Ostfriesland erzählt

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Ostfriesland erzählt
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Hermann Gutmann

Ostfriesland erzählt

Geschichte und Geschichten

Titelillustration: Peter Fischer

© 2011, Edition Temmen e.K.

Hohenlohestr. 21 – 28209 Bremen

Tel. 0421-34843-0 – Fax 0421-348094

info@edition-temmen.de

www.edition-temmen.de

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Edition Temmen

Ebook ISBN 978-3-8378-8052-6

Print ISBN 978-3-8378-1105-6

Inhalt

Moin!

König Radbod wollte in die Hölle – da hatte er seine Verwandten

Die Theelacht in Norden erinnert an eine große Schlacht gegen die Normannen

Im Mittelalter wurden die Ostfriesen von Häuptlingen regiert

Mit Veilchen und Butterblumen wird der Brautpfad gelegt

Junker Balthasar foppte die Bremer

Der Bär von Esens

Der Gesangbuchstreit in Esens

Die Frauen von Borkum überlisteten die Piraten

Prinzessin Wiesmoor und Rauchschwaden über Wien

Wer »in de Bibel« war, der konnte lesen

Zufall oder Skandal: Viele Greetsieler tragen eine Hohenzollern-Nase mitten im Gesicht

Die Reisenden mussten sich auf den Boden legen

Als der Fürst von Schaumburg-Lippe die Wildkaninchen von Langeoog ausrotten wollte

Auf Kaiser Wilhelms Platz hockt heute eine Möwe

Ostfriesische Umgangsformen

Für den Seemann war der Ohrring nicht nur Schmuck

Emden wurde Hamburg zu teuer

Der Weinkeller der Ostfriesen befindet sich in Leer

Osterspiele auf dem Plytenberg

Ostfriesen lieben Aprilscherze

Boßeln ist der Wintersport der Ostfriesen

Das Martinsfest galt als friesischer Karneval

Der Klaasohm von Borkum wohnt unter dem Meeresboden

Im Puppkees steckte Trinkgeld für die Hebamme

Wo kommen die vielen Janssens her?

Ginge es nach den Ostfriesen, wäre »Bessensmieten« eine olympische Disziplin

Wann arbeiten die Ostfriesen?

Der Regenschuur

Klares Wasser für die Blumen

Ostfriesische Gemütlichkeit hält stets ein Tässchen Tee bereit

Der Autor

Moin!

Die Ostfriesen begrüßen einander mit »Moin!«.

Wenn sie aber zur Geschwätzigkeit neigen, sagen sie »Moin! Moin!«.

Das kommt allerdings selten vor. Denn Ostfriesen, schon gar, wenn sie unter sich sind, schwatzen nicht. Sie praten. Aber das ist etwas ganz anderes als schwatzen. Praten ist, wenn sich Ostfriesen unterhalten.

Wenn ein Ostfriese einen anderen Ostfriesen trifft, sagt er: »Moin!« Und der andere sagt auch »Moin!«. Wenn die beiden auseinandergehen, sagen sie ebenfalls »Moin«. Dazwischen herrscht beredtes Schweigen.

Einmal wurde ein Ostfriese von seinem Neffen zum Stammtisch begleitet.

Man begrüßte einander.

»Moin!«

»Moin!«

»Moin!«

Mitten im Schweigen sagte der Neffe: »Schönes Wetter heute, nicht?«

Als sie auseinandergingen, sagten sie:

»Moin!«

»Moin!«

»Moin!«

Beim nächsten Treffen sagte einer zu dem, der voriges Mal in Begleitung seines Neffen gekommen war: »Du, deinen Neffen brauchst du nicht wieder mitzubringen. Der redet zu viel.«

Anders verhalten sich die Ostfriesen gegenüber Touristen oder ähnlichen Fremden. In solchen Fällen legen die Ostfriesen Wert darauf, einen guten Eindruck zu machen. Denn Kommunikation ist heutzutage die »halbe Miete«. Viele Ostfriesen leben davon, Zimmer an Feriengäste zu vermieten.

Wir möchten Sie deswegen in diesem Vorwort – denn ein Vorwort gehört nun einmal zu einem vollständigen Buch – mit einem freundlichen »Moin! Moin!« begrüßen.

