Eiszeiten

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Eiszeiten
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EIGENE SPORTLICHE ERFOLGE

Olympia-Dritter 1998

Weltmeister 1997

2 x Vizeweltmeister 1993/96

Europameister 1995

3 x Vizeeuropameister 1993/96/97

Juniorenweltmeister 1984

4 x Deutscher Meister 1993/95/96/97

ERFOLGSTRAINER & CHOREOGRAF von Aljona Savchenko & Robin Szolkowy

2 x Olympia-Dritte 2010/14

5 x Weltmeister 2008/09/11/12/14

2 x Vizeweltmeister 2010/13

Dritte bei der WM 2007

4 x Europameister 2007/08/09/11

3 x Vizeeuropameister 2006/10/13

8 x Deutscher Meister 2004-09/11 /14

Claudia Gräf

(Jahrgang 1962) hat nach zahlreichen Gesprächen und Interviews mit Ingo Steuer, die sich einige Jahre hinzogen, die Geschichte des Weltklasse-Sportlers und -Trainers aufgeschrieben.

Sie lebt in Dresden und ist bundesweit als Moderatorin unterwegs. Ihre Verbindung zum Wort schlägt sich auch in verschiedenen redaktionellen Projekten nieder.

Sie arbeitet für Hörfunk und Fernsehen und schreibt Texte und Musik für ihre eigenen musikalisch-literarischen Programme.

Impressum

2. Auflage, Deutsch, November 2020

E-Book-Ausgabe

ISBN 978-3-906212-63-0

© WELTBUCH Verlag GmbH

(Schweiz / Deutschland)

www.weltbuch.com

Alle Rechte vorbehalten

Aufgeschrieben von Claudia Gräf

Lektorat: Sophie Micheel

Idee/Gestaltung/Satz/Titel: Dirk Kohl

Bildquellen:

Unter jedem Bild erscheint soweit bekannt der Autor/Rechteinhaber. Bilder aus dem Privatarchiv des Autors sind mit „Privat“ gekennzeichnet. Bilder, welche über Wikipedia bezogen worden unterliegen a) der Lizenz „Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany“, die es erlaubt, Werke bzw. den Inhalt zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen sowie b) der Lizenz „Gemeinfrei“, bei der das Werk frei verwendbar ist und keiner bekannten urheberrechtlichen Einschränkung unterliegt.

Inhalt

Vorwort

Jetzt erst recht

1. Kapitel Wer nichts riskiert, verliert

2. Kapitel Manchmal ist weniger mehr und das Einfache bekommt große Bedeutung

3. Kapitel Erfolg erfordert harte Arbeit

4. Kapitel Traum und Wirklichkeit gehen manchmal sehr weit auseinander

5. Kapitel Die Dinge sind nicht immer so, wie sie im ersten Moment erscheinen

6. Kapitel Nur diejenigen, die an ihre Grenzen gehen, wissen, wo ihre Grenzen sind

7. Kapitel Jeder Morgen ist eine neue Berufung

8. Kapitel Wer mit Vertrauen spielt, verspielt den Erfolg

9. Kapitel Erfolg kann man sich nicht kaufen, man muss ihn sich erarbeiten

10. Kapitel Kunst ist, alles Irritierende auszublenden, um sich ganz auf das Ziel zu konzentrieren

11. Kapitel Erfolg zwingt zur Verantwortung

12. Kapitel Jeder von uns hat 24 Stunden am Tag – Wichtig ist, was man daraus macht

13. Kapitel Die Akte Ingo Steuer

14. Kapitel Bildteil 1984-2014

Vorwort
Jetzt erst recht

Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi noch voll im Gange oder werden schon Geschichte sein. Wie immer diese Spiele für uns, für mich auch ausgehen, glauben Sie auch, es geht mir um Genugtuung, wenn wir für die Goldmedaille antreten? Dass wir Revanche wollen?

Genugtuung? Wofür denn schon!

Ganz tief in mir drin, dort, wo auch ich selbst mich nur selten blicken lasse, dort weiß ich, ja, es stimmt, ich will auch Genugtuung. Für die entbehrungsreichen und trotzig durchtrainierten Jahre. Ich will es noch einmal wissen. Nach Bronze 2010 mit Aljona und Robin 2014 Gold gewinnen. Gemeinsam mit ihnen unser Glück noch einmal versuchen.

