Das Wunder Mozart

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Das Wunder Mozart
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Harke de Roos

Das Wunder Mozart

in der Aufklärung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 • Der unsterbliche Tod Mozarts und • der vergessene Tod Leopolds

Kapitel 2 • Die Ärzte

Kapitel 3 • Der Thronfolger

Kapitel 4 • Pietro Leopoldo

Kapitel 5 • Leopolds Alleinregierung der Toskana

Kapitel 6 • Joseph

Kapitel 7 • Kaiser Leopold II.

Kapitel 8 • Anton Wenzel Fürst Kaunitz-Rietberg

Kapitel 9 • Das Wundererlebnis als gesellschaftlicher Faktor

Kapitel 10 • Colloredos Kampf mit Mozart

Kapitel 11 • Der vermeintliche Sieg Colloredos

Kapitel 12 • Colloredos Niederlage

Kapitel 13 • Mozarts Ausgangsposition in Wien

Kapitel 14 • Die Entführung in das Serail

Kapitel 15 • Mozarts scheinbare Anpassung an die Wiener Gesellschaft

Kapitel 16 • Rätsel über Rätsel bei Figaros Hochzeit

Kapitel 17 • Der bestrafte Bösewicht oder Don Joseph •

Kapitel 18 • Mozart als wahrer Freund der Frauen

Kapitel 19 • Der wiedergefundene Vater

Kapitel 20 • Von Don Giovanni bis Così fan tutte

Kapitel 21 • Am Scheideweg der Menschheit

Kapitel 22 • Einbruch der Finsternis

Kapitel 23 • Epilog

Impressum neobooks

Kapitel 1 • Der unsterbliche Tod Mozarts und • der vergessene Tod Leopolds

Am 5. Dezember 1791 unserer abendländischen Zeitrechnung starb Wolfgang Amadeus Mozart. Der Tag war wie alle anderen, das Schicksal das eines jeden Sterblichen, und doch handelt es sich um alles andere als ein alltägliches Ereignis. Selten hat ein Todesfall so sehr auf die Imagination der nachkommenden Geschlechter gewirkt wie der dieses einen Mannes. Man weiß ja: Noch keine 36 Jahre war der Meister alt, als er mitten aus der Arbeit gerissen wurde, aus der Komposition einer Totenmesse für einen geheimnisvollen, anonymen Auftraggeber. Nicht einmal die eigene Frau war zugegen, als er zu Grabe getragen wurde und bis heute kennt niemand den genauen Ort, an dem seine sterblichen Überreste ruhen. Zahlreiche Legenden haben sich von Anfang an um die Todesursache gerankt. Noch im Todesmonat erschien in einer Berliner Zeitung die Meldung, dass in Wien Gerüchte zirkulierten, der Meister sei vergiftet worden. Jahrzehnte später geriet der Komponist Antonio Salieri in den Verdacht, Mozart ermordet zu haben. Noch später, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, wurden die Freimaurer und ein betrogener Ehemann des Gleichen bezichtigt. Neuerdings sind sogar die Jesuiten als mögliche Todfeinde des Salzburger Meisters genannt worden. Gewissenhafte Forscher jedoch werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es für einen Mordverdacht nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt. Ihrer Darstellung nach ist das Krankheitsbild des Meisters hinreichend geklärt und der frühe Tod bewegt sich völlig innerhalb des Rahmens der damaligen Lebenserwartung. Auch die Komponisten Purcell, Pergolesi, Chopin, Schubert und Mendelssohn seien ja jung gestorben. Wie Mozart wären auch sie mit Hilfe der heutigen Medizin viel älter geworden. Welchen Sinn hat es, über Mozarts Tod zu spekulieren, wo doch sein Leben eine so reiche Ernte hervorgebracht hat? Ein gewisser Unmut schwingt unüberhörbar mit, wenn etablierte Musikwissenschaftler sich zu den Mordspekulationen äußern. Aber auch sie können nicht leugnen, dass dieser Tod wie kein anderer die Phantasie beflügeln konnte und in dem nun folgenden Buch unvermindert tun wird.

