Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute

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Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute
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Der Autor


Prof. Dr. habil. Herbert Meißner wurde 1927 in Dresden geboren. An der Karl-Marx-Universität Leipzig studierte er Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Nach einem fünfjährigen Studienaufenthalt in der UdSSR promovierte er an der Universität Leningrad. Danach baute er an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst als Dozent das Fachgebiet »Geschichte der ökonomischen Lehren« auf und leitete den entsprechenden Lehrstuhl. An dieser Hochschule habilitierte er sich, wonach an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Berufung zum Professor erfolgte. An der Akademie leitete er im Zen­tral­institut für Wirtschaftswissenschaften den Fachbereich Geschich­te der politischen Ökonomie. Die Akademie wählte ihn zu ihrem Ordentlichen Mitglied. Seine über 250 Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen betreffen Wissenschaftsgeschichte, Friedensforschung, Kapitalismuskritik, Wirtschaftspolitik und Revolutionstheorie. Einige seiner Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Als Exekutivratsmitglied der Weltföderation der Wissenschaftler sowie als Mitglied mehrerer internationaler Fachgremien nahm er leitend an der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit teil. Seit seiner Emeritierung ist er Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

Herbert Meißner

Trotzki und Trotzkismus

gestern und heute

Eine marxistische Analyse

2011 • Verlag Wiljo Heinen, Berlin

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Inhalt

Vorbemerkung

1 Weshalb dieses Thema?

2 Wie Lew Dawidowitsch Bronstein zu Leo Trotzki wurde

3 Trotzki zwischen zwei Revolutionen (1905 – 1917)

4 Trotzki und der Rote Oktober

5 Gründer der Roten Armee und Heerführer

6 Die Entstehung des Trotzkismus

6.1 Erste Etappe: 1918 – 1924

6.2 Zweite Etappe nach Lenins Tod

7 Theoretischer und ideologischer Hauptinhalt des Trotzkismus

7.1 Der Übergang von der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen Revolution

7.2 Sozialismus in einem Lande oder permanente Revolution

7.3 Das Problem der Weltrevolution

8 Trotzki und der Stalinismus

9 Die Gründung der IV. Internationale

10 Der Trotzkismus nach Trotzki

10.1 Organisatorischer Aspekt

10.2 Theoretischer Aspekt

11 Trotzkismus in Deutschland

Schlussbemerkungen

Anmerkungen

Vorbemerkung

Leben und Schaffen, politischer Einfluss und revolutionäre Tätigkeit Trotzkis sind so umfangreich und vielschichtig, dass eine ganze Bibliothek entstanden ist von Schriften über ihn, für ihn und gegen ihn. Daraus die wesentlichsten Punkte herauszudestillieren, überzeugend darzustellen und dabei theoretisch noch umstrittene Probleme zu analysieren, ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Aber sie ist einen Versuch wert.

Und noch etwas: dies ist keine Biographie. Wer eine Biographie lesen will, der greife zu den drei Bänden von Isaac Deutscher oder zu den zwei Bänden von Pierre Broué. [1] Auch die Autobiographie Trotzkis steht zur Verfügung, die allerdings – wie jede Autobiographie – deutlich subjektive Färbungen enthält. [2]

Hier geht es um die Überwindung von Klischees, um die Analyse gesellschaftstheoretischer Grundfragen und um die Einschätzung heutiger Wirksamkeit des Trotzkismus.

1 Weshalb dieses Thema ?

Es gibt drei Gründe, um sich aus heutiger Sicht mit Trotzki und Trotzkismus zu befassen. Erstens hat die ideologische Linienführung der KPdSU mittels des Kurzen Lehrganges der Geschichte der KPdSU in allen damals in der Kommunistischen Internationale und später im Kominform-Büro vereinigten Parteien ein fest umrissenes Bild von Trotzki und Trotzkismus geschaffen. Dieses Bild galt auch in der DDR.

Aber auch nach der Offenlegung von Stalins Verbrechen und seiner theoretischen und ideologischen Verzerrungen sind noch manche Reste der damals geschaffenen Klischees in Bezug auf Trotzki und Trotzkismus vorhanden. Das macht eine Klärung vieler offener Fragen notwendig.