Revanche aber auch wegen der schwierigen Arbeitsbedingungen, unter denen wir seit 2006 trainierten. Für unser großes Ziel „olympisches Gold“. Anfangs wussten wir ja nicht einmal, wie wir uns finanzieren sollten.

Doch etwas half uns, ab 2010 weitere vier Jahre miteinander zu arbeiten und auf Olympia zuzusteuern. Das waren unsere Fans.

Und so schreibe ich dieses Buch nicht erst, wenn mein Leben auf diese oder jene Art gelebt sein wird; wenn andere auf dem Eis stehen und trainieren und ich nur noch hinter der Bande bin, auf der Bank sitze, zuschaue und ein heißer Tee mir die Hände wärmt. Irgendwann einmal, wenn alles so oder so gelaufen sein wird.

Ich schreibe es heute und erzähle auf diese Weise meine Geschichte, aus meiner Sicht, für meine Fans. Für jene Frauen und Männer, die immer zu mir gehalten haben, die hinter mir standen, in all den Jahren. Menschen, die meine Leidenschaft teilten, vor allem hier in Chemnitz, wo ich zu Hause bin. Frauen und Männer, die bis heute immer an meiner Seite waren. Die mir die Daumen drückten und mit mir jubelten, manchmal weinten sie auch mit mir.

Fans, die mich lange kannten, bevor ich begann, als Trainer zu arbeiten. Einige freuten sich schon mit mir, als ich in Sapporo – vor 30 Jahren! – mit Manuela Landgraf Juniorenweltmeister wurde. Fans, die Mandy Wötzel und mir zujubelten, wo immer wir zu sehen waren. Die Rico Rex und Eva Maria Fitze kannten und mit Nicole Nönnig und Matthias Bleyer bangten. Sie reisten mit uns zu den Wettkämpfen und schickten uns Briefe aus England und Frankreich; und als Mandy in Lillehammer stürzte und wir am Boden zerstört waren, da schrieben uns Schulkinder aus Amerika zum Trost ihr „Don‘t worry, be happy“.

Frauen und Männer, die Aljona Savchenko und Robin Szolkowy später darin bestärkten, weiterzumachen und nicht das Handtuch zu werfen. Ja, auch zu ihrem Trainer zu stehen. Einige wenige flogen sogar über den Großen Teich, um die beiden auf dem Eis zu sehen. Keine Ahnung, ob ich ohne meine Fans durch diese stürmischen, manchmal auch eiskalten Zeiten gekommen wäre. Stünde ich heute hier?

Danke, dass Ihr da seid.

Euer Ingo Steuer

Chemnitz, im Januar 2014

1. Kapitel Wer nichts riskiert, verliert

Wie ein gerupftes Huhn

Meine Urgroßmutter erschrak, als sie mich sah: „Wie ein gerupftes Huhn! Du meine Güte.“ Es lag Schnee, als ich am 1. November 1966 um 6:35 Uhr zur Welt kam. Ich wog knapp 2500 Gramm.

Mickrig und schreiend begann damit mein „Jetzt erst recht!“. Wenn nichts gelingt und jeder zweifelt, erwacht in mir der Löwe, schüttelt sich und trabt los. So war ich schon als kleiner Junge, als mir die lederne Brottasche um Hals und Brust hing und ich zum Kindergarten stiefelte und mich dort behaupten musste. Als junger Einzelläufer und später im Paarlauf lief ich verbissen und ehrgeizig bis zum letzten Ton der Kür, auch wenn ich mal etwas verpatzte oder meine Partnerin einen Sprung nicht stand.

Ahne ich heute, wie die Musik der nächsten Choreografie klingen könnte, stöbere ich stunden-, tage-, ja wochenlang in jeder freien Minute in CDs und Plattenläden, bis mir eine ganz bestimmte Musik in die Seele fällt. Der Klang muss mich berühren; erst dann verbinden sich Läufe und Sprünge, Pirouetten und andere Elemente zu einem ersten Bild. Aus ihm entsteht in mir eine Geschichte, die ich auf dem Eis erzählen möchte.

Wenn ein Element auf dem Eis so einfach erscheint und doch nicht gelingen will, grüble ich so lange, bis ich weiß warum. Gerate ich in Konflikte, versuche ich mich zu positionieren und den Streit zu klären. Ich gebe nicht gern auf. Im Laufe meines bisherigen Lebens, als Eiskunstläufer und Trainer, zog mich diese Haltung mehr als einmal aus dem Schlamassel.

Das Eis gehört zu mir, wie meine Haut und meine Haare. Nicht in die Schlittschuhe schlüpfen, die Bänder festziehen und aufs Eis gehen? Nicht laufen, trainieren und ausprobieren? Unvorstellbar. Dieses Parkett aus gefrorenem Wasser ist mir sicherer als jeder andere Boden. Nie bin ich unsicher auf dem Eis, anderswo schon. Merkwürdig? Aber nein! Ganz einfach zu verstehen, denn nichts und niemand hat mich jemals mehr in seinen Bann gezogen als diese 1800 Quadratmeter spiegelglatter Fläche. Egal, ob Wochen- oder Feiertag, ich bin dem Eis verbunden. Das Eis ist und bleibt die Droge, nach der ich süchtig bin. Manchmal fühlt es sich etwas härter und glatter an, ein andermal erscheint es rauer oder stumpfer, aber das spielt keine Rolle. Niemals wirkt sich die Qualität des Eises auf das aus, was wir auf dem Eis veranstalten. Sobald ich darauf laufe, nehme ich Tuchfühlung auf und bin ganz bei mir.

 

Es gibt auch Tage, da graut es mir davor, in die Halle zu gehen. Im Kopf läuft der Film vom letzten Training und ich denke „Oh Gott, wenn alles wieder so nervig und anstrengend wie gestern wird!“. Und dann gelingt jede Trainingseinheit in völliger Harmonie.

Es gibt Trainingsstunden, in denen ich nicht hochmotiviert bei der Sache bin. Ein kleiner Fehler und ich reagiere lauter oder unwirscher als nötig; meine Gedanken laufen mir davon, entwischen aus der Halle.

Möglicherweise signalisieren sie mir damit „Mach mal Pause, halt ein wenig mehr Abstand!“.

Doch jeder Tag ist anders und am nächsten Morgen zieht es mich förmlich in die Halle. Wieder stellt sich die Gewissheit ein: Ich will immer nur diesen Job machen, keinen anderen. Immer Trainer sein.

Ohne die Eisfläche fühle ich mich unvollständig, wie ein halber Mensch. Das kann auch gefährlich sein, denn hin und wieder braucht jeder Luft zwischen sich und seiner Berufung, sonst frisst sie ihn auf. Das fällt mir schwer, sehr schwer, und manchmal erschreckt es mich. Aber weil sich im Eiskunstlauf nur so Erfolg einstellt, muss ich mich immer vom Scheitel bis zur Sohle hingeben, ich kann nicht anders.

Ist das verrückt oder ganz normal? Ich glaube, beides. Und so gerät eben alles wieder ins Gleichgewicht. Langweilig wird‘s nie.

Ich muss nicht alles haben


Ich erinnere mich, wie mein Bruder und ich als Stepkes, mit unseren Eltern in manchen Sommerwochen in unser Gartenhäuschen umzogen. Auf einem geliehenen Handwagen befanden sich Sofa und Kühlschrank und dann ging es ab ins Grüne. Mein Bruder und ich tobten durch den Wald und winkten am nahegelegenen Bahndamm den vorbeifahrenden Zügen nebst Lokführern zu. Bewegung schrieben wir vier Steuers alle groß.

Bald sollte ich unbewusst auch lernen zu verzichten. Ferienlager? Nach der Schule mit den anderen Kindern im Hof spielen, bis es dunkelt und die Mütter ihre Sprösslinge zum Essen rufen? So sahen meine Nachmittage nicht aus. Meine Kindheit fand auf dem Eis statt. Statt in Ferienlager fuhr ich in Trainingslager; ganz selbstverständlich ordnete sich von frühester Kindheit an dem Sport alles unter. Entstand daraus ein Schmalspurdenken zwischen Bande und Bande? Oder ein Leben im Tunnel, im Eiskunstlauftunnel? Gut möglich, dass der eine oder andere Traum eingefroren unterm Dach in der kalten Eishalle hängt. Er wartet auf mich, während ich meine Choreografien schreibe und die Sportler trainiere. Doch fragt man mich, was ich vermisst habe, dann fällt mir nicht viel ein. Bestimmt hätte ich anderen Sehnsüchten nachgegeben, wenn sie so groß gewesen wären. Das Eiskunstlaufen hatte mich schon lange in Besitz genommen. Ehrgeizig, fast zwanghaft, versagte ich mir alles, was dem nicht diente. Es war selbstverständlich für mich, nach der Schule zur Eishalle zu radeln und zwei, später drei oder vier Stunden zu trainieren. Die Eismaschine kroch übers Eis, Musik vermischte sich mit den Übungsanweisungen und zwischendurch gab es heißen Tee aus Thermoskannen.

Ab meinem 9. Lebensjahr besuchte ich die Sportschule und das Training wurde intensiver und umfassender. Bis heute unterwerfe ich mich deshalb stoischer Disziplin und klaren Regeln: 6:30 Aufstehen! Laufen gehen! Athletiktraining! Abends eine Stunde Training auf dem Eis für mich allein ... um nur einiges zu nennen.

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi markieren eine Wende. Acht Jahre lang, zwischen 2006 und 2014, visierten wir ein großes Ziel an – Olympisches Gold! Ich bin gespannt, wie es im Februar 2014 ausgeht. Danach beginnt für mich ein neuer Lebensabschnitt. Mal schauen, was passiert und welchen Menschen ich über den Weg laufen werde. Viele Jahre steuerte ich, ohne nach links und rechts zu schauen, auf meine Ziele zu. Immer zu schnell, dabei mir irgendetwas zu versagen. Das bleibt eine meiner Herausforderungen, mir etwas zu gönnen, was außerhalb meines „Trainingsplanes“ steht. „Loslassen“ sagt man wohl dazu – gut, ich bin lernfähig. Wenn nichts schiefgeht, bleibt mir ja noch ein halbes Leben Zeit dafür.

So wie mir ergeht es den meisten Leistungssportlern. Irgendwann muss sich jeder für „ganz“ oder „gar nicht“ entscheiden. Ein gesunder Mix von Konzentration auf der einen und gelassenem Genießen auf der anderen Seite, das wäre der Idealzustand. Leider gibt es hier kein Gleichgewicht, immer läuft es darauf hinaus, es zu tun oder zu lassen.

Haben Sie schon einmal auf der Eisfläche gestanden? Oder zumindest eine Eishalle von innen gesehen? Herrlich kühl zu jeder Jahreszeit! Weißes Licht macht die Halle hell. Von irgendwoher schwirrt Musik. Jedenfalls war es um mich geschehen, als mich als fünfjähriger Junge beim ersten Training die frische Hallenluft umwehte. Dazu das Größenverhältnis: die Halle – ein Riese – und ich – ein Zwerg – und wir sagten „Hallo“ zueinander. In der Umkleidekabine roch es nach Trainingszeug und alten Kniften. Der gräbt sich ein, dieser Duft. Mir Winzling half meine Mutter in die Schlittschuhe hinein und wenige Minuten später kratzten meine Kufen ihre Spuren ins Eis. Trainer warfen ihre Worte in die Eisluft. Das war meine erste große Liebe, die intensivste, die lebenslang halten sollte. Ich konnte bis heute nie wieder loslassen.

Im Frühling 2012 habe ich hier in Chemnitz mit einigen Franzosen gearbeitet. Knapp zwei Monate lang waren wir zusammen auf dem Eis. Sie hatten sich vorgenommen, hart zu trainieren und wollten jede Stunde nutzen, um meinen Anleitungen und Ideen zu folgen. Ihre Mentalität faszinierte mich; diese Art, die Dinge gleichzeitig ganz genau und trotzdem gelassen, ja immer auch heiter zu nehmen. In dieser Hinsicht wäre ich gern etwas „französischer“. Aber, wie gesagt, ich arbeite daran. Die Leichtigkeit der Franzosen hat sich allerdings auch auf ihr Zahlungsverhalten ausgewirkt; das vereinbarte Honorar ging bestimmt bei Baguettes, Rotwein und fröhlichem Beisammensein ganz einfach unter. Ich kann geduldig sein und weiß immer, dass das Leben die Dinge geraderücken wird.


2. Kapitel Manchmal ist weniger mehr und das Einfache bekommt große Bedeutung

Familienbande

Ich denke gern an meine Kindheit zurück. „Wie bitte“, sagen Sie jetzt vielleicht, „wo doch bei so viel Training, Schmerz und Disziplin kaum Zeit blieb für Kinderspiele?“

Ich wuchs in einem intakten Zuhause auf und fühlte mich aufgehoben. Unser Leben verlief planvoll und gut organisiert, bisweilen recht straff. Aber ich konnte mich in diesem Leben festhalten; es besaß Strukturen, die nun meinen eigenen zugrunde liegen.

Am Nachmittag um 15 Uhr brachten mich Mutter, Vater, Großmutter oder Großvater zum Training und holten mich zwei Stunden später wieder ab. Meine Eltern organisierten unsere Tage, bis wir Kinder das selbst vermochten. Die beiden lernten sich schon als Jugendliche kennen; bezeichnenderweise auf einem Sportplatz. Dort sah mein Vater die künftige Leichtathletin die Bahnen entlangsprinten. Vier Jahre später trug die junge Frau den Nachnamen meines Vaters und zwei kleine Rabauken stolperten durch die knapp 70 Quadratmeter große Wohnung der Steuers. Mein Vater „steuerte“ unser Schiff umsichtig und mit Bedacht. Er legte den Kurs fest und stand gemeinsam mit unserer spontanen Mutter auf der Kommandobrücke. Er schaute voraus und sie überraschte. Wie es sich für einen guten Mix gehört, trage ich von beidem etwas in mir.

Von meiner Mutter stammen die Liebe zum Sport und die Disziplin bis zur Selbstverleugnung. In einer Zeit, in der das sehr unpopulär war, kam meine Mutter in Plauen als Tochter eines amerikanischen Soldaten zur Welt – 1946, gleich nach Kriegsende. Sie kannte seinen Namen nicht und lernte ihn nie kennen. Dieses Geheimnis nahm meine Großmutter mit ins Grab. Streng und mit Härte erzog sie ihr Kind. Und so lernte meine Mutter viel auszuhalten, um überhaupt existieren zu können. Normal war das nicht. Auch ich bin geübt darin, mir zu sagen: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“. Den Gegenpol zu dieser Erziehung fand meine Mutter im Sport. Sie begann als Geräteturnerin und stieg später in die Leichtathletik ein. Als Läuferin über 200 und 400 Meter heimste sie eine Menge Medaillen ein. Leider fiel ihre sportliche Laufbahn einem ignorierten, vereiterten Blinddarm zum Opfer.

Ich glaube, ich bin so ehrgeizig, wie sie es war. Mein planerisches Talent wurzelt in dem meines Vaters, und trotz seiner konsequenten Erziehung erlebte ich ihn liebevoll und uns zugewandt. Mein ein Jahr älterer Bruder und ich, wir verhalten uns tatsächlich brüderlich. Als erwachsene Männer treiben wir zwar gelegentlich noch Schabernack miteinander, aber wir sind einander die besten Berater. Natürlich prägte unser kindliches Zusammenleben nicht ausschließlich Liebe und Güte, wie man sich denken kann. Unser geringer Altersunterschied sorgte dafür, dass wir, wie zwei Kater im Hof, ständig miteinander stritten. Unsere arme Mutter! Permanent rauften wir um den besten Platz im Auto und die tägliche Führungsrolle. Der Chefposten war niemals klar vergeben, sondern immer heiß umkämpft.


Jeden Morgen sah und hörte man uns schon von Weitem vor dem Kindergarten zetern. Wir rivalisierten um den Reitersitz auf einem kleinen bronzenen Esel – der zweite Sieger musste mit dem seitlich angebrachten Korb vorliebnehmen. Wir zwei Grautiere aus Fleisch und Blut zelebrierten dieses Ritual jeden Morgen neu!

Auch aus diesem Grund fanden unsere Eltern, die selbst sehr sportlich waren, schnell heraus, dass die kleinen Kerle beschäftigt werden mussten. Vier- und fünfjährig saßen wir eines Abends beim Abendbrot und lauschten den Beschlüssen unserer Eltern. Für jeden von uns hatten sie einen Plan.

Für meinen Bruder sollte es Fechten und für mich als den „Filigraneren“ von uns beiden Eiskunstlaufen sein, denn ich war wendig und biegsam genau wie meine Mutter.

Mein Bruder wechselte auf den Fußballplatz ins Tor, später in die Gilde der Schiedsrichter. Noch heute pfeift er an manchem Wochenende irgendwo in Deutschland verschiedene Turniere.

Indem wir in sportliche Gefilde abtauchten, reduzierten sich unsere heimischen „Rauf“-Zeiten beträchtlich. Einmal jährlich lebten wir in absolutem Waffenstillstand.


Vom 1. bis zum 19. November waren wir beide gleichaltrig. Mein Bruder hatte festgelegt, dass für diesen Zeitraum mir die Führungsrolle gehörte. Neunzehn Tage lang im Jahr hatte ich das Sagen. In der restlichen Zeit stritten wir ununterbrochen ohne Regeln um die Macht. Mein kluger Bruder kam dabei immer ein wenig besser weg als ich; manche Suppe musste ich auslöffeln, ohne die Brocken reingeworfen zu haben. Einmal fuhren wir mit den Rädern in den Wald und begegneten einer Gruppe Jungs, die meinem Bruder nicht gut gesonnen war. Ich riskierte die dicke Lippe, sie sollten ihn gefälligst in Ruhe lassen. Mein Bruder animierte mich, in die Pedale zu treten und das Weite zu suchen, aber meine dünnen Beine schafften nicht, was ihm gelang. Sieben, acht Jungs kreisten mich ein und ich musste für meine große Klappe geradestehen. Ich bekam mächtig eine verpasst. In den Allerwertesten getreten und die Nase blutig geschlagen, kam ich nach Hause. Im Garten erzählte ich unseren Eltern nur sehr vage von unserem Erlebnis. Ich, der „begossene Pudel“, schüttelte mich kurz – ich hätte ja meinen Mund auch halten können – und weiter ging‘s. Später, als ich auf die Kinder- und Jugendsportschule ging und bald kaum noch gemeinsame Zeit mit meinem Bruder haben sollte, waren wir beide hin und wieder in wirklich gutem Einverständnis.


Ich glaube, wir lebten wie eine gute ostdeutsche Durchschnittsfamilie. Die Eltern arbeiteten beide, wir Kinder gingen früh, ziemlich früh, mit ihnen aus dem Haus. Manchmal saßen wir am Nachmittag bei einem Stück Pflaumenkuchen mit Oma, Opa oder unserer Mutter am Tisch. Unsere Großeltern teilten unser Leben; der gut organisierte Alltag forderte ihre Energien schlichtweg ein. Gepriesen seien die gemeinsam verbrachten Zeiten! Irgendwie echt italienisch. Unseren Hof auf der Ammonstraße bevölkerte in der Zeit bis zum Abendbrot eine große Kinderschar. Dem elektronischen Standard der damaligen Zeit sei Dank spielten sie „Räuber und Gendarm“, „Doppeltes E“ oder „Verstecker“, bis es dunkelte. Wir gehörten sehr selten dazu, denn viel Zeit blieb uns dafür nicht; unser Training bestimmte den Rhythmus des Tages.

 

Vorerst aber versuchte ich, in der Kindergartengruppe meine Führungsposition zu stärken. Ich erinnere mich, dass sich in meinen sehr frühen Jahren, als ich den Kindergarten unsicher machte, Folgendes zutrug: Es war wohl um die Schlafenszeit herum und mein Mitteilungsbedürfnis ließ sich nicht beruhigen. Auch nach mehrmaligem Auffordern krakeelte ich unbesorgt weiter. Da wurde ich zur Strafe auf einen Schrank gesetzt; zuvor stülpte mir eine besonders witzige Kindergärtnerin ein Netz, das den „Maulkorb“ darstellen sollte, über den Kopf. Ich dachte aber gar nicht daran zu schweigen, sondern verlegte mich nun aufs Bellen – wusste ich doch, was sich für einen guten Hund gehört. Unter allgemeinem Lachen holte man mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Diese Episode verstehe ich heute, während ich zurückschaue, als sehr bezeichnend für mein Verhalten in Krisensituationen. Jene ausgefallene Strafe hätte mich als Fünfjährigen ja auch zum Weinen bringen oder in kindliche Verzweiflung stürzen können. Stattdessen passte ich mein Verhalten der Situation an und machte das Beste daraus, ohne Ängste vor dem Kindergartenbesuch zu entwickeln. Einmal holte mich mein Vater vom Kindergarten ab und fragte eher beiläufig bei den Erzieherinnen nach, wie ich Rübchen mich geführt hätte. Leider gab es einiges zu berichten. Mein Vater lenkte daraufhin meinen Blick nach draußen und meinte nur, dass ich nun – bedauerlicherweise – nicht mit dem nagelneuen Wartburg nach Hause fahren könne, sondern laufen müsse. Das war hart und schlug mir Fünfjährigem mächtig auf den Magen. Für die nächste Zeit zeigte ich mich also sonderlich brav und rauschte ein paar Tage später, versunken in das Leder der Rücksitze, im Wartburg chauffiert heim.

Mein Vater war streng, aber verlässlich. Auch aus diesem Grund entstand in mir mit den Jahren eine innere Stabilität, die sich bis heute erhalten hat, gefestigt vom familiären Umgang und mütterlicher und väterlicher Erziehung.

An den Wochenenden und in den Ferien zogen wir vier manchmal umher – ich erinnere mich an schöne gemeinsame Unternehmungen. Wir wanderten durchs Erzgebirgsvorland und kraxelten die Berge hoch. Wir picknickten hart gekochte Eier, Beefsteaks und Butterschnitten, Äpfel und Pflaumen aus dem elterlichen Garten. Wir lechzten alle nach Bewegung und kämpften in manchen Wettbewerben um die innerfamiliären vordersten vier Plätze. Im Grunde genommen wuchsen wir in solchen Zeiten zusammen wie Eltern und Kinder üblicherweise in gemeinsamen Stunden. Wir durchstreiften die Gebirgslandschaft vor unserer Haustür und bezogen dort vertrautes Quartier, Winter für Winter. In so manchen Situationen meines Lebens hat mir mein energievolles Durchhalten mächtig geholfen, so auch ganz früh, in eben jener Zeit, als unsere Familie gemeinsam in den Urlaub fuhr.

In einem unserer Winterurlaube hatten wir wieder einmal die Wanderfahne gehisst und streiften durch die verschneiten erzgebirgischen Wälder. Da wir häufig am gleichen Ort „urlaubten“, entstand zwischen dem Sohn der Herbergsfamilie und mir eine Ferienfreundschaft, gefestigt durch kleine Heimlichkeiten und Ausflüge zu zweit. Auf einem dieser Streifzüge kamen wir vom Weg ab und gelangten in unwegsames Gelände. Dann, auf einmal, ein schnee- und eisbedeckter Felsüberhang, der sich schnell als mein einziger Rückweg erwies. Nur die ausgestreckte Hand meines Freundes konnte mir helfen. Ich spannte mich wie eine Feder, zitterte vor Aufregung und mein Wille schüttelte mich förmlich. Dann nahm ich Augenmaß, sprang, erreichte seine Hand und kam mit meiner, seiner und wessen Hilfe auch immer, über den Hang.

Meine Eltern erfahren von dieser kleinen Episode erst in diesem Buch, auf dieser Seite. Ich bitte nachträglich um Verzeihung.

In den Sommerferien zuckelten wir, damals noch mit unserer „Rennpappe“, an die Ostsee. Aufgeregt knatterten wir zehn Stunden und fünfhundert Kilometer lang mit unserem Trabbi an die Küste, Mutter und Vater in Sorge, ob das Gefährt die „enorme Distanz“ durchhielte, wir Jungs in Vorfreude auf Wasser und Sand. Ich erinnere mich mit großer Freude an unseren immer gleichen Campingplatz. Ich vermisste die große weite Welt damals nicht, weil ich die kleine Welt so sehr mochte. Unsere Familie schuf sich so ein Polster gemeinsamer Erlebnisse und Zuneigung, davon zehrten wir vier.

Mein engster Freund wohnte in jenen Jahren im gleichen Haus zur Miete: Karsten Augustin. Zwei Jahre besuchten wir die gleiche Schule und drückten die gleiche Schulbank. Kam ich nach dem Training nach Hause, flog manchmal der Ranzen in die Ecke und wir stürmten in den Hof. Wenn auch nur für kurze Zeit – der kleine Rasen gehörte uns. „Fußball“ hieß unsere gemeinsame Leidenschaft. Wir dribbelten und köpften, tricksten und schossen uns abwechselnd die Pille ins gleiche Tor. Mit Karsten durchlebte ich diese frühen Jahre mit all ihren Eigenheiten. Wir stibitzten uns gegenseitig die Kohlen aus dem Keller und halfen uns, wann immer es nötig war. Unsere Geheimnisse waren beim anderen gut aufgehoben. Ich erinnere mich, dass wir einmal zur gleichen Zeit aus der Schule kamen. Ich hatte die Arme vollbepackt mit Beuteln, Schulzeug und Ähnlichem. So stiegen wir im Hausflur die Treppe hoch und es zeichnete sich deutlich ab, dass ich kaum meinen Wohnungsschlüssel würde ergreifen können. Unsere Wohnungstüren zierte ein Briefkastenschlitz. Damals kam der Briefträger ja in jedes Haus hinein, ohne Sicherheitsschloss oder Generalschlüssel. Natürlich standen die Haustüren offen, so wie sich Freunde und Bekannte unverhofft besuchten, ohne sich telefonisch anzumelden – von 20 Familien besaß maximal eine einen Telefonanschluss. Vor meiner Wohnungstür angekommen, nahm mein Freund einen großen Holzlöffel aus einem schmalen Wandschrank, wie er eigentlich im Waschhaus gebraucht wurde und der einem besonderen Zweck gewidmet war: unser „Reserveschlüssel“. Ohne ihn wären wir oft verzweifelt, weil mein Bruder nicht selten seinen Schlüssel verlor oder ihn liegen ließ, wo er niemandem nützlich sein konnte. Karsten steckte den „Holzschlüssel“, als ob es nicht anders sein könnte, durch unseren Briefschlitz, drückte mit dem langen Stiel die Klinke an der Innenseite der Wohnungstür herunter und schwupps stand ich in unserem Flur.

Damals wusste ich alles von ihm, heute nichts mehr. Nachdem wir aus der Gegend wegzogen, verloren wir uns aus den Augen. In meiner Erinnerung lebten wir alle sehr nah beieinander und kannten uns gut.

Meine Eltern meinen, ich sei ein lebendiges, pflegeleichtes Kind gewesen, aber manchmal auch recht schwierig. Schwierig – wie das klingt – hat so einen merkwürdigen Nachklang, als ob ich nicht ganz richtig im Kopf gewesen wäre. Ein Dickschädel war ich, das mag stimmen. Wovon ich überzeugt war, dafür kämpfte ich mit allen Mitteln. Fühlte ich mich zum Beispiel im Training falsch behandelt, hackte ich manchmal mit den Kufen ins Eis oder trat gegen die Bande. Letztendlich läuft es doch darauf hinaus, ob man die Meinung der Mehrheit vertritt oder mit seinem Verständnis der Sachlage unpopulär ist. Ich hatte einfach schon als kleiner Junge meinen eigenen Kopf und mein eigenes Maß von dem, was richtig oder falsch war. Ach, das konnte schon ermüdend sein für andere. Wie der Kleinstadthauptmann verteidigte ich mein Revier, meine Gedanken, meine Ansprüche. Mal fauchend und Feuer spuckend, mal diskutierend, bis allen erschöpft und genervt die Spucke ausging.

Einen Teil meiner kostbaren Freizeit verbrachte ich ganz allein an meines Vaters Seite. Ich meine damit den privaten Nachhilfeunterricht beim „Hauslehrer“. Ich habe das gehasst, wie jedes Kind. Mit dem Vater am Stubentisch sitzen und Schulaufgaben lösen! Mein naturwissenschaftliches Verständnis existierte nur rudimentär und ich besaß schlichtweg kein Interesse an Mathe und Physik. Im Nachhinein rettete mich die Tatsache, dass mein Vater Mathe und Physik lehrte. Er begeisterte sich für klare mathematische Wege und schwärmte von den wunderbaren Möglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er freudig Flächeninhalte und Volumen berechnet. Leider schrammte diese Leidenschaft an mir vorüber. Doch ich hatte Glück. Schnell und einfach erklärte er mir komplizierte Sachverhalte. Was ist wichtig? Worauf muss ich weniger achten? So sparte ich viele kostbare Stunden, in denen ich mir später nur mühsam Integralrechnung und optisches Grundwissen angeeignet hätte. Das nervte damals natürlich, half mir aber enorm.

Damit, dass Sport mein Lebensinhalt wurde, bin ich in unserer Familie schon etwas aus der Art geschlagen. Sport getrieben haben wir zwar alle, mein Vater zum Beispiel liebte früher Fußball über alles und heute steht er begeistert am Feldrand oder sitzt als alter Hase bei jeder Bundesligaübertragung vor dem Fernseher. Fußball würde ich übrigens auch gern spielen, nicht nur mit Robin Szolkowy zur Erwärmung und zum Spaß. Wer weiß, mit meiner ambitionierten Haltung hätte ich bestimmt einen guten Stürmer abgegeben. Weltmeister wäre ich mit Sicherheit nicht geworden. So bleibt es erst einmal dabei, dass ich ab und zu kicke und, wann es immer es geht, im Stadion sitze und den Chemnitzer FC anfeuere. Beneidenswert, dass mein Bruder übers Feld flitzen kann. Weil es aber für mich ein großes Vergnügen wäre, mehr Fußballspielen zu können, steht fest, dass in meinem Leben nach dem Eiskunstlauf das runde Leder als feste Größe dazugehören wird.