Der chinesische Trauermarsch

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Der chinesische Trauermarsch
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Titelillustration: Peter Fischer



1. Auflage 2020

© 2020 Edition Temmen e. K.



Hohenlohestraße 21



28209 Bremen -



Tel. 0421-34843-0 – Fax 0421-348094



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Alle Rechte vorbehalten



Ebook ISBN 978-3-8378-8045-8



Print ISBN 978-3-8378-1111-7



»Die Heiden von Kummerow« auf der Hakenterrasse



Der Krieg war für uns Kinder Mitte des Jahres 1940 sehr weit weg. Wenn man es nicht so genau nahm, lebten wir im Frieden. Denn der Polenfeldzug war lange vorbei. Dänemark hatte sich unter Protest kampflos ergeben. Norwegen musste die Fahnen streichen, nachdem die Norweger den Deutschen in Narvik eine böse Schlappe zugefügt hatten. Der Krieg gegen Holland, Belgien und Frankreich näherte sich nach etwa vier Wochen seinem Ende.



Doch all diese Feldzüge wurden von uns Kindern kaum ernst genommen, es sei denn, der eine oder andere wusste von einem, der auf dem »Felde der Ehre« für »Führer, Volk und Vaterland« gefallen war. Herr Otten, der bei uns im Haus im Erdgeschoss links wohnte, kam nicht wieder. Er war in den ersten Tagen des Krieges in Polen gefallen. Seine Frau trug Trauer und die beiden Kinder sahen sehr blass aus.



Gelegentlich heulten die Sirenen, und oben am Himmel sahen wir einzelne Flugzeuge, britische Aufklärer, wie Herr Zschernack wusste. Aber was wollten die schon bei uns aufklären?



Dennoch fühlte sich unsere Mutter unbehaglich. Immer feindliche Flugzeuge über unseren Köpfen – so etwas ist doch unangenehm. Man weiß letztlich nie, was diese Burschen in den Flugzeugen im Schilde führen.



Meine Mutter beschloss mit uns Brüdern, das baldige Ende des Krieges im damals friedlichen Stettin abzuwarten.



Wir hatten dort väterlicherseits Verwandte. Die Lieblingstante meines Vaters, Tante Grete, hatte dort in der Altstadt eine Winterwohnung. Im Sommer wohnte sie bei einer Verwandten auf dem Lande – auf dem Gut Giesenthal.



Von Tante Grete wurde hinter der vorgehaltenen Hand erzählt, dass sie sich als junges Mädchen in einen Schornsteinfeger verliebt hatte, was aber ihr Vater, ein Lehrer für alte Sprachen und Theologie, ein Rektor gar, nicht dulden wollte. Daraufhin hatte Tante Grete beschlossen, ein Fräulein zu bleiben.



Uns waren also in der Winterwohnung von Tante Grete ein paar Zimmer zugewiesen worden. Diese Wohnung, die ich fensterlos in Erinnerung habe – das einzige Fenster führte zum dunklen Treppenhaus, befand sich in einem mehrstöckigen Haus in der durch die Altstadt führenden Frauenstraße, die parallel zur Oder verlief.



Das Schloss der alten pommerschen Herzöge, das bereits im 14. Jahrhundert erwähnt wurde und in dem jetzt Behörden unterbracht waren, lag ganz in unserer Nähe, gleich an der Pelzerstraße, in der früher Kürschner gearbeitet hatten.



Für uns war manches in Stettin sonderbar. Ein Schloss kannten wir von zu Hause nicht, und als ich am Neuen Markt bei einem Bäcker ahnungslos nach einem »Hannoverschen« fragte, einem Graubrot, das mir als »Hannoversches« bekannt war, guckte mich die Bäckersfrau verzweifelt an.



»Welches Brot meinst du denn, mein Junge?«, fragte sie in ihrem pommerschen Singsang, der mich an einen vielzitierten Spruch meines Vaters erinnerte: »Icke, dicke, kiekemol, Ogen, Fleesch un Beene.«



Mithilfe aller anwesenden Kundinnen gelang es mir, ein Brot zu kaufen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem »Hannoverschen« hatte. Dieses Erlebnis war mir so peinlich, dass ich die Bäckerei am Neuen Markt nie wieder betreten habe. Für den Kauf von Brot war fortan meine Mutter zuständig.



Wir warteten also in Stettin auf das Ende des Krieges, und dieses Ende stand offenbar kurz bevor. Auf dem Stettiner Paradeplatz waren Zelte aufgebaut worden, in denen Beutestücke aus dem Westen, vor allem aus Frankreich, gezeigt wurden – darunter Kanonen kleinerer Kaliber, Gewehre und ähnliche Schießwerkzeuge, außerdem französische Uniformen mit den für uns merkwürdigen Stahlhelmen und viele französische Fahnen.



»Ein Land ohne Fahnen«, teilte mir ein älterer Herr mit, »existiert nicht mehr. Darauf kannst du dich verlassen!«



Er schien recht zu behalten, denn während unserer Stettiner Zeit ging der Krieg gegen Frankreich zu Ende. In Stettin wurde das mit einer großen Parade auf dem Paradeplatz gefeiert.



Es hieß, es sei eine Parade von Soldaten, die am Frankreichfeldzug teilgenommen hatten. Die Parade wurde abgenommen von dem uralten Husarengeneralfeldmalschall August von Mackensen. Ob ich den alten Herrn mit seiner charakteristischen Pelzmütze aus dem 19. Jahrhundert gesehen habe, weiß ich nicht. Damals habe ich es mir jedenfalls eingebildet. Tatsächlich muss ich ganz in der Nähe des alten Kriegshelden gestanden haben.



Doch trotz der großen Parade schien der Krieg immer noch nicht zu Ende zu sein. Das jedenfalls teilte uns meine Großmutter aus der Heimat mit. Denn die britischen Aufklärer klärten immer noch auf und machten sich über dem norddeutschen Himmel breit, sodass die Flakgeschütze, wie unsere Großmutter schrieb, die Fliegerabwehrkanonen, die am Rande der Wohngebiete auf Flaktürmen in Stellung gegangen waren, wild um sich schossen.



»Es kann aber nicht mehr lange dauern«, prophezeite meine Mutter und lud uns zur Feier des Tages zu einem Eis ins Café Charlotte ein. Es war ein sehr feines Café in der Breiten Straße. Oft sind wir dort nicht gewesen – meine Mutter musste rechnen.



Mein Lieblingsplatz in Stettin befand sich sowieso nicht in einem Kaffeehaus. Es war ein schöner Sommer, und ich spazierte fast jeden Morgen auf die Hakenterrasse oberhalb des Hafens. Dorthin zog es mich, wenn ich in Ruhe ein Buch aus der nahen Leihbücherei lesen wollte.



Damals lernte ich den deutschen Schriftsteller Ehm Welk und sein Buch »Die Heiden von Kummerow« kennen. Ich habe es mindestens zweimal mit größtem Vergnügen gelesen, ohne zu ahnen, dass Ehm Welk auf der Schwarzen Liste der Nationalsozialisten stand. Die Damen in der Leihbücherei wussten es vielleicht auch nicht, oder sie hatten es ganz schnell wieder vergessen. Denn Ehm Welk hatte als junger Redakteur beim Stettiner Abendblatt gearbeitet. Man kannte ihn möglicherweise persönlich.



Während ich mich über die Erlebnisse der »Heiden von Kummerow« amüsierte, hatte ich immer einen Blick auf den Hafen.



Direkt vor mir hatte das elegante KdF-Schiff »Wilhelm Gustloff« festgemacht. Das Schiff, das 1938 bei Blohm & Voss vom Stapel gelaufen war und bis zu Beginn des Krieges für die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« (KdF) deutsche »Volksgenossen« für wenig Geld als Lohn für ihre Arbeit Kreuzfahrten nach Madeira oder durch die Wunderwelt der norwegischen Fjorde ermöglicht hatte, wartete jetzt auf einen Einsatz als Lazarettschiff. Die 25.484 BRT große »Wilhelm Gustloff« sollte vier Jahre später, gegen Ende des Krieges, ein schreckliches Kapitel Flüchtlingselend schreiben.



Die erfreulichen Tage im Sommer 1940 gingen – wenn man so will – mit einem Paukenschlag zu Ende. Denken Sie nur, in Stettin heulten zum ersten Male während des Krieges die Sirenen. Es war ein grässliches Heulen, das mir noch heute in den Knochen steckt.



Und dann die Hilflosigkeit der Fremden aus dem Nordwesten Deutschlands in der Altstadt von Stettin.



»Was nun? Wo müssen wir hier bei Fliegeralarm eigentlich hin?« Niemand hatte sich darüber Gedanken gemacht.



Die durch den Alarm aufgeschreckten Leute, ganz gleich, ob sie Fremde waren oder Stettiner, trafen sich im Treppenhaus und guckten verzweifelt.