Am 1. März 1792, genau 77 Tage nach dem berühmten Komponisten, starb Mozarts Kaiser Leopold II. Ein größerer Gegensatz in der Art, wie der Komponist und sein oberster Dienstherr bestattet wurden, ist kaum denkbar. Auf der einen Seite stand die Anonymität, auf der anderen Seite die höchste Stufe von Öffentlichkeit. Der Kaiser wurde mit dem pompösen, fast erdrückenden Zeremoniell eines habsburgischen Begräbnisses zur letzten Ruhe gebettet. Seine Familie und der Hochadel begleiteten ihn vollzählig bis in die Kaisergruft, wo er bis heute unter Vorfahren und Nachkommen ruht.

Im Gegensatz zu Mozarts Tod, der wie eine unaufhörlich blutende Wunde immer wieder ins kollektive Gedächtnis zurückgerufen wird, wurde Leopolds Tod rasch vergessen. Kein einziger Gedenktag wurde ihm zu Ehren ins Leben gerufen und nicht einmal Leopolds ältester Sohn, der neue Kaiser, hat die Erinnerung an Leben und Tod des Vaters gepflegt, weder öffentlich, noch im Familienkreis.

Bei solchen krassen Gegensätzen nimmt es nicht Wunder, dass die tiefe Verwandtschaft der beiden Todesfälle der Welt verborgen geblieben ist. Kaum jemandem scheint die Schicksalsverbundenheit von Komponist und Kaiser aufgefallen zu sein. Jedenfalls wurde sie von keinem Autor beschrieben. Es lohnt sich, dieses Versäumnis nachzuholen, denn um die wahren Hintergründe von Mozarts Tod zu erkennen, ist es unerlässlich, beide Sterbefälle in ihrem Zusammenhang zu betrachten.

Bereits bei oberflächlicher Wahrnehmung fällt die zeitliche und räumliche Nähe der Ereignisse auf. Elf Wochen sind kein großes Zeitintervall und die Wiener Hofburg, wo der Kaiser starb, liegt nur wenige Straßen von Mozarts Sterbehaus in der Rauhensteingasse entfernt. Wie Mozart wurde auch Leopold im besten Alter aus intensivster Arbeit weggerissen. Beide Männer starben nach einer kurzen Krankheit, die in beiden Fällen nicht einwandfrei definiert werden konnte. Bei Mozart lautete die ärztliche Diagnose „hitziges Frieselfieber“, bei Leopold „akuter Rheumaanfall“.

Heute weiß man mit Sicherheit, dass beide Diagnosen falsch waren. Nicht nur im Falle Mozarts, auch bei Leopold gab es von Anfang an Gerüchte über eine Vergiftung. Auch wenn diese möglicherweise aus der Luft gegriffen sind, so stellt sich doch die Frage, mit welchem Ziel und von wem sie verbreitet wurden. Die Gerüchte besagten, dass der Kaiser von französischen Emigranten, Freimaurern oder Jesuiten umgebracht worden sei. Auch wurde kolportiert, dass Leopold sich selbst durch einen im eigenen Labor hergestellten Liebestrank vergiftet habe.

Die am stärksten auffallende Übereinstimmung in den Schicksalen von Kaiser und Komponist besteht jedoch darin, dass beide im eigenen Bett gestorben sind, ohne die letzten Sakramente zu empfangen, obwohl sie von prominenten Ärzten betreut wurden, die den Tod rechtzeitig hätten vorhersehen müssen. Nicht genug damit: Die ärztliche Behandlung von Seiten dieser exzellenten Heilkünstler soll nach Meinung kundiger Beobachter von der Art gewesen sein, dass sie den Exitus ihrer Patienten erheblich beschleunigt, ja vielleicht sogar verursacht habe.

Schon Mozarts Ehefrau Konstanze hat in aller Öffentlichkeit die Qualität der medizinischen Betreuung ihres Mannes angezweifelt. Da sie und ihre Schwester Sophie Haibl am Sterbebett zugegen waren, kann man ihre Bedenken ruhigen Gewissens ernst nehmen. Die Verarztung Mozarts mit ausgiebigen Aderlässen, Brechmitteln und eiskalten Umschlägen muss auf die Umstehenden brutal gewirkt haben. Carl Bär, selber Arzt, sagt dazu:

Dass die Aderlässe Mozarts Tod unmittelbar verschuldet haben können, ist eine bisher übersehene, aber in erster Linie in Betracht zu ziehende Möglichkeit.