In diesen Zusammenhang gehört auch, dass sich in Gesprächen mit jungen, politisch und theoretisch interessierten Kräften zeigt, dass sie über Trotzki und seine Rolle in der Geschichte der Arbeiterbewegung nur sehr verschwommene Vorstellungen haben. Mit dem Begriff »Permanente Revolution« können sie in der Regel gar nichts anfangen. Nun kann man nicht erwarten und auch nicht verlangen, dass sie zu den drei Bänden von Isaac Deutschers Trotzki-Biographie oder zu der in zwei dicken Bänden vorliegenden von Pierre Broué greifen. Es ist also durchaus sinnvoll, ihnen eine bei aller gebotenen Knappheit gründliche marxistische Analyse von Person, politischem Wirken und Theorie sowie bis heute anhaltender Wirksamkeit in die Hand zu geben.

Zweitens ist der Trotzkismus zu einem Bestandteil der internationalen Arbeiterbewegung geworden, hat eine neue Internationale gegründet und sich in vielen Ländern etabliert – insbesondere in den USA, in Irland, Frankreich und Großbritannien. Es gibt aber auch eine deutsche Sektion. Dabei ist bemerkenswert, welch umfangreiche agitatorischen und propagandistischen Aktivitäten entfaltet werden. Der damit verbundene Anspruch wird von Alan Woods im Vorwort zu einer 500 Seiten umfassenden Schrift formuliert: »Wenn diese Anthologie aber eine neue Generation dazu motiviert, sich mit Trotzkis Schriften und Ideen zu beschäftigen, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Sache des Marxismus im 21. Jahrhundert.« [3]

Welche Rolle der Trotzkismus in der heutigen Auseinandersetzung spielt, wie sich seine Programmatik von anderen antikapitalistischen Strömungen abhebt und wie dies von marxistischer Position aus einzuschätzen ist, bedarf ebenfalls der Klärung.

Drittens wird in vielen Analysen des Scheiterns des osteuropäischen Sozialismus angeführt, dass Sozialismus in einem Lande grundsätzlich nicht möglich sei. Als Lehre aus diesem Scheitern wird von Lucy Redler angeführt: »… Sozialismus in einem einzelnen Lande kann es nicht geben.« [4] Exakt gefasst wird wiederholt: »Unterm Strich ist es nicht möglich, in einem auf sich gestellten und wirtschaftlich wie kulturell rückständigen Land Sozialismus zu schaffen«.[5] Auch Gerhard Zwerenz meint: »Aus heutiger Perspektive betrachtet ist Stalins These vom Sozia­lismus in einem Land nachhaltig gescheitert…« [6] Und Harald Neubert meint, dass »… Sozialismus nur in seiner pluralen, internationalen und ökologischen Dimension denkbar ist…« [7] Diese Auffassungen kommen der Trotzkischen Polemik gegen Stalins Konzeption des Sozialismus in einem Lande sehr nahe. Da es daneben auch andere Vorstellungen gibt, ist auch über diese Problematik neu nachzudenken.

 

2 Wie Lew Dawidowitsch Bronstein zu Leo Trotzki wurde

Am 25. Oktober 1879 wurde Lew Dawidowitsch Bronstein in einer Kate mit Strohdach in Janowka in der Ukraine geboren. Er war das Kind jüdischer Siedler, die dort Landwirtschaft betrieben und durch Anbau von Weizen und die Zucht von Pferden, Rindern und Schweinen einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet hatten. Er war schon als Kind sehr begabt und wollte eine höhere Schulausbildung erreichen. Da machte er als Achtjähriger erstmals Bekanntschaft mit dem zu dieser Zeit noch allmächtigen und unerschütterlich erscheinenden Zaren­regime. Es wurde eine Verordnung (Ukas) erlassen, wonach in Form eines Numerus Clausus nur 10% jüdische Kinder an höheren Schulen zugelassen wurden. Durch einen weltoffenen und bildungsbeflissenen Verwandten, der die Fähigkeiten des Jungen rasch erkannte, entstand die Möglichkeit des Besuchs eines Gymnasiums in Odessa. Dort erhielt er eine gute Ausbildung, war stets Klassenprimus und gab mit zwölf Jahren eine Schülerzeitschrift heraus.

Nach dem siebten Schuljahr musste er Odessa verlassen und das letzte Jahr bis zum Abitur in der kleineren Stadt Nikolajew absolvieren. 1896 schloss er die Schule als Klassenbester ab und orientierte sich auf das Studium in Odessa.