Damit aber stehen wir bereits am Ende dieses Vorwortes. Denn was soll man sonst sagen – in einem Vorwort?

Keine Ahnung!

Außerdem hat dieses spezielle »Moin! Moin!«-Vorwort den Vorteil, dass man es morgens, abends und überhaupt den ganzen Tag über lesen kann.

Denn »Moin!« sagen die Ostfriesen zu allen Tageszeiten.

Nun dürfen Sie aber nicht denken, dass die Ostfriesen Morgen und Abend nicht voneinander unterscheiden können. Sie können es, obwohl sie von morgens früh bis abends spät ihren geliebten Tee trinken. Da kann man schon mal mit der Tageszeit durcheinanderkommen.

Dennoch hat man sich in Ostfriesland Gedanken über die tatsächliche Bedeutung dieses Grußes gemacht.

Er könnte nämlich aus der »Guten Morgen«-Ecke kommen. Oder aus der niederländischen Ecke, wo »mooi« immerhin »schön« bedeutet?

Sollte sich »Moin!« aus einem »Schönen Tag«-Gruß entwickelt haben?

In alten Unterlagen aus dem Jahre 1987 fand sich ein wissenschaftlicher Beitrag des damals in Aurich lebenden Wissenschaftlers Dr. Jürgen Byl. Er hatte sich zu dem »Moin«-Thema geäußert.

Nach Byl ist das gemütliche »Moin!« zum ersten Male in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der ostfriesischen Literatur aufgetaucht. Und zwar in der Form »moien«, was, wie Byl schreibt, auf das plattdeutsche »mörgen« verweist.

Er fügt hinzu: »Ganz deutlich ist es eine Abkürzung von ›Gun Mörgen!‹, wie es noch im 19. Jahrhundert bei unserem Nationaldichter Enno Hektor heißt.«

Enno Hektor hat, das zur Erläuterung, unter anderem das ostfriesische Heimatlied »In Ostfreesland is’t am besten« geschrieben, was im Übrigen schon reichte, um ihn zum Nationaldichter zu küren.

Byl kommt in seinem Beitrag auf die in den Niederlanden lebenden Westfriesen zu sprechen, die einander mit »Goeden moarn!« begrüßen und das häufig abkürzen, wie das bei Begrüßungsformen üblich ist. Sie sagen »Moarn!«. Das »Goeden« wird aus Sparsamkeitsgründen weggelassen.

In diesem Zusammenhang erinnert Byl an die Helgoländer, in deren sehr spezieller friesischer Mundart der morgendliche Gruß »Mörn!« lautet.

Dass das »Moin!« inzwischen für alle Tageszeiten gewünscht wird, erklärt sich nach Jürgen Byl in dem nicht mehr vorhandenen oder etwas heruntergekommenen menschlichen Langzeitgedächtnis.

»Moin!« wird nicht mehr als »Morgen« verstanden. Es ist eine allgemeine Begrüßungsformel geworden.

Byl: »Wenn man den süddeutschen und allgemeinen Wandergruß ›Servus‹ benutzt, meint man ja auch nicht wörtlich, man bekenne sich als Sklave (lat. servus) des anderen – obwohl dies der ursprüngliche Sinn war.«

Wir dürfen davon ausgehen, dass mit den Byl’schen Untersuchungen die Herkunft des Wortes »Moin!« eindeutig erklärt und geklärt worden ist. Die Frage ist damit endgültig vom Tisch.

Die Ostfriesen, so viel ist klar, wünschen auch abends einen »Guten Morgen!« und haben damit die Menschen in großen Teilen des deutschen Nordens angesteckt. Es kann also passieren, dass man in der äußersten Ecke Schleswig-Holsteins, in Flensburg, mit »Moin« begrüßt wird.

Dennoch, um bei den Ostfriesen zu bleiben: Sie wissen jedenfalls immer, was die Stunde geschlagen hat.

Moin! Moin!

König Radbod wollte in die Hölle – da hatte er seine Verwandten

Der Friesenkönig Radbod, der im Jahre 719 gestorben ist, war ein Intimfeind des fränkischen Hausmeiers Pippin des Mittleren (gestorben 714).