(Mozart. Krankheit – Tod – Begräbnis. Salzburg 1970)

Wohl gemerkt: „in erster Linie“! Wolfgang Hildesheimer äußert sich in seinem berühmten Mozartbuch kaum weniger eindeutig:

Deshalb erscheint uns diese, anscheinend spontane Anweisung ”kalte Umschläge über seinem glühenden Kopfe” auch so unverständlich. Heute würde jedem Laien einleuchten, dass ein solcher Schock nicht nur dem Sterbenden nichts mehr nütze, sondern den Sterbensakt durch eine radikale Erschütterung beschleunigen müsse, was er auch tat, und zwar so, „dass er nicht mehr zu sich kam, bis er verschieden“ (Sophie Haibl).

Dem Kaiser ist es kaum besser ergangen. Sein Schwager Ferdinand, König von Neapel-Sizilien, sagt es unverblümt:

 

wie ist es denn nur möglich, dass die Ärzte wirklich solche Esel gewesen sind, dass sie die Krankheit nicht erkannt haben, die, wenn man ihren Bericht liest, ein Kind erkannt hätte, und ihn sterben zu lassen wie einen Hund, ohne Sakramente und ohne sein Testament gemacht zu haben?

(Brief an Graf Gallo, Ferdinands Botschafter in Wien)

Auch Erzherzog Johann, einer der Söhne Leopolds, lässt in seinen Memoiren durchblicken, dass sein Vater keineswegs ernsthaft erkrankt war und sich bereits auf dem Wege der Besserung befand, als der Tod ihn plötzlich dahinraffte. Obwohl er den Namen des Arztes nicht nennt, wirft sein Zeugnis kein günstiges Licht auf dessen Behandlungsmethode. Für die Ärzte selbst blieb der Tod ihrer Patienten ohne Konsequenzen. Mozarts Arzt brauchte nicht einmal den sonst üblichen Rechenschaftsbericht vorzulegen und Leopolds Arzt wurde vom Thronfolger Franz sofort als Leibarzt übernommen.

Bis jetzt hat man angenommen, dass die Mediziner nach bestem Wissen und Gewissen handelten und treu den Richtlinien der damaligen Wissenschaft gehorchten. Für diese Annahme gibt es jedoch nicht den geringsten Beweis. Es kann ebenso gut sein, dass die Heilkünstler in voller Absicht handelten, als sie ihre Patienten ins Jenseits beförderten. Zwar lassen sich solche Absichten ebenso wenig beweisen wie ihre angebliche Absichtslosigkeit, aber nichts spricht dagegen, sie als Arbeitshypothese zu unterstellen. Immerhin ist es reichlich naiv, zu glauben, die betreffenden Ärzte hätten mit ihrer fachmännischen Sterbehilfe nur das Beste für ihre Patienten gewollt, es sei denn, man meinte damit, das Beste in einer anderen Welt. Wenn sie es wirklich gut gemeint haben, warum hat man dann kein einziges Wörtchen des Bedauerns von ihnen vernommen?

Als Ausgangspunkt des nun folgenden Buchs wird also die Schuld der beiden Ärzte vorausgesetzt. Zweifellos wird man sich bei dieser Darstellung manchmal fragen, ob sie auch den tatsächlichen Begebenheiten entspricht oder eher ersonnen ist. Vor allem wird man wissen wollen, wo die Wahrheit aufhört und die Mär anfängt.

Die Antwort auf diese Frage ist nicht ermittelbar, nicht einmal vom Autor selbst. Denn beim Übergang von der so genannten Realität zur Fiktion handelt es sich um eine Grenze, deren Verlauf niemals ganz erkennbar ist, weder in den echten Märchen, noch in den präzisesten Abhandlungen der Geschichtswissenschaft. Deshalb ist es in unserem Fall am sichersten, den Inhalt dieses Buches von vornherein als Sage aus längst vergangenen Zeiten zu nehmen, sozusagen als Überlieferung. Nur eines wollen wir dabei nicht aus den Augen verlieren: Diese Zeiten sind, auch wenn sie tausendmal besungen wurden, noch immer aktuell. Sie sind, um nur ein dummes Wort zu gebrauchen, noch lange nicht „vorbei“.