In diesen Jahren hatten die Repressionen der Zarenherrschaft gegen die sich immer stärker entwickelnde Unzufriedenheit von Arbeitern und Bauernschaft drastisch zugenommen. Der Widerstand dagegen entfaltete sich in Arbeiterbünden und Vereinen. Der junge Bronstein kam mit oppositionellen Studenten und gebildeten Arbei­tern zusammen und begriff sehr bald die sozialen Wider­sprüche. Er beschäftigte sich zunächst mit den Volkstümlern (Narodniki). Gleichzeitig wuchs der Einfluss des Marxismus. Seinem aktiven Charakter gemäß beteiligte er sich am Aufbau von Arbeiterorganisationen und wurde zu einem kämpferischen politischen Menschen.

Angesichts der immer stärker werdenden Unterdrückung durch das Zarenregime, des wachsenden Widerstands im Volke und des zunehmenden Einflusses des Marxismus schloss er sich diesem immer enger an. Seine politischen Aktivitäten führten 1898 – d.h. mit 19 Jahren – zu seiner Verhaftung und Verurteilung zu 4 Jahren Verbannung nach Sibirien. Dort machte er Bekanntschaft mit der von Lenin herausgegebenen Zeitschrift »Iskra« (Der Funke) und studierte Lenins Werk »Was tun?«. Er nahm in Irkutsk Verbindung zu sibirischen Arbeiterorganisationen auf, schrieb Flugblätter und Zeitschriftenartikel und strebte danach, mit Lenin in Verbindung zu kommen. In Irkutsk traf er mit Dserschinski, Uritzki und Krischanowski zusammen – alles Vertraute von Lenin.

Im Herbst 1902 floh er aus der Verbannung und konnte auf vielen Umwegen London erreichen, wo sich zu dieser Zeit Lenin aufhielt. Eines sehr frühen Morgens – Lenin war noch gar nicht aufgestanden – klopfte er an dessen Wohnungstür.

Und so, wie gemäß der Bedingungen der Illegalität Wladimir Iljitsch Uljanow sich den Kampfnamen Lenin zulegte und Jossif Wissarijonnowitsch Dschugaschwili sich Stalin nannte, hat sich Lew Dawidowitsch Bronstein auf seiner Flucht in einem falschen Pass, den ihm seine Genossen in Irkutsk besorgt hatten, Trotzki genannt. Und dabei blieb es.

In der Literatur wird oft erwähnt, dass Lew Dawidowitsch Bronstein damit den Namen eines Wärters im Gefängnis von Odessa übernommen habe. Aber exakt belegt ist das nicht und von Trotzki selbst wird das nirgends angeführt. Richtig ist sicher wenn Max Eastman hervorhebt, dass ein nichtjüdischer Familienname unter den gegebenen Verhältnissen eine elementare Sicherheitsbedingung war.

3 Trotzki zwischen zwei Revolutionen ( 1905 – 1917 )

Trotzki war zum Marxisten und Revolutionär geworden. Auf Betreiben von Lenin sollte er zum jüngsten Redaktions­mitglied der »Iskra« werden. Und dies neben Plechanow, Vera Sassulitsch, Martow, Potressow und Axelrod. In einem Brief vom 2. März 1903 an Plechanow begründet Lenin seinen Vorschlag der Kooptierung Trotzkis in das Redaktionskomitee der Iskra wie folgt: »Die ›Feder‹ schreibt nicht erst seit einem Monat in jeder Nummer. Er arbeitet für die Iskra mit höchster Energie, hält Referate (mit großem Erfolg). Für Artikel und Notizen ist er uns nicht nur sehr nützlich, sondern geradezu unentbehrlich. Er ist zweifellos ein überzeugter und energischer Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten, der es noch weit bringen kann. Auch auf dem Gebiet der Übersetzungen und der populären Literatur vermag er viel zu tun.« [8]

Von den sechs Redaktionsmitgliedern haben vier dem Vorschlag Lenins zugestimmt. Aber diese Mehrheit kam nicht zum Tragen, da Plechanow sein Veto einlegte und bei Kooptionen Einstimmigkeit erforderlich war. Auf diesem Hintergrund sowie infolge der gegensätzlichen Charaktere von Plechanow und Trotzki kam es zu Widersprüchen zwischen beiden, obwohl der Hauptantagonismus zwischen Plechanow und Lenin bestand.

In diese Zeit fiel die Vorbereitung auf den II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die 1898 gegründet worden war. Bereits bei der Vorbereitung des Parteikongresses entstanden Probleme, bei denen Trotzki in Widerspruch zu Lenin geriet. Es ging um den Vorschlag Lenins, das sechsköpfige Redaktionsteam der Iskra auf die Hälfte zu reduzieren. Ihm ging es darum, in Vorausschau auf die heraufziehenden revolutionären Ereignisse von 1905 die Leitungstätigkeit zu straffen. Trotzki konnte sich dem nicht anschließen, weil dadurch alte und verdiente Parteikader wie Vera Sassulitsch und Axelrod ausgegrenzt würden und eine nicht wünschenswerte Zentralisation einträte. In mehreren persönlichen Gesprächen bemühte sich Lenin um das Verständnis bei Trotzki, was aber nicht gelang.

Im weiteren Verlauf verschärften sich die Differenzen zwischen Lenin und Trotzki im Zusammenhang mit Lenins Bestreben, den Parteiaufbau zu präzisieren und die Kriterien der Parteimitgliedschaft exakt zu definieren und im Parteistatut zu verankern. Trotzki und einige andere Führungspersönlichkeiten stimmten gegen Lenins Vorschläge, die dadurch nicht durchkamen. Aber die Mehrheitsverhältnisse änderten sich, weil die Vertreter der Union jüdischer Arbeiter Litauens, Polens und Russlands – generell kurz als Bund bezeichnet – den Kongress verließen, weil ihre Forderung nach Autonomie in der Partei abgelehnt wurde. Dadurch wurde die Leninsche Gruppierung zur Mehrheit, seine Vorschläge wurden angenommen und es entstanden die »Bolschewiki« und die »Menschewiki«. Trotzkis Resolution mit dem Ziel, die alte Redaktion der Iskra beizubehalten und die Leitungstätigkeit breiter zu gestalten, wurde abgelehnt. Von da an gehörte Trotzki zu den Menschewisten und wurde eine zeitlang zu ihrem Sprecher.

In der heutigen trotzkistischen Literatur ist die Haltung des damals Vierundzwanzigjährigen umstritten. Aber mehrheitlich wird Trotzkis Position in den damaligen Auseinandersetzungen als grober politischer Fehler eingeschätzt, den er erst 1917 korrigierte. [9]

Zunächst setzte Trotzki diesen gegen Lenin gerichteten Kurs fort. Auf der ersten Versammlung der Menschewiki nach dem Parteitag veranlasste Trotzki, die weiter unter der Leitung von Plechanow und Lenin stehende Iskra zu boykottieren. Er beschuldigte Lenin des Jakobinertums. Im August 1904 veröffentlichte Trotzki eine Schrift mit dem Titel: »Unsere politischen Aufgaben«. [10] Er analysiert die Entwicklung der Partei und kommt im Zusammenhang mit der Entstehung der Fraktionen von Bolschewiki und Menschewiki zu äußerst scharfen Formulierungen gegen Lenin. Er macht diesen verantwortlich für die Parteispaltung und bezichtigt ihn der »hemmungslosen Demagogie« [11], des »Zynismus« [12], des »Rückzugs vom Felde des Marxismus« [13] und dass Lenin die Dialektik auf den »Rang der Sophistik« herabsetze [14]. Pierre Broué bemerkt dazu: »Diese unglaublich maßlose Schmähschrift gegen Lenin … stellte später für einen Trotzki, der sich 1917 den Organisationsprinzipien Lenins angeschlossen hatte, ein schrecklich peinliches Dokument dar, zu dem er für den Rest seines Lebens eine große Diskretion bewahrt hat«. [15]

Ungeachtet dieser »Kampfschrift gegen Lenin« [16] versuchte Trotzki in der Folgezeit, die beiden Gruppierungen wieder zu vereinen. Das wurde natürlich durch die oben genannte Schrift behindert und kam auch nicht zustande. Damit hat sich Trotzki von beiden Fraktionen entfernt und nahm lange Zeit eine versöhnlerische Position zwischen ihnen ein.

Aber die Positionen der Bolschewiki und der Menschewiki präzisierten sich immer deutlicher. Es ging nicht mehr um Parteiaufbau, Parteistatut oder Zentralismus, sondern um die Frage, ob in den bevorstehenden revolutionären Ereignissen die Partei die Bourgeoisie unterstützen solle oder auf die Hegemonie des Proletariats hinzuarbeiten sei. Da Trotzki den letzteren Standpunkt einnahm, entfernte er sich zunehmend von den Menschewiki.

Das wurde besonders deutlich, als zu Beginn des I. Weltkrieges die II. Internationale zusammenbrach. Nur eine Handvoll marxistischer Politiker blieben dem Internationalismus treu. An der Seite von Lenin, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und anderen stand Trotzki. Auf der von den Kriegsgegnern 1905 organisierten Konferenz in Zimmerwald nahm Trotzki nicht nur teil, sondern schrieb im Auftrag der Konferenzteilnehmer ein Manifest, das von allen Delegierten einstimmig angenommen wurde. Im Verlaufe dieser Entwicklungen näherte sich Trotzki den bolschewistischen Positionen wieder und immer stärker.

Verallgemeinernd ist also festzustellen, dass Trotzki von 1904 bis 1917 eine Periode von Irrungen und Wirrungen durchlebt hat, die aber 1917 endgültig vorbei war. Dies festzustellen und historisch deutlich einzuordnen ist wichtig, weil Stalin nach Lenins Tod diese Fragen gemäß seinen machtpolitischen Zwecken instrumentalisiert und verfälscht hat.

4 Trotzki und der Rote Oktober

Lenin war beim Ausbruch der Februarrevolution in der Schweiz, Trotzki in New York. Beide nahmen sofort zu den Ereignissen Stellung. Dabei kamen beide zu den gleichen Schlüssen im Hinblick auf die entscheidenden Fragen der Revolution, und zwar Trotzki in seinem Artikel in »Nowy Mir« und Lenin in seinen »Briefe aus der Ferne«. Als Trotzki im Mai 1917 in Petrograd ankam, nahmen Lenin und Sinowjew an der Willkommenszeremonie teil. Raskolnikow erinnerte sich: »Lew Dawidowitsch war zu jener Zeit formell kein Mitglied unserer Partei, aber tatsächlich arbeitete er in ihr ununterbrochen von dem Tage seiner Ankunft aus Amerika an. Jedenfalls betrachteten wir alle ihn nach seiner ersten Rede im Sowjet als einen unserer Parteiführer«. [17]

Trotzki stimmte nach seiner Rückkehr nach Russland sofort vorbehaltlos mit Lenins berühmten April-Thesen überein und unterstützte sie in der praktischen Politik. Auf Grund seiner rednerischen Begabung und seiner schriftstellerischen Aktivitäten wurde er schnell zu einer der führenden Persönlichkeiten der bolschewistischen Partei und nach seinem Eintritt in diese zum Mitglied ihres Zentralkomitees gewählt.

Selten ist die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte für ihren Verlauf so deutlich hervorgetreten, wie in der Oktoberrevolution. Es ist bekannt, dass bei der Vorbereitung der Revolution Kamenjew und Sinowjew gegen Lenin opponierten. Aber auch in der Arbeiterschaft Petrograds gab es Schwankungen und Irritationen. In dieser schwierigen Periode hing die Entwicklung der Revolution von zwei Männern ab: Lenin und Trotzki. Trotzki verteidigte Lenins revolutionäre Linie gegen alle Schwankungen im Führungszirkel der Partei und in der Öffentlichkeit. Als im September 1917 die Bolschewiki die Mehrheit im Petrograder Sowjet errangen, wurde Trotzki zu seinem Vorsitzenden gewählt. Er leitete das Revolutionäre Militärkomitee, das für die Organisation des Aufstandes und vor allem für den Übergang der Soldaten der Petrograder Garnison auf die Seite der Aufständischen die entscheidende Rolle spielte. Das war auch bedeutsam dafür, dass die Mitglieder der Regierung Kerenski ohne Blutvergießen verhaftet werden konnten und im Oktober der Allrussische Sowjetkongress mit bolschewistischer Mehrheit die Macht übernehmen konnte.