Doch einer wusste Bescheid. Es war – so schien es – der Hauswart.



Er sprach sehr laut und befehlsgewohnt. Er trug eine große Taschenlampe bei sich und befahl: »Mir nach!«



Der Hauswart kannte den Weg in den Keller. Unten angekommen, brachen wir mit unseren Schuhen allesamt im Fußboden ein. Eine Seite des Kellers war nichts weiter als ein mächtiges, dunkles Loch, das uns nicht einmal die Chance gab, das Ende des Loches zu ertasten. Da half auch nicht der Strahl einer großen Taschenlampe.



»Wo führt das Loch wohl hin?«, fragten wir. Keiner wusste es. Der Hauswart allerdings vermutete, das Loch könne zu einem unterirdischen Gang zum Schloss gehören. Wir ließen das auf sich beruhen.



Meine Mutter aber hatte die Nase voll. Sie sagte: »Den nächsten Fliegeralarm warten wir hier nicht ab. Fliegeralarm haben wir zu Hause auch. Aber da haben wir einen vernünftigen Keller, in dem wir nicht mit den Füßen einbrechen.«



Wir haben dann auch den nächsten Fliegeralarm zu Hause erlebt. Wir saßen zusammen mit unseren vertrauten Hausgenossen in unserem Keller, wo alles seine Ordnung hatte. Und wenn Herr Zschernack gute Laune hatte, rief er mich noch oben und zeigte mir am Himmel die englischen Aufklärer.



»Nun aber schnell wieder runter!«



Unser Luftschutzkeller hat uns einigermaßen heil über den Krieg gebracht hat. Nur wenn es ganz brenzlig wurde, suchten wir Schutz in dem für uns zuständigen Tiefbunker einige Straßen weiter.



Der Krieg dauerte allerdings länger, als wir dachten. Als er zu Ende war, lag die Altstadt von Stettin in Trümmern. Von Tante Grete weiß man nur, dass sie einen Platz in einem Massengrab gefunden hat. Stettin heißt nicht mehr Stettin, sondern Szczecin, und ist polnisch geworden. Aber die Hakenterrasse gibt es immer noch.



Im Gleichschritt – Marsch



Tante Cummerow sagte: »Die Uniform bekommst du von uns. Ich hab’ mit Onkel Cummerow schon darüber gesprochen.«

 



Tante Cummerow war eine Nenntante von mir. Wir hatten früher zusammen mit Cummerows in der Kaiser-Wilhelm-Straße auf einer Etage gewohnt. Ihr Mann, ein waschechter Pommer, der einige Jahre bei der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika gedient hatte, war nach seiner Militärzeit mithilfe des Zivilversorgungsscheins bei der Polizei, bei der Schutzpolizei, gelandet. Er war ein Schupo.



Seine Frau sagte: »Wenn man in die Hitlerjugend kommt, gehört eine Uniform dazu – mit allem Drum und Dran. Sonst ist das ja nix.«



Ich freute mich darüber. Denn unsere Oma, die sich normalerweise für unsere Kleidung zuständig fühlte, weil meine Mutter ständig klamm war, litt unter großer Schwerhörigkeit, wenn die Rede auf die HJ-Uniform kam.



»Uniform?«, fragte sie und bekam schmale Lippen. »Du bist ja mal eben erst zehn. Mit zehn trägt man keine Uniform, allenfalls einen Matrosenanzug.«



»Oma!«, rief ich entsetzt. Denn an meinen Matrosenanzug konnte ich mich gut erinnern. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, fügte ich hinzu.



Nun gut, ich wusste ja, dass unsere Oma immer noch hinter ihrem Kaiser Wilhelm her trauerte, der im niederländischen Doorn Holz hackte und seit etwa einem Jahr bewacht wurde von deutschen Soldaten. Allenfalls Hindenburg, den Generalfeldmarschall, der später Reichspräsident wurde, den mochte sie leiden, weil er seinem Kaiser treu geblieben war. Aber Hindenburg lebte nicht mehr.



Von dem Kerl aber mit der »Zahnbürste unter der Nase« hielt sie überhaupt nichts. Den konnte sie ja nicht einmal verstehen. »Spricht der etwa Deutsch?«, fragte sie provozierend. »Das ist doch kein Deutsch!«



Oma hatte eine »Goebbels-Schnauze« in der Küche stehen, einen »Volksempfänger«. Das war ein kleines Radio, das sich jeder »Volksgenosse« für 30 Mark leisten konnte, damit er die Möglichkeit hatte, die Führer-Reden zu hören. Und natürlich die Reden von Joseph Goebbels, dem Reichspropaganda-Minister, dem der Volksempfänger seinen – wenn auch nicht offiziellen – Namen verdankte.



Wenn aber der Führer sprach, drehte Oma das Radio ab.



»Mensch, Oma, du kannst das Radio nicht abstellen. Da spricht doch unser Führer!«, sagte ich.



Und Oma sagte: »Traurig genug!«



Diese Abneigung gegen den Führer und Reichskanzler des Großdeutschen Reiches war im Übrigen so ziemlich das Einzige, was unsere Oma mit unserer anderen Oma verband.



Normalerweise hatten sich die beiden nicht viel zu sagen. Aber wenn sie über Hitler und seine Nationalsozialisten herzogen, hätte sich meine Mutter am liebsten die Ohren zugehalten und unsere, wir waren zwei Brüder, gleich mit.



Oma war in der Waschanstalt des Norddeutschen Lloyd beschäftigt. Sie leitete dort die Nähstube, und einige ihrer Mitarbeiterinnen wurden jeden Morgen aus dem Gefängnis herangekarrt. Sie waren verurteilt worden, weil sie sich, wie sie erzählten, abfällig über die Nationalsozialisten geäußert und sich mit ähnlichem Kleinkram strafbar gemacht hatten.



Die andere Oma, die zu Beginn des Jahrhunderts einige Jahre in den Kolonien gelebt hatte, in Deutsch-Südwest, traute dem Kerl mit dem Scheitel rechts nicht zu, dass er die Kolonien für Deutschland zurückgewinnen werde.



»Der denkt gar nicht daran«, sagte sie. »Der redet nur. Und am Ende wird er sich um Kopf und Kragen reden. Wartet nur ab.« Mit diesen Worten beendete sie ihre politischen Darlegungen.



»Mensch, Oma, wir haben doch genug zu tun, um Europa zu erobern!«



»Wir?«, fragte Oma. »Also ich lieber nicht. Der Kerl kriegt es noch fertig, Russland anzugreifen. Ich kenne die Russen«, sagte sie, denn sie hatte auch ein paar Jahre in Russland gelebt. »Die sind herzensgut. Aber wehe, wenn man sie reizt. An Russland haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen.«



»Deutschland und Russland sind miteinander verbündet«, gab meine Mutter zu bedenken.



»Das kann sich heutzutage schnell ändern«, sagte Oma und die andere Oma nickte. »Bei dem Kerl!«



»Sprich doch nicht so«, sagte meine Mutter.



Die Omas aber fragten: »Wegen der beiden Jungs?« Sie wandten sich an uns und sagten: »Alles, was ihr hier hört, dürft ihr nicht weitersagen. Dann kommen wir ins Gefängnis. Und das wollt ihr doch bestimmt nicht.«



Meine Uniform war also dank Tante Cummerow gerettet – einschließlich Fahrtenmesser, das ich als Pimpf-Anwärter noch gar nicht tragen durfte. Erst nach einem Jahr. Dann wurde ich ein richtiger Pimpf.



Aber Tante Cummerow sagte: »Ein Jahr geht schnell vorbei, und der Dolch wird bis dahin nicht schlecht.« Sie nannte das Fahrtenmesser »Dolch«, was mir aber egal war. Hauptsache, ich hatte das Fahrtenmesser.



Im April 1941, an Führers Geburtstag, kam ich zum Jungvolk – Fähnlein 19, Jungzug 4. Jedes Fähnlein hatte vier Jungzüge. Die Großen bis vierzehn gehörten zum Jungzug 1. Die Kleinen ab zehn waren im Jungzug 4 zusammengeschlossen.



Wir mussten auf dem Schulhof der Neuelandschule antreten – der Größe nach. Dann hieß es: »Stillgestanden!«



Wir standen still, und der Jungzugführer, der zunächst ganz nett wirkte, brüllte: »Das klingt ja wie ein Pott voll Erbsen!«



Danach mussten wir mindestens eine Viertelstunde »Stillgestanden!« üben. Immer wieder »Stillgestanden!«



Der Jungzugführer sagte: »Man steht in Grundstellung still. Grundstellung, was ist das?«



Keiner meldete sich.



»Weiß keiner, was? Die Füße stehen mit den Hacken aneinander.« Er machte uns das vor. »Die Fußspitzen sind so weit auswärts gestellt, dass die Füße nicht ganz einen rechten Winkel bilden. Das Körpergewicht ruht gleichmäßig auf Hacken und Ballen beider Füße.«



»Wiederhol das!«, wandte er sich an einen von uns.



Der arme Kerl musste das wiederholen, was ihm natürlich nicht gelang, was ein großes Gebrüll nach sich zog.



Danach führte der Jungzugführer weiter aus: »Die Knie sind leicht durchgedrückt. Der Oberkörper ist aufgerichtet, die Brust leicht vorgewölbt. Die Schultern stehen in gleicher Höhe. Sie sind nicht hochgezogen. Ich habe gesagt: Nicht hochgezogen! Nicht, Mensch!«



Er wandte sich an mich: »Du stehst da wie ein Fragezeichen in der Landschaft. Weißt du, was ein Fragezeichen ist?«



Ich sagte: »Ja!«



»Und warum stehst du dann so?«



Er erwartete keine Antwort, stattdessen musste er – wie ich sehr viel später feststellte – den angelesenen Text abspulen: »Die Arme sind leicht nach unten gestreckt, die Ellenbogen mäßig nach vorn gedrückt. Die Hände berühren mit Handwurzeln und Fingerspitzen die Oberschenkel. Die Finger sind geschlossen. Der Mittelfinger liegt an der Hosennaht, wisst ihr nicht, was eine Hosennaht ist? Da, wo der Mittelfinger liegt, der Daumen längs des Zeigefingers an der Innenseite der Hand. Habt ihr das begriffen? Und Kopf hoch, Mensch! Ihr lernt es nie!«



Dann wurde »Rührt euch« geübt. Das war nicht ganz so schlimm.



Und »Wegtreten« war das Allerbeste – dann war der Dienst zu Ende.



Kurz vor Ende des ersten Tages im Deutschen Jungvolk wurden wir in Jungenschaften eingeteilt. Zu einem Jungzug gehörten vier Jungenschaften.



Die Jungenschaftsführer waren vielleicht ein Jahr älter als wir – höchstens zwei. Sie waren an einer rot-weißen Schnur zu erkennen, die vom Knopf der linken Brusttasche zu dem auf gleicher Höhe liegenden Knopf der mittleren Knopfleiste führte. Das musste man alles wissen – und zwar genau.



Ein Jungenschaftsführer hatte vier Horden unter sich, und mein Jungenschaftsführer erkannte auf der Stelle, wie ich mir einbildete, meine Führungsqualitäten, denn er ernannte mich zum stellvertretenden Hordenführer, weil ihm keine Hordenführer zur Verfügung gestellt worden waren.



Aufgabe eines Hordenführers war es, jeden Montag und jeden Donnerstag die Hordenmitglieder mit einem vorgedruckten Dienstbefehl daran zu erinnern, dass sie am Mittwoch beziehungsweise am Sonnabend um 15 Uhr zum Dienst anzutreten hätten. Der Befehl endete mit dem fettgedruckten Hinweis: »Erscheinen ist Pflicht!«



Die Befehle musste ich den Mitgliedern der Horde in den Briefkasten stecken. Mein Weg zu ihnen führte mich durch ein Wohngebiet, das als »kommunistisch« verschrien war. Ich konnte mir unter »kommunistisch« nicht viel vorstellen. Die Jungs in dem Viertel wirkten auf mich wie Rabauken, denen ich gern aus dem Wege ging.



Einmal wagte ich es, die Befehle in Uniform auszutragen. Vorsichtshalber fuhr ich mit meinem Fahrrad. Aber ich war nicht schnell genug. Einer der Jungs, die auf mich gewartet hatten, erwischte mich mit einer Metallstange. Es hat nicht wehgetan, aber ich war verwundert, dass es einer gewagt hatte, Hand an mich zu legen.



Denn ich trug doch das »Kleid des Führers«, wie es Helmut Bielefeld, der unter uns wohnte, einmal formuliert hatte. Damals hatte mein jüngerer Bruder den uniformierten Helmut Bielefeld in einem Streit bespuckt. Mein Bruder ahnte nicht in seinem kindlichen Leichtsinn, dass er nicht nur Helmut Bielefeld, sondern das ganze nationalsozialistische Reich mit seiner Spucke besudelt hatte.



Aber zurück zu meinen Aufgaben als stellvertretender Hordenführer. Ich hatte es ziemlich drock (eilig), meiner Pflicht als Führer nachzukommen. Als sich das erste Jahr dem Ende zu neigte, erhielt ich den Befehl, an die Front des Jungzugs zu treten und mit ihm zu exerzieren. Ich musste also kommandieren. Ich war sozusagen Jungzugführer.



Ich sagte: »Stillgestanden!«



»Du musst lauter sprechen. Du musst schreien. So ein Gepiepse hört doch keiner«, brüllte der Jungzugführer.



Ich rief: »Stillgestanden! – Augen – links!«



Aber das war schon wieder verkehrt. Es hätte »Die Augen – links!« heißen müssen.



Der Jungzugführer mäkelte, natürlich sehr laut: »Es heißt: Die Augen links und Augen rechts. Hast du das immer noch nicht kapiert?«



Ich war völlig verunsichert und befahl, natürlich wieder leise: »Augen gerade – aus!« Und weil ich den Jungzug in Bewegung setzen wollte, was auch wohl erwartet wurde, wisperte ich: »Links – um. Im Gleichschritt – marsch!«



Das war die größte Dummheit, mit der ich meine Kommandoleistung krönte. Denn der Marsch endete nach wenigen Schritten an der Schulhofmauer, die als Ziel gar nicht vorgesehen war. Der Jungzug sollte eigentlich in die andere Richtung marschieren. Nämlich nach rechts (rechts ist dort, wo der Daumen links sitzt).



Das wussten sie im Jungzug alle – die Jungenschaftsführer an der Spitze, die Hordenführer und alle anderen auch. Aber Befehl ist Befehl. Und den Befehl hatte ich gegeben.



Der gesamte Jungzug 4 marschierte ungerührt weiter und erreichte nach zwei, drei Schritten die Schulhofmauer. Und weil es nicht weiterging, marschierte der Jungzug auf der Stelle, was ein lächerliches Bild ergab, zumal die letzten Glieder nicht rechtzeitig bremsen konnten und ein Chaos entstand.



Das schien auch der Jungzugführer so zu sehen. Er beendete durch beherztes Einschreiten das von mir angerichtete Unglück mit ein paar laut gebrüllten Befehlen, die ich überhaupt nicht verstand, und schickte mich ins Glied zurück.



Führers Geburtstag 1942 war zumindest an mir ereignislos vorübergegangen.



Damals begannen mit einem Luftangriff auf Lübeck die Alliierten mit ihren Terrorangriffen auf deutsche Städte, während die erwartete Eroberung von Moskau bereits im Dezember gescheitert war. Die deutschen Truppen blieben vor Moskau hängen.



Ich hatte mir von dem Geburtstag des Führers mehr versprochen. Denn ich war nicht zum Hordenführer befördert worden. Alle meine Freunde wurden befördert. Nur ich nicht. Ich blieb nach wie vor stellvertretender Hordenführer.



Der Winkel – Silber auf Schwarz – an meinen rechten Ärmel, das Zeichen des Hordenführers, der fehlte.



Meine Begeisterung für die Hitlerjugend nahm schlagartig ab. Da half auch das Fahrtenmesser nicht, das ich als Pimpf endlich tragen durfte.



Der Tag, an dem mir die Blutfahne

geraubt wurde



»Wir gehören«, sagte unser Jungzugführer mit ergriffener Stimme, »zum Fähnlein 19 und darauf sollten wir alle sehr stolz sein.« Er sagte: »Denn das Fähnlein 19 ist nicht irgendein Fähnlein. Es trägt den Namen eines großen Dichters.«



»Schiller«, sagte einer vorlaut.



»Es gibt auch noch andere große deutsche Dichter«, sagte der Jungzugführer. »Nein, Schiller ist es nicht. Es ist der Dichter Max von Schenkendorf.«



Er ließ seine Worte auf uns wirken und fragte dann: »Nie was von gehört, was?«



Ich brauchte nicht zu antworten. Denn ich war ja schon im vorigen Jahr ins Jungvolk gekommen. Jetzt war ich Führer einer Horde bei den Neuen. Das waren die Zehnjährigen. Ich war immerhin elf.

 



»Max von Schenkendorf«, sagte unser Jungzugführer, »den sollte jeder deutsche Junge kennen. Er hat an den Befreiungskriegen gegen Napoleon I. teilgenommen. Die Befreiungskriege habt ihr bestimmt schon in der Schule gehabt.«



»Ich nicht«, sagte einer.



»Dann weiß man trotzdem Bescheid. Mensch, das war der Krieg gegen die Franzosen unter dem Kaiser Napoleon.«



»Und wer hat gewonnen?«, fragte ein anderer.



»Na, wer schon? Natürlich wi

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