Kapitel 2 • Die Ärzte

Dr. Thomas Franz Closset, so lesen wir bei Carl Bär, wurde am 16. März 1754 in einer deutschen Enklave in Frankreich geboren. Er war also zwei Jahre älter als sein Patient Mozart. Bereits als Zwanzigjähriger erwarb er an der Kölner Universität die philosophische Doktorwürde. Anschließend widmete er sich zwei Jahre lang der Theologie, was möglicherweise bedeutete, dass er „illegal“ zum Jesuiten ausgebildet wurde, denn zu diesem Zeitpunkt war der Jesuitenorden verboten. Dann wechselte er zur Medizin und siedelte 1777 nach Wien über; dort wurde er Schüler des weltberühmten Maximilian Stoll. Closset trat in enge Beziehung zu seinem Lehrer, der vor seiner medizinischen Laufbahn humanistischer Lehrer an einem Jesuitenkolleg gewesen war. Bald stieg er auf zu seinem Assistenten und vertrat den Lehrer bei dessen Privatpatienten, zu denen die einflussreichsten Persönlichkeiten Wiens gehörten.

Nach dem Tod Stolls am 23. Mai 1787 eröffnete Closset eine eigene Praxis und übernahm die meisten Privatpatienten seines Lehrmeisters, wie zum Beispiel die Feldmarschälle Hadik und Laudon. Bereits ein Jahr später wurde er zum Leibarzt des Staatskanzlers Fürst Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg ernannt mit nicht weniger als 1000 Gulden Gehalt im Jahr. Der Hausarzt des angeblich verarmten Mozart war somit Leibarzt des zweitmächtigsten Mannes des Vielvölkerstaates!

Nicht genug damit! Wörtlich steht im Nekrolog des Joseph Andreas Stift (1760-1836):

Ihm (Closset) und seiner Kunst ward auch die hohe Ehre erwiesen, den Consultationen bey der kaiserlichen Familie zugezogen zu werden.

Aus dieser Bemerkung wird klar, dass zwischen Mozarts Hausarzt und den Ärzten, die den Kaiser betreuten, eine enge Verbindung bestanden haben muss. Darin zeigt sich ein möglicher Zusammenhang zwischen den Schicksalen von Kaiser und Komponist.

Closset war nicht der einzige Arzt am Sterbebett Mozarts. Ihm assistierte ein jüngerer Kollege, dem er einstmals das Leben gerettet hatte. Dieser jüngere Kollege hieß Matthias von Sallaba und war ein anerkannter Giftspezialist.

Wie bereits erwähnt, hat Dr. Closset keinen Rechenschaftsbericht abliefern müssen. Die einzige von ihm überlieferte Äußerung über den Krankheitsverlauf seines Patienten bestand darin, dass er sich im Nachhinein damit gebrüstet hat, die Todesstunde Mozarts exakt vorhergesagt zu haben, was wir ihm auch ohne Weiteres glauben.

Der Todesarzt Leopolds hieß ursprünglich Dr. Johann Georg Hasenöhrl. Später ließ er seinen Namen in Lagusius verändern. Lagusius war Schüler des berühmten Erneuerers des österreichischen Gesundheitswesens, Gerhard van Swieten. Dieser Professor, selbst Boerhaave-Schüler aus Leiden, war Leibarzt und persönlicher Berater von Kaiserin Maria Theresia.

Kurz nachdem Lagusius mit einer Dissertation über Fehlgeburten zum Doktor promoviert worden war, wurde er im Jahre 1765 von Maria Theresia zum Leibarzt Leopolds ernannt. Der frisch vermählte Leopold war in diesem Jahr als Regent der Toskana eingesetzt worden. Aus diesem Anlass wurde Lagusius als einer der besten jungen Ärzte dem 18-jährigen Erzherzog auf Lebenszeit zugesellt.

Der große Wiener Historiker und Leopold-Biograph Adam Wandruszka weiß aber zu erzählen, dass Leopold und seine Frau, die spanische Prinzessin Maria Luisa von Bourbon, dem jungen Doktor von Anfang an misstrauten. Maria Luisa bekam ihren eigenen Leibarzt. In den 25 Jahren seiner toskanischen Regentschaft hat Leopold die fachliche Hilfe seines Leibarztes so gut wie nie beansprucht. Der Erzherzog war, abgesehen von gelegentlichen Migräneanfällen und Verdauungsstörungen, die ganze Zeit kerngesund. Zudem neigte er zur Selbsthilfe.