 

Ohne hier auf alle Einzelheiten dieser komplizierten Entwicklung eingehen zu können, sei nochmals hervorgehoben, dass Trotzki bei der unmittelbaren Vorbereitung, der Auslösung des Aufstandes und seiner revolutionären Weiterführung stets konsequent an Lenins Seite stand.

Auf Trotzkis Empfehlung fasste das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets am 12. Oktober 1917 den Beschluss, ein Revolutionäres Militärkomitee zu bilden und Trotzki den Vorsitz zu übertragen. Dieses RMK übernahm das Kommando über die Garnison der Hauptstadt, über andere Truppenteile und über die militärischen Einheiten der Partei und der Milizen. Damit wurde er zu einer Art militärischer Oberbefehlshaber, was den Ausgangspunkt für die nachfolgende Gründung und Entwicklung der Roten Armee darstellte.

Über Trotzkis Rolle und Arbeitsweise berichten Zeitzeugen in unzähligen Publikationen das, was Suchanow – eigentlich ein Widersacher Trotzkis – in seinem Buch über das Jahr 1917 wie folgt zusammenfasste: »Trotzki riss sich von der Arbeit im revolutionären Hauptquartier los und stürzte sich in eigener Person von der Obochowski-Fabrik in die Trubochni-Fabrik, von den Putilow-Werken zu den Baltischen Werken, von der Kavallerieschule zu den Kasernen; er schien an allen Plätzen zugleich zu sprechen… Sein Einfluss, sowohl auf die Massen als auch im Stab, war erdrückend. Er war die zentrale Persönlichkeit dieser Tage und der Hauptheld dieser so wunderbaren Seite der Geschichte.« [18]

Am Rande sei erwähnt, dass zu dieser Zeit der Name Stalin im Inland kaum und im Ausland überhaupt nicht bekannt war. Als Beleg dafür mag dienen, dass dem berühmten Buch von John Reed »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« [19] ein Personenregister angefügt ist, in welchem Lenin 63mal, Trotzki 53mal, Kamenjew 8mal, Sinowjew 7mal, Bucharin und Stalin je 2mal erwähnt werden. Lenin hat in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Buches dies »eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse« genannt, die er »in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen« wollte. [20]

Isaac Deutscher hat in seiner Stalin-Biografie nicht nur bestätigt und belegt, dass Stalin im Revolutionsjahr keine herausragende Rolle gespielt hat, sondern auch Gründe dafür angeführt. Er schrieb: »Man findet keine überzeugende Erklärung für Stalins Zurückhaltung oder Untätigkeit in dem Hauptquartier des Aufstandes. Die Tatsache, dass er sich so verhielt, ist merkwürdig, aber nicht abzustreiten« (Seite 226). Und im Hinblick auf diesbezügliche Fragen, die ihm am Vorabend der Revolution gestellt wurden, heißt es bei Isaac Deutscher: »Stalins Antwort ist das Meisterwerk eines Mannes, der einer klaren Stellungnahme ausweicht« (Seite 227).

Zu dieser Zeit (1918) schrieb Rosa Luxemburg: es »waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich habs gewagt! … In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein.« [21] Diese Einschätzung von Rosa Luxemburg bleibt uneingeschränkt gültig!

Noch war der Weltkrieg im Gange. Deutsche Truppen standen tief im russischen Territorium. Die junge Sowjetmacht war mit dem Ruf nach Frieden angetreten und musste diese Forderung jetzt umsetzen. Als Volkskommissar für ausländische Angelegenheiten erhielt Trotzki den Auftrag, mit dem deutschen Oberkommando in Friedensverhandlungen einzutreten. Es ist hinreichend bekannt und in vielen Publikationen beschrieben, dass Trotzki diese Verhandlungen entgegen der Meinung Lenins verzögerte. Er entwickelte die These von einer sofortigen Beendigung des Krieges, der Demobilisierung der russischen Truppen und Einstellung aller Kampfhandlungen, ohne jedoch einen Friedensvertrag mit den darin enthaltenen deutschen Forderungen zu unterzeichnen. Dies lief hinaus auf einen Zustand: weder Krieg noch Frieden. Die deutsche Heeresführung war völlig verblüfft und brauchte Zeit, sich zu positionieren.