Ärgerlich für Radbod war, dass Pippin über ein schlagkräftiges Heer verfügte. Dies siegte über sein eigenes, und anschließend musste König Radbod auch noch zusehen, wie Pippin ihm Westfriesland raubte.

Nach Pippins Tod hatte es Radbod mit dessen Sohn Karl Martell zu tun, der allerdings zunächst noch damit beschäftigt war, seine Macht zu stabilisieren und seine Konkurrenten auszuschalten, was damals mit Waffengewalt geschah. Heute wird gemobbt.

 

Karl Martell konnte auf diese Weise nicht verhindern, dass Radbod mit seinem Heer bis nach Köln vordrang. Vielleicht wollte Karl es auch gar nicht, weil seine böse Stiefmutter Plektrudis sich in Köln eingeigelt hatte.

In dem unvermeidlichen Krieg zwischen den Friesen unter König Radbod und den Franken unter Karl Martell ging es unter anderem – und vor allem für die Geschichtsbücher – um Glaubensfragen. Die Friesen waren noch Heiden, die Franken schon Christen.

König Radbod konnte dem Christentum nichts abgewinnen. Für ihn bedauerlich war allerdings, dass sich das Christentum in Friesland seit etwa hundert Jahren unaufhaltsam auf dem Vormarsch befand.

Deshalb nahm er auch mit großer Reserve den Besuch des von Karl Martell zu ihm entsandten Bischof Wulfram zur Kenntnis.

»Wat will de Kerl?«, fragte sich Radbod und beschloss, dem geistlichen Herrn eine heidnische Gala-Vorstellung zu geben. Wulfram sollte dabei sein, wenn er seinen Göttern ein Opfer brächte.

Geopfert werden sollten Kinder. Das Los traf zwei Brüder von sieben und fünf Jahren. Sie wurden bei Ebbe in der Nordsee auf eine Sandbank gesetzt, die von der steigenden Flut zunächst umflossen und dann – wie bei jeder Flut – vom Wasser bedeckt wurde.

Schweigend saßen der König und die Vornehmen des Volkes und warteten, dass die See ihr Opfer nähme. Die Flut schwoll und umplätscherte bereits die Füße der Kinder.

Dies beobachtete Wulfram, und in der tiefen Stille hört man plötzlich seine Worte: »Es ist nicht recht, dass Menschen, die Gott zu seinem Bilde geschaffen hat, den falschen Götzen geopfert werden!«

Wulfram wandte sich an den König und sagte: »Schenk mir die Kleinen!«

Radbod blickte den Geistlichen zornig an und rief höhnisch: »Wenn dein Gott Christus sie noch zu retten vermag, so sollen sie dein sein.«

Wulfram kniete nieder und betete laut um göttlichen Beistand.

Und siehe da, die Flut machte einen außerplanmäßigen Bogen um die Sandbank. Unerwartet setzte die Ebbe ein.

Der Bischof schritt ungefährdet zu den Kindern, trug sie auf seinen Armen ans sichere Ufer und nahm sie ohne weitere Umstände mit. Er brachte sie in ein Kloster, wo sie zu Christen erzogen wurden. Was aus ihnen geworden ist, wissen wir nicht.

Nach dieser misslungenen Opfergabe wurde König Radbod nachdenklich.

Schließlich, nach etlichen Gesprächen mit dem Bischof Wulfram, beschloss er, sich taufen zu lassen.

Mit einem Fuß stand er schon in der Taufzisterne, da fiel ihm noch eine wichtige Frage ein.

»Auf ein Wort, Bischof!«, sagte er. »Ich möchte wohl wissen, wohin meine Vorfahren, die altfriesischen Herzöge und Könige, nach ihrem Tode gekommen sind. In den Himmel oder in die Hölle?«

Wulfram überlegte einen Augenblick. Dann verplapperte er sich. Er meinte: »Deine Vorfahren waren Heiden. Als Ungetaufte sind sie ohne Zweifel in die Hölle gefahren. Wohin sonst?«

Da zog Radbod seinen Fuß aus der Taufzisterne zurück und kleidete sich langsam wieder an.

»Dschja«, sagte er. »Wenn das so ist. So will ich lieber mit meinen tapferen Vorfahren in der Hölle schmoren, als mit euch armseligen Christen und kahlen Mönchen in eurem Christenhimmel fromme Lieder singen.«

Dabei ist es geblieben.

Nur wenige Tage später starb der König unbekehrt.

Noch heute gibt es im Fanggarten der Vogelwarte auf dem Oberland der Insel Helgoland eine Wasser führende Kuhle, die der Helgoländer Sapskiil nennt – Sapskuhle.

An diesem Wasser soll sich – so wurde noch im 19. Jahrhundert auf Helgoland erzählt – die verhinderte Taufe des Königs Radbod zugetragen haben.

Diese Geschichte geriet aber in Vergessenheit, weil die Helgoländer die Sapskuhle für andere Zwecke benötigten. Denn aus der Sapskuhle, so wurde den Helgoländer Kindern erzählt, kamen die kleinen Kinder.

Im Zeitalter der Aufklärung hat sich auch das erledigt.

Die Theelacht in Norden erinnert an eine große Schlacht gegen die Normannen

Schlagfertig den Missionaren gegenüberzutreten, war die eine Sache – mit Normannenüberfällen fertig zu werden dagegen etwas ganz anderes. Immer wieder kamen die Krieger mit ihren schlanken Booten über die Nordsee und quälten die inzwischen getaufte Bevölkerung. So waren die Männer und Frauen im nordwestlichen Ostfriesland genötigt, beim Verlassen ihrer Kirchen stets eine eigens für diesen Zweck ins­tallierte überaus niedrige Öffnung in der Nordmauer der Kirche zu benutzen. Auf diese Weise wurden sie gezwungen, sich nach jedem Gottesdienst nach Norden hin zu verneigen, dorthin also, wo der König der Normannen lebte.

Diese sogenannten Normannentore und die vielen anderen Demütigungen, mit denen die siegreichen Normannen die von ihnen unterworfenen Ostfriesen drangsalierten, führten zwangsläufig zu einer Revolte.

Sie brach im Jahre 884 aus.

Auslösendes Ereignis war eine Reise des Erzbischofs Rembert von Bremen (865 – 888) durch sein Bistum, zu dem auch Ostfriesland gehörte. Rembert kam bei dieser Gelegenheit in den Kirchort Norden, den Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert lebende Chronist des Bremer Erzbistums, »Nordwiede« nannte.

In Norden wurde ihm, dem Rembert, die Not der Menschen geschildert und ihre Leiden unter der Knute der Normannen, die in die Flussmündungen vorstießen und an den Ufern rechts und links alles niedermachten, was sich ihnen in den Weg stellte.

Der geistliche Oberhirte hörte sich die Sorgen seiner Schäfchen an und ermutigte sie, ihre Sache notfalls mit Waffengewalt zu vertreten. Er selbst, der aus gottgefälligen Gründen keine Waffen in die Hand nahm, sondern sie allenfalls segnete, kniete nieder, um Gottes Segen für einen möglichen Aufstand gegen die normannischen Heiden zu erbitten.

Als er sich danach erhob, hatten seine Knie tiefe Eindrücke in dem Stein, auf dem er gekniet und sein Gebet gesprochen hatte, hinterlassen.

Das nahmen die Ostfriesen als ein Zeichen des Himmels. Sie fackelten also nicht lange und schlugen los, als die Normannen mal wieder in der Hilgenrieder Bucht bei Norden landeten, um – wie gewohnt – zu rauben und zu plündern.

Mit Äxten, Knüppeln, Schwertern und Lanzen fielen die Norder Bauern über ihre Quälgeister her und machten alles nieder.

»Zehn tausend dreyhundert sieben und siebenzig« Normannen, Adam von Bremen nennt diese Zahl, sollen in einer acht Tage dauernden Schlacht gefallen sein. Außerdem fanden viele, »welche ihr Heil in der Flucht suchten, bey dem Durchgange durch die Flüsse daselbst ihren Tod«.

Adam von Bremen bezog sich auf eine Schrift des Abtes von Corvey, Bono, und schrieb: »Dies ist die, von dem Verfasser uns hinterlassene Beschreibung des Wunders, welches durch die ausgezeichneten Verdienste des heiligen Rimbertus bewirkt wurde, dessen Angedenken bey dem friesischen Volke in hoher Achtung steht. Sogar der Hügel, worauf der Heilige während der Schlacht betete, ist seiner immer grünen Rasen wegen merkwürdig.«

Es soll hier nicht die Wirksamkeit der Gebete des heiligen Rembert infrage gestellt werden. Das steht uns nicht zu. Doch so ganz ohne die Kraft und die Schlagfertigkeit der Ostfriesen konnte die Schlacht bei Norden nicht gewonnen werden.

So ist heute in Norden kaum noch von Rembert die Rede, dafür aber mehr von der Theelacht, die nach der Schlacht von den Bauern aus Norden gegründet wurde, von Bauern, die an dem Freiheitskampf teilgenommen hatten.

Die Theelacht ist die älteste bäuerliche Gemeinschaft in Europa, wenn nicht sogar in der ganzen Welt. Ihren Sitz hat sie heute im historischen Rathaus von Norden. Denn als das Rathaus Mitte des 16. Jahrhunderts gebaut wurde, war die Theelacht schon 700 Jahre alt.

Jene Bauern nämlich, die sich damals während der Normannenschlacht besonders ausgezeichnet und sie überlebt hatten, erhielten als Lohn für ihre heroischen Taten ein großes Stück Land an der Hilgenrieder Bucht, wo die Schlacht gegen die Normannen begonnen hatte, als Gemeinschaftseigentum zugesprochen.

Bis zum heutigen Tag wird der Pachtzins aus diesen Ländereien zweimal im Jahr – vor Ostern und vor Weihnachten – in der Theelkammer an die »Arfburen«, die Erbbauern, und an die »Koopburen«, die Kaufbauern, verteilt.

Denn inzwischen ist die Theelacht eine Zweiklassengesellschaft geworden. Da sitzen die Erbbauern, die etwas Besseres sind, worauf sie großen Wert legen, an einem besonderen Tisch. Und da sitzen die Kaufbauern am Katzentisch, was sie nicht davon abhält, das große Wort zu führen.

Die Kaufbauern haben ihre Ursprünge vor allem in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648), als mancher Erbbauer seinen Erbanteil verpfänden musste und nicht wieder auslösen konnte, weil ihm die Mittel fehlten.

Es ist freilich von den einst beachtlichen Zinsbeträgen, die zweimal im Jahr ausgezahlt werden, allenfalls ein Euro für jeden übrig geblieben. Doch ums Geld geht es schon lange nicht mehr. Wichtig ist einzig und allein die Pflege einer Tradition.

Mitglied in der Theelacht, ein Name, der sich aus »Teil« und »Gemeinschaft« zusammensetzt, kann nur werden, wer seine Abstammung in direkter Linie auf einen Teilnehmer an der Normannenschlacht zurückführen kann. Außerdem kann man durch Heirat mit der Tochter eines Erbbauern und durch Kauf von Erbanteilen Mitglied werden.

Die Mitglieder treffen sich am Tag der Versammlung um 12 Uhr im Rathaus am offenen Kaminfeuer und bei Petroleum- und Kerzenlicht. Unter ihnen sind auch Frauen, die allerdings die Versammlung um 15 Uhr, nach der Teezeit, verlassen müssen.

Die Theelachter trinken Bier aus weidenumflochtenen Buchenholzbechern und rauchen aus langen weißen Tonpfeifen, wie es der Brauch ist seit Generationen. Der Tabak wird mit langen Fidibussen aus Papier zum Glühen gebracht. »Amtssprache« ist das Nörder Platt, das für Fremde sehr schwer zu verstehen ist.

Wer in die Theelacht aufgenommen werden will, der muss sich einer strengen Prüfung unterziehen und am flackernden Kaminfeuer den versammelten »Arfburen« Rede und Antwort stehen. Am Ende der Prüfung wird dann die Aufnahme mit einem Umtrunk besiegelt.

Wie viel Becher Bier der Neue trinken muss, entscheidet der Theelwürfel.

Dreimal muss der Neue würfeln. Am Ende ruft der Syndicus:

»Dreemol sess!«

Aber dreimal sechs ist nichts Ungewöhnliches: Seit vielen Hundert Jahren würfeln die neuen Mitglieder der Theelacht immer dreimal sechs. Das geht gar nicht anders, denn die Theelwürfel haben auf allen sechs Seiten sechs Augen.

