielen |9◄ ►10| Arbeitsbereichen des Unterrichts, sobald die Quantität und Komplexität der Anforderungen gesteigert wird.

• Horizontale Heterogenität: Den unterschiedlichen Interessen, Lernwegen und Zugangsweisen zu einem Thema oder einer Aufgabenstellung wird in der Schule meist zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl gerade darin oft der Schlüssel zum Lernerfolg liegt.


Neben den aufgeführten interindividuellen Differenzen gibt es intraindividuelle Unterschiede. So hat ein Schüler z.B. hervorragende Grammatikkenntnisse, aber große Lücken im Wortschatz. Ein anderer interessiert sich für Dichtung, findet aber zu politisch-historischen Texten keinen Zugang. Ein dritter kann die inhaltlich-fachlichen Anforderungen leicht erfüllen, aber hat Schwierigkeiten im Sozialverhalten usw.

Sowohl die interindividuelle als auch die intraindividuelle Heterogenität können sehr breit gestreut sein:

• In einer Grundschulklasse kann die interindividuelle Variabilität mehrere Jahre betragen: So kann z.B. das Entwicklungsalter der Kinder im Hinblick auf die Lesekompetenz von 5 ½ Jahren bis zu 8 ½ Jahren reichen (Largo / Beglinger 2009, 284).

• Auch die intraindividuelle Variabilität kann große Differenzen aufweisen: Ein Kind im Alter von 10 Jahren kann im Hinblick auf die sprachliche Kompetenz ein Entwicklungsalter von 12 Jahren, im Hinblick auf logische Denken hingegen ein Entwicklungsalter von 8 Jahren haben (Largo / Beglinger 2009, 285).

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Aspekte der Heterogenität

 

In einer heterogenen Lerngruppe können sich die Schülerinnen und Schüler in vielfältiger Weise voneinander unterscheiden. Einige Aspekte der bunten Vielfalt seien im Folgenden genannt:

• Kulturelle und nationale Identität: Die Schüler einer Klasse haben möglicherweise eine unterschiedliche kulturelle und nationale Identität – ein Aspekt, der vor allem bei der Frage der Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund von großer Bedeutung ist (Tanner 2006).

• Religiöse Sozialisation: Die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen kann in einzelnen Klassen und Schularten stark differieren, so dass der interreligiöse und interkonfessionelle Dialog in Schule und Unterricht zunehmend an Bedeutung gewinnt (Burrichter 2005).

• Familiärer und sozio-ökonomischer Kontext: Sowohl in Deutschland als auch in Österreich und in der Schweiz werden der schulische und berufliche Erfolg maßgeblich von der sozialen Herkunft eines Menschen bestimmt. Die einschlägigen deutschsprachigen Studien zeigen sehr deutlich, dass vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten von Ausgrenzung und massiver Benachteiligung betroffen sind (KONSORTIUM Bildungsberichterstattung 2006, Maaz / Baumert / Cortina 2008 und Hartmann 2002).

• Kenntnisse und Lernvoraussetzungen: Viele Kinder kommen mit unterschiedlichen Kenntnissen und Lernvoraussetzungen in die Grundschule. Bereits zu Schulbeginn weisen sie eine bisweilen stark differierende Sprachkompetenz auf. Zu Recht plädieren die Experten deshalb für entsprechende Maßnahmen im Bereich der vorschulischen Frühförderung (Wellenreuther 2009).

• Lernwege und Lernstrategien: Immer wieder kann man im Unterricht die Beobachtung machen, dass Schüler auf unterschiedliche Art und Weise ein Thema erschließen oder die Ergebnisse eines Lernprozesses zusammenfassen können.

• Lern- und Arbeitsverhalten: Manche Kinder und Jugendliche verfügen über ein gutes Zeitmanagement, sind wohl organisiert, arbeiten zielgerichtet und legen eine enorme Ausdauer an den Tag. Andere hingegen können nur mit Mühe ihre Materialien zusammenhalten und ordnen, trödeln herum oder lassen sich schnell entmutigen. Das hat nicht selten zur Folge, dass einige Schüler Aufgaben in Windeseile erledigen, während andere gerade erst anfangen. |11◄ ►12|

• Leistungsmotivation: Die Lust und die Freude am Lernen – eine wesentliche Voraussetzung für schulischen Erfolg – sind nicht bei allen Schülern in gleicher Intensität anzutreffen, können von Fach zu Fach oder von Inhalt zu Inhalt differieren und sind mitunter auch vom Lehrer abhängig.

• Erfolgs- und Misserfolgsattribution: Kinder und Jugendliche haben unterschiedliche Erklärungsmuster für ihre Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse. Ob sie ihre guten oder schlechten Ergebnisse in der Schule eher äußeren oder inneren Faktoren zuschreiben, hat bekanntermaßen gravierende Konsequenzen für das Selbstwertgefühl und das Lernverhalten (Möller 2001).

• Temperamentsunterschiede: Kinder zeichnen sich durch unterschiedliche Temperamente aus (Zentner 1998), was für Eltern und Lehrkräfte eine besondere Herausforderung darstellt. Im schulischen Kontext können Temperamentsunterschiede weitreichende Folgen haben: Während Lehrkräfte extrovertierte Schüler in der Regel als intelligenter einschätzen und entsprechend unterstützen und herausfordern, neigen sie bei introvertierten und ängstlichen Kindern eher dazu, diese zu unterschätzen und ihnen weniger zuzutrauen (Jost 2003, 19-20 und Roedell / Jackson / Robinson 1989). Dies kann sich für die weitere Entwicklung der betroffenen Kinder sehr negativ auswirken.

• Geschlechtsbedingte Unterschiede: In jüngster Zeit geraten die geschlechtsbedingten Unterschiede verstärkt in den Fokus, nachdem über viele Jahrzehnte eine geschlechtsindifferente Sichtweise vorherrschte. Kapitel 4 widmet dieser Thematik einen längeren Abschnitt.

Die Lehrkräfte sind sich der großen Vielfalt in der Regel durchaus bewusst, was ein Blick in zahlreiche Unterrichtsentwürfe von Referendaren bestätigt, die ihre Klasse meist sehr differenziert beschreiben. Doch nur selten hat diese Erkenntnis Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung.

Kernaussage

Viele Lehrer gehen von einem fiktiven Mittelmaß aus und praktizieren das Lernen im Gleichschritt nach dem Prinzip des sogenannten 7-G-Unterrichts: Die gleichen Schüler lösen beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen Tempo die gleichen Aufgaben mit dem gleichen Ergebnis. Doch es ist sicher ein große Illusion zu glauben, erfolgreiches Lernen lasse sich nach diesem Prinzip des Gleichschritts organisieren.

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Lernen ist grundsätzlich ein individueller Vorgang. Lässt man nur einen Lernweg im Gleichschritt zu, kann man am Ende zwar feststellen, wie viele Schüler genau auf diesem Weg wie weit gekommen sind. Aber man wird nicht erfahren, ob nicht einige Schüler auf einem der denkbaren anderen Wege viel weiter gekommen wären. Nicht selten werden beim Lernen im Gleichschritt leistungsschwächere Schüler entmutigt und schalten ab, während es den besonders begabten und interessierten längst langweilig ist, so dass sie sich möglicherweise anderen Beschäftigungen zuwenden oder ihre Mitschüler ablenken und damit ebenfalls den Lernprozess stören.

Kernaussage

Statt den Unterricht an einem fiktiven Durchschnittsschüler auszurichten, gilt es, sich der Heterogenität bewusst zu werden und ihr durch differenzierende Maßnahmen auf der inhaltlichen, didaktischen, methodischen, sozialen und organisatorischen Ebene so weit wie möglich gerecht zu werden.

Bildungspolitische Entwicklung

Die Verfassungen der Bundesländer weisen ausdrücklich daraufhin, dass man der Vielfalt der Schüler in Schule und Unterricht Rechnung tragen muss.

Kernaussage

Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung. Das öffentliche Schulwesen ist nach diesem Grundsatz zu gestalten (Landesverfassung Baden-Württemberg, Artikel 11).

In der bildungspolitischen Diskussion der Vergangenheit und Gegenwart gab und gibt es zwei Richtungen, auf die heterogenen Lerngruppen zu reagieren, nämlich die innere und die äußere Differenzierung.

Definition

Bei der inneren Differenzierung bzw. Binnendifferenzierung wird die heterogene Lerngruppe als Chance betrachtet: Nach dem Prinzip der Modifikation bzw. Integration wird der Unterricht und die Lernumwelt unter Beibehaltung des Klassenverbandes soweit wie möglich an den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der einzelnen Schülerinnen und Schüler ausgerichtet und entsprechend angepasst.

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Die Vertreter dieses integrativen Ansatzes sehen die innere Differenzierung vor allem als Möglichkeit, im Schul- und Unterrichtsalltag demokratisches Denken und Handeln einzuüben. Denn die Schüler lernen eher in heterogenen als in homogenen Lerngruppen Denk- und Verhaltensweisen kennen, die vom Durchschnitt abweichen, und können sich darin üben, mit dieser Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit konstruktiv und kooperativ umzugehen (Graumann 2002 und Knauer 2008).

Definition

Bei der äußeren Differenzierung werden nach dem Prinzip der Selektion bzw. Segregation durch verschiedene Auswahlverfahren möglichst homogene Lerngruppen gebildet, die über einen längeren Zeitraum voneinander räumlich getrennt unterrichtet werden.

Die äußere Differenzierung kann über verschiedene vorab definierte Kriterien, wie z.B. Schulleistung, Neigung, Religionszugehörigkeit u.a. erfolgen und in eine interschulische oder intraschulische Differenzierung münden (vgl. Schaubild auf der folgenden Seite).

Der Wunsch nach homogenen Lerngruppen erweist sich in der Praxis freilich als Illusion, da Homogenität jeweils nur für ein einzelnes Kriterium hergestellt werden kann. Auch im gegliederten Schulsystem ist eine heterogene Schülerschaft trotz zahlreicher Selektionsstrategien der Normalfall (Bräu 2005). Zudem besteht bei den leistungsorientierten Selektionsmaßnahmen die Gefahr, dass Aspekte des personalen und sozialen Lernens zu sehr in den Hintergrund treten.

Prinzip der Passung

Die Zielsetzung der inneren und äußeren Differenzierung besteht darin, eine optimale Passung – also eine möglichst große Übereinstimmung zwischen Individuum und Umwelt bzw. zwischen Schüler und Unterricht – herzustellen. Dadurch soll bei möglichst vielen Schülern ein Optimum erreichbarer Lernfortschritte bewirkt werden.

Sowohl die innere als auch die äußere Differenzierung kann je nach Kontext ihre Berechtigung haben. Auf die bisweilen sehr einseitig und ideologisch geführte bildungspolitische Diskussion, ob zur Förderung unterschiedlicher Begabungen ein gegliedertes Schulwesen oder eine Gesamtschule geeigneter ist, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Dem Leser sei die Lektüre der am Ende des Kapitels aufgeführten Literatur empfohlen.

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Kernaussage

Als Richtschnur für Schule und Unterricht empfehlen wir, so viel innere Differenzierung wie möglich und so viel äußere Differenzierung wie nötig zu praktizieren. Außerdem sollten individuelles und kooperatives Lernen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.

Das Schaubild vermittelt einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten der inneren und äußeren Differenzierung.

Überblick über Möglichkeiten der inneren und äußeren Differenzierung


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Kompetenzorientiertes Lernmodell

Im Zusammenhang mit der Forderung einer differenzierten und individuellen Förderung der Schüler spielt der kompetenzorientierte Lern-und Leistungsbegriff eine wichtige Rolle, der einem ganzheitlichen Menschenbild verpflichtet ist.

Vor dem Hintergrund der zum Teil rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, welche von der Schule die Vermittlung einer umfassenden Handlungskompetenz einfordern, wird der Ruf nach einer Ergänzung und Erweiterung des traditionellen Bildungs- und Lernbegriffs immer lauter. Denn mit fachlichem Know-how allein können die Schüler die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen nicht meistern. Sie müssen vielmehr über weitere Kompetenzen verfügen, wie z.B. Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft, hohe Frustrationstoleranz, geschicktes Zeitmanagement, Kooperationsbereitschaft, Problemlösestrategien, Solidarität etc.

Definition

Unter Kompetenzen versteht man Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Problemlösestrategien in unterschiedlichen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.

Kompetenzbereiche

Die neuen Bildungspläne haben als Steuerungsinstrument für Bildungsqualität entsprechende Bildungsstandards formuliert, die sich in vier Kompetenzbereiche aufteilen lassen (z.B. Bildungsplan 2004 Grundschule, Baden-Württemberg, 12):

• Inhaltlich-fachliche Kompetenzen: grundlegende fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen und anwenden etc.

• Methodische Kompetenzen: erfolgreich planen, organisieren, gestalten, visualisieren, strukturieren usw.

• Personale Kompetenzen: Selbstvertrauen entwickeln, sich realistisch einschätzen, Engagement zeigen, Werthaltungen aufbauen u.a.

• Soziale Kompetenzen: andere Menschen wahrnehmen, ihnen zuhören, mit ihnen kooperieren, Konflikte lösen etc.

Die angestrebten Kompetenzen entwickeln sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind den Einflüssen zahlreicher externer Faktoren ausgesetzt|16◄ ►17| (z.B. Familie, Schule, Freundeskreis), die auf die jungen Menschen einwirken. Außerdem überlappen sich die verschiedenen Kompetenzen und ergänzen einander, wie das folgende Schaubild zeigt:


Nur im erfolgreichen Zusammenspiel dieser vier Lernbereiche können unsere Schüler umfassende Handlungskompetenz entwickeln.

Kernaussage

Durch die Vermittlung fachlicher wie auch überfachlicher Kompetenzen sollen die Schüler dafür gerüstet werden, unterschiedliche Herausforderungen innerhalb wie außerhalb der Schule zum Wohle der Gemeinschaft und Gesellschaft meistern zu können.

Freilich bildet das dargestellte Modell (noch) nicht die Schulwirklichkeit ab, da die vier Kompetenzbereiche an vielen Schulen, insbesondere Gymnasien im Unterricht nicht gleichwertig vertreten sind. Die inhaltlichen Kompetenzen haben in den meisten Schulen und Fächern nach wie vor eine deutliche Vorrangstellung, während die anderen drei Bereiche eher |17◄ ►18| ein Schattendasein führen und meist nur am Rande oder außerhalb des Fachunterrichts in besonderen Projekten zur Geltung kommen (Grunder / Bohl 2001, 15–17). Doch der erweiterte Lern- und Leistungsbegriff fordert dazu auf, den ganzheitlichen Ansatz möglichst weitgehend auch im ganz normalen Fachunterricht zu praktizieren.

Die Grundlage für die Vermittlung der verschiedenen Kompetenzbereiche bilden schülerorientierte Arbeitsformen, bei denen die Schüler in einem umfassenden Sinn selbstständig entdecken und lernen sowie Teamfähigkeit entwickeln können. Diese offenen Arbeitsformen schenken den Schülern Vertrauen in ihre Fähigkeiten und übergeben ihnen statt einer passiven Konsumentenrolle den aktiven Part; denn ein Unterricht, der ausschließlich auf lehrerzentrierten Lernformen basiert, kann zwar meist recht gut die fachlichen, doch nur begrenzt die methodischen, personalen und sozialen Kompetenzen vermitteln.

Kernaussage

Insbesondere für die Vermittlung sozialer und personaler Kompetenzen bilden schülerorientierte Arbeitsformen sowie kooperative Unterrichtsformen eine wichtige Voraussetzung (vgl. auch Kapitel 3).

Eine individuelle Persönlichkeitsentwicklung in den unterschiedlichen Kompetenzbereichen kann freilich nur gelingen, wenn Schüler sich regelmäßig mit ihren Stärken und Schwächen auseinandersetzen und ihnen Perspektiven für ihren künftigen Lernprozess eröffnet werden. Dafür gibt das folgende Kapitel entsprechende Anregungen.

Literatur

Boller / Rosowski / Stroot 2007: theorieorientierte Einführung in die Thematik der Vielfalt im Schulwesen und praxisorientierte Handlungsansätze verschiedener Fächer und Themenbereiche zum pädagogischen Umgang mit Heterogenität.

Bräu / Schwerdt 2005: systematische Klärungen des Spannungsfeldes von Gleichheit und Differenz in Schule und Unterricht sowie pädagogische und fachdidaktische Perspektiven.

Oelkers 2006: Vorstellung eines Strukturmodells, das auf Systementwicklung abzielt.

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