Aber auch in der russischen Führung gab es Verwirrung. Eine Gruppe von »Linkskommunisten« mit Bucharin als Wortführer verlangte die Ablehnung aller deutschen Forderungen und die Fortsetzung eines revolutionären Krieges. Lenin entgegnete: »Um einen revolutionären Krieg führen zu können, braucht man eine Armee, und wir haben keine. Unter diesen Bedingungen kann man nichts machen, als die Bedingungen annehmen.« [22]

Da sich Bucharin nicht überzeugen ließ, spitzte Lenin zu: »Es geht darum, heute die deutschen Bedingungen zu unterzeichnen oder drei Wochen später das Todesurteil der Sowjetregierung.« [23]

Nach einigem Hin und Her konnte Lenin seinen Standpunkt durchsetzten. Inzwischen war aber der deutsche Vormarsch weitergegangen. Auf diesem Hintergrund stellte die deutsche Seite neue weitergehende Forderungen und verlangte eine Antwort in drei Tagen. Es wurde eine neue russische Delegation nach Brest-Litowsk entsandt, der Trotzki nicht mehr angehörte. Um den Deutschen die Veränderung der russischen Haltung glaubhaft zu machen, war Trotzki als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten zurückgetreten.

Der am 3. März 1918 unterzeichnete Friedensvertrag führte infolge der von Trotzki verschuldeten Verzögerung zu nachstehenden Folgen: »Das sowjetische Russland musste 44% seiner Bevölkerung und ein Viertel der Fläche des Zarenreiches, ein Drittel seiner Ernten und 27% der Staatseinnahmen, 80% seiner Zuckerfabriken, 73% seiner Eisenproduktion, 75% seiner Kohleförderung und 9000 Industriebetriebe von insgesamt 16.000 abtreten.« [24]

Nachdem Ursachen und Folgen dieser Entwicklung überschaubar und analysiert waren, erklärte Trotzki am 3. Oktober 1918 auf einer ZK Sitzung: »Ich betrachte es in dieser autoritativen Sitzung als eine Pflicht, zu erklären, dass in jener Stunde, als viele von uns, darunter auch ich, daran zweifelten, ob es nötig, ob es zulässig sei, den Brest-Litowsker Frieden zu unterschreiben, nur der Genosse Lenin hartnäckig und mit unvergleichlichem Scharfsinn gegenüber vielen von uns darauf bestand, dass wir durch dieses Joch hindurch gehen müssten, um bis zur Revolution des Weltproletariats auszuharren. Und jetzt müssen wir anerkennen, dass nicht wir Recht gehabt haben.« [25]

Dies war wohl die wichtigste politische Fehlentscheidung Trotzkis, die ihm lebenslang und sicher zu Recht angekreidet wurde und die er sich auch selbst nie verziehen hat.

Übrigens: in der heutigen trotzkistischen Literatur werden die Vorgänge von Brest-Litowsk ebenfalls gern mit »großer Diskretion« behandelt – wenn überhaupt. Alan Woods schreibt darüber einen einzigen Satz: »Nach der Oktoberrevolution wurde Trotzki zum ersten Volkskommissar für Äußeres gewählt und leitete die sowjetische Delegation bei den Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich und Österreich Ungarn in Brest-Litowsk« [26] – und Punkt! Oder: in der Anthologie »Denkzettel« werden im Sachregister für 447 Seiten zwei Angaben gemacht. Auf der einen angegebenen Seite 306 steht überhaupt kein Wort zu Brest-Litowsk. Auf Seite 436 steht, dass Trotzki diese Friedensverhandlungen leitete, dass er am 10. Februar 1918 den Krieg für beendet erklärte und dass die Bolschewiki Anfang März infolge des Vormarsches der Deutschen Truppen die deutschen Friedensbedingungen akzeptieren mussten. [27] Kein Wort über die Verwicklungen und Verluste, zu denen Trotzkis Verhalten geführt hatte. Auch die Trotzki-Biographie von B. M. Patenaude (Berlin 2010) lässt in der fünfzeiligen Erwähnung von Brest-Litowsk auf Seite 31 Trotzki völlig heraus. Solch neuerer Art trotzkistischer Geschichtsbetrachtung muss mit deutlicher Kritik entgegengetreten werden. Wenn man sich zu Recht gegen Stalins Geschichtsfälschungen verwahrt, darf man sich nicht selbst der Geschichtsklitterung schuldig machen.