Wer die 18 Becher Bier nicht schafft oder nicht zu schaffen glaubt, muss sich freikaufen. Er muss allen Arfburen barhäuptig aus einer Zinnkanne die Becher füllen und außerdem einen Geldbetrag in die Theelkasse zahlen.

Danach wird »op Theelachts Wohlfoahrt« getrunken, und der Neue gehört für alle Zeiten dazu.

Im Mittelalter wurden die Ostfriesen von Häuptlingen regiert

Wer Bekanntschaft mit Ostfriesland schließt, ist sicherlich zunächst etwas irritiert, wenn er vor einer der alten Burgen steht, von denen es heißt, es seien die Burgen von Häuptlingen gewesen.

Häuptlinge? Wieso Häuptlinge?

Indianer haben Häuptlinge. Sind Ostfriesen Indianer?

Eigentlich nicht.

Aber im Mittelalter wurden die Herren in Ostfriesland Häuptlinge genannt, was allerdings nicht von Anfang an so war.

Die Friesen wurden erstmals im Jahre 12 v. Chr. von den Römern erwähnt. Damals schloss der römische Feldherr Nero Claudius Drusus, der später den Siegertitel »Germanicus« erhielt und von 38 v. Chr. bis 9 v. Chr. lebte, mit den Friesen Verträge ab. Von Häuptlingen war zu dieser Zeit nicht die Rede.

Die Friesen lebten in einem Kerngebiet zwischen Niederrhein und Ems. Sie gehörten zu den Nordseegermanen und wohnten zum Teil an der Küste auf Wurten.

Wie man sich das Leben auf diesen Wurten vorstellen musste, hat uns Gaius Plinius Secundus der Ältere (23 oder 24 bis 79 n. Chr.) hinterlassen.

Plinius, Offizier und Schriftsteller, verfasste Berichte über seine Reisen nach Gallien, Germanien, Spanien und Afrika und veröffentlichte sie für seine nicht ganz so mobilen Landsleute in Rom und andernorts.

Eine dieser Reisen führte ihn in den Norden Germaniens. Dort, wo sich die »ungeheure See« zweimal des Tages und zweimal des Nachts über das Land ergießt und wieder abfließt, traf er merkwürdige Menschen, über deren Lebensgewohnheiten er süffisant berichtete.

 

Er schrieb: »Dort wohnt das armselige Volk teils auf Hügeln, teils auf Wurten, welche sie so hoch aufgeworfen haben, als die Flut steigt. Man möchte ihre Häuser für Schiffe halten. Doch haben sie bei Ebbe den Gewinn, dass sie die von der See angetriebenen Fische, wohl auch Muscheln, Krabben, Granaten bei ihren Wohnungen fangen oder sammeln können.

Moorige Erde trocknen sie mehr am Wind als an der Sonne, brennen sie und bereiten daran ihre Speise und wärmen ihre Glieder. Ihr Trank ist Regenwasser, welches sie in Gruben auffangen.«

Was Plinius nicht erzählte: Die weiter landeinwärts lebenden Menschen waren bekannt als Viehzüchter und Händler.

Im 6. Jahrhundert bekamen die Friesen Ärger mit den Franken, die versuchten, sie zu unterjochen. Im 7. Jahrhundert dehnten sich die Friesen – sozusagen als Ostfriesen – über die Ems aus. Einige von ihnen zogen weiter nach Norden und gründeten Nordfriesland, das heute zu Schleswig-Holstein gehört. Aus jener Zeit ist uns auch der bereits erwähnte Friesenkönig Radbod bekannt, der vor allem ein Heerführer war.

Zusammengeschlossen waren alle Friesen in einem Freiheitsbund. Ihr alljährlicher Treffpunkt war der Upstalsboom. Dabei handelte es sich um einen Hügel bei Aurich, den es noch heute gibt. Er gilt als friesisches Nationalheiligtum. Der Name hat offenbar keine besondere Bedeutung. Es ist ein Flurname. Der Platz soll einmal von uralten Eichen umsäumt gewesen sein, die bereits im 19. Jahrhundert Baumruinen waren – wird erzählt.

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