Von einer gegenseitigen Abneigung ist nichts bekannt, aber sie ist angesichts der langjährigen beruflichen Frustration gut vorstellbar. Für den ehrgeizigen Mediziner kann es kaum eine Lebenserfüllung gewesen sein, die besten Jahre fast tatenlos verstreichen zu lassen. Vom ersten Tag seiner Anstellung bis zum Zeitpunkt des Todes seines Dienstherrn waren immerhin 27 Jahre vergangen. Damit soll hier nicht behauptet werden, dass er Leopold aus lauter Frust den Garaus hätte machen wollen. Eine gute Geschichte wäre es allemal: ein Arzt, der nach 27 Dienstjahren zum ersten Mal wirklich gebraucht wird, verweigert seinem ungeliebten Chef die notwendige Medizin und rächt sich durch eine letale Behandlung! Denkbar ist eine derartige Reaktion auf alle Fälle, nur: welche Strafe hätte der Mann nach einer solchen Tat zu erwarten gehabt? Mit Königs- und Kaisermördern wurde damals nicht gerade zimperlich verfahren! Und ebenso wenig mit Versagern.

Und doch war Lagusius’ Versagen offenbar. Seltsamerweise wurde er dafür nicht bestraft, sondern ganz im Gegenteil fürstlich belohnt, indem er zum Leibarzt des neuen Kaisers ernannt wurde. Die Schlussfolgerung aus diesem Paradox ist, dass seine Leistung vom neuen Chef nicht im Geringsten als Versagen bewertet wurde. Vielmehr muss man vermuten, dass Franz sie als eine lobenswerte Tat betrachtet hat. Wenn dies stimmt, wird Lagusius diese Reaktion natürlich im Voraus schon gekannt haben. Das wirft die Frage nach den Kontakten zwischen Arzt und Kronprinz auf. Die Quellen verraten darüber nichts, aber es gilt zu bedenken, dass die beiden bereits Jahrzehnte in demselben Haushalt gelebt hatten. Dass der Vater den Arzt nicht leiden konnte, bedeutet noch lange nicht, dass auch der Sohn eine Abneigung gegen ihn empfunden hätte. Womöglich standen die beiden in einer viel engeren Beziehung, als die Geschichtsschreibung uns verraten hat.

Wir werden auf dieses Thema später noch zurückkommen müssen. Für den Augenblick genügt die Feststellung, dass Lagusius unmöglich auf eigene Faust gehandelt haben kann. Er muss demzufolge im Auftrag anderer oder in Absprache mit anderen gehandelt haben und es ist unsere Aufgabe, herauszufinden, wer diese anderen waren.

Die gleiche Feststellung gilt übrigens auch für Dr. Closset. Ein persönliches Motiv für ein Attentat auf einen der begnadetsten Musiker aller Zeiten ist bei aller Phantasie der Welt nicht auszudenken. Mozart schuldete Closset nichts, war ihm nie in die Quere gekommen und bedeutete keine Gefahr für dessen Leben oder Beruf. Angeblich waren die beiden Männer sogar mit einander befreundet. Höchstens könnte man sich vorstellen, dass Closset als stiller Kämpfer der Jesuiten einen Gegner seines Ordens umbringen wollte oder musste. Immerhin glaubt der Autor Hartmut Perl zu wissen, dass der Komponist ein Todfeind der Kirche und insbesondere des Jesuitenordens gewesen sei, wofür es jedoch nach meinen Erkenntnissen nicht den geringsten Hinweis gibt. Mozart selbst war niemandes Feind. Zweifellos gab es Leute, die ihm feindlich gesonnen waren, aber dazu gehörten bestimmt nicht die Jesuiten. Zum Zeitpunkt seines Todes hatten diese illegalen Ordensbrüder ganz andere Sorgen. Es ist abwegig, ihnen zu unterstellen, sie hätten etwas gegen einen Tonkünstler, der dem Klerus unsterbliche Kirchenmusik geschenkt hatte.

Das Gleiche gilt für die Freimaurer, die bereits um das Überleben ihres Geheimbundes bangen mussten und in der Person Mozarts einen ihrer tatkräftigsten Vorkämpfer besaßen. Beide Gruppierungen sind weit über den Verdacht erhaben, dem Salzburger Meister auch nur irgendetwas Böses gewollt zu haben.

Wenn wir die wirklichen Drahtzieher hinter den Ärzten Closset und Lagusius herausfinden wollen, ist im nächsten Schritt festzustellen, wer Macht über sie besaß. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Mediziner aus religiöser Überzeugung oder wegen einer versprochenen Geldsumme gegen ihr Berufsethos verstoßen hätten. Ganz klar, für diese Männer galt nur Gehorsam als einzig denkbares Motiv für absichtliches Versagen. Und weil uns nur das Denken des Denkbaren zur Aufklärung historischer Kriminalfälle bleibt, wollen wir uns an diese Denkbarkeit halten. Sie allein soll uns zum Leitfaden dienen, unser überprüfbarer Kompass sein.

Kapitel 3 • Der Thronfolger

Die Denkbarkeit als Leitlinie hört sich einfach an und doch lässt sich ein Motiv für die Ermordung Mozarts außerordentlich schwer denken. Auf den ersten Blick ist es absolut nicht ersichtlich, welche Vorteile jemandem aus dem Tod eines Musikers erstehen könnten und ehrlich gesagt: auch nicht auf den zweiten Blick. Die Kenntnis der Hintergründe ist in dieser Hinsicht unerlässlich.

Anders steht es im Falle Leopolds. Für ein Attentat auf einen mit absoluter Macht ausgestatteten Monarchen fällt einem sofort eine ganze Reihe von Motiven ein. Wer an exponierter Stelle der Gesellschaft steht, lebt nun mal gefährlich. Das war damals so und ist heute so. Feinde gibt es für die Hochstehenden immer und jeder Herrscher muss ständig damit rechnen, dass einer dieser Feinde die Besinnung verliert und in einem unbewachten Augenblick zuschlägt. Außerdem droht stets das wohlbekannte Phänomen einer gewaltsamen Machtübernahme, sprich: eines Staatsstreichs.

Unsere erste Frage muss demnach lauten, ob der Thronfolger seine Hand im Spiel gehabt haben könnte. Bis jetzt hat man sie noch nicht gestellt, denn bereits die Frage verstößt gegen alle guten Sitten. Der Gedanke, dass ein habsburgischer Prinz den eigenen Vater umgebracht haben könnte um an die Macht zu gelangen, ist in hohem Maße tabuisiert. In der Tat gibt es auch wenig Anhaltspunkte für eine derartige Annahme. Damit soll nicht gesagt sein, dass Franz bedingungslos den höchsten Maßstäben der Ethik und Moral verpflichtet gewesen wäre. Vielmehr scheint er uns für eine gewaltsame Eroberung des Kaiserthrons nicht machthungrig genug gewesen zu sein. Aus den Beschreibungen seiner Person geht der mangelnde Ehrgeiz eindeutig hervor. Vor allem in den ersten Jahren seiner Regierung machte der junge Herrscher einen unsicheren Eindruck, als empfinde er es als Missgeschick, so früh schon an die Macht gelangt zu sein.

 

Ganz bezeichend für den fehlenden Ehrgeiz ist der Bericht vom Historiker Eduard Vehse im 9. Band seiner Geschichte des Östereichischen Hofs und Adels (1850er Jahre):

Bei dem plötzlichen Tode seines Vaters weigerte Franz sich aus Geschäftsscheu Anfangs entschieden, die Nachfolge anzutreten und erst am zweiten Tage gelang es seinem Beichtvater, dem nachmaligen Erzbischof von Wien, Grafen von Hohenwarth, seinen hartnäckigen Eigensinn mit der Vorstellung zu brechen: dass die Regierung ihm von Gott auferlegt sei und dass er in seinen Gewissen ruhig sein könne, wenn es in allen Dingen der Majorität in seinem Ministerrathe folge“.

Es spricht von selbst, dass dieser Graf Sigismund Anton von Hohenrat, der von 1792 bis 1803 auch Militärbischof von Österreich war, zu den Mitwissern am Attentat auf Leopold II. Gezählt werden muss.

Dazu sollte man bedenken, dass Franz als Heranwachsender kaum in die Lage versetzt worden war, seinen Charakter zu festigen. Weil schon bei seiner Geburt feststand, dass er einst den Kaiserthron erben würde, war seine Erziehung Chefsache. Geboren wurde er 1768 in Florenz als zweites Kind und ältester Sohn von Leopold und Maria Luisa. Das großherzogliche Paar gehörte zu den fürsorglichsten Eltern der Welt und nahm die Erziehung der Kinder überaus ernst. Großmutter Maria Theresia, Kaiserin, und Onkel Joseph, Kaiser, erhoben jedoch ebenfalls Ansprüche auf die Erziehung des „Kaiserlehrlings“. Die dynastiebewusste Maria Theresia und ihr Sohn Joseph, der nach dem Verlust seiner einzigen Tochter kinderlos geblieben war, stürzten sich mit unverhohlenem Eifer auf die Erziehung des nicht sonderlich alerten Kindes. Wandruszka, der Biograph des Vaters Leopold, spricht sogar von Erziehungsfanatismus.

Wenn die drei oder vier Erziehungsberechtigten wenigstens gleicher Meinung gewesen wären, wäre der Schaden sicher begrenzt geblieben. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Großmutter, Onkel und Eltern wichen aber stark von einander ab. Auch die psychologischen Methoden, mit denen auf die Kinderseele eingewirkt wurde, waren nicht einheitlich. Seltsamerweise scheinen sich bei Franz die Auffassungen jener Bezugsperson, die am weitesten von ihm entfernt war, am meisten durchgesetzt zu haben. Sein späterer Regierungsstil zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit dem leutseligen und doch durch und durch autoritären Stil der Großmutter. Mehr noch: sein ganzes späteres Bestreben schien darin zu bestehen, die Uhr zurückzudrehen und die Epoche Maria Theresias wieder auferstehen zu lassen. Für die Reformen des Onkels hatte Franz nichts übrig, noch viel weniger für die gesellschaftlichen Visionen des eigenen Vaters.

Vielleicht wundert man sich darüber, dass Maria Theresia einen so großen Einfluss auf ihren Enkel ausüben konnte. Schließlich starb sie, als Franz erst zwölf Jahre alt war. Außerdem war der geographische Abstand zwischen Wien und Florenz in Anbetracht der damaligen Verkehrsmittel so gravierend, dass von einem kontinuierlichen Einfluss auf die Erziehung nicht die Rede sein konnte. Wer sich aber mit der Person der Kaiserin befasst, wird bald entdecken, dass sie hervorragend mit den Beschränkungen ihrer Zeit umgehen konnte und dass es keine geographischen Hindernisse für die Durchsetzung ihrer persönlichen Ziele gab. Sie war eine Großmeisterin im Delegieren. Ihr Einfluss reichte buchstäblich bis ins Kinderzimmer ihres Enkelkindes und zwar rund um die Uhr. Die beiden „Ajos“, die Kindererzieher des Thronfolgers, waren ihr treu ergeben und unternahmen nichts, was nicht im Sinne ihrer Majestät gewesen wäre. Vor allem in der Person von Franz Colloredo-Waldsee konnte sie sich einen über den eigenen Tod hinaus bleibenden Einfluss auf den Kronprinzen sichern. Dieser Ajo, ein etwas finsterer Jesuit, war Neffe ihres Vizereichs kanzlers Rudolf Joseph Fürst von Colloredo-Mansfeld, eines Feudalherrn wie aus dem Bilderbuch.

Wie sehr Franz an seinem Erzieher hing, geht schon daraus hervor, dass er ihn nach seinem Amtsantritt zum engsten Berater ernannte und als „geheimen Kabinettsminister“ an die Spitze der Kabinettskanzlei stellte. Diese Kanzlei wurde zum obersten Regierungs- und Beratungsorgan des unsicheren Herrschers aufgewertet. Bis zu seiner Entlassung im Jahre 1805 blieb Franz Colloredo die Schlüsselfigur im Zentrum der Macht. Charakteristisch für ihn war, dass er sich trotz seiner Stellung niemals in den Vordergrund drängte. Der Nachwelt blieb er völlig unbekannt, fast unsichtbar.

Es spricht für sich selbst, dass Graf Colloredo und Lagusius sich sehr gut gekannt haben müssen. Sie hatten sich Jahrzehnte lang im selben Haushalt aufgehalten, wo sie viel, sehr viel Zeit hatten, sich mit einander zu unterhalten. Theoretisch wäre es sogar denkbar, dass die beiden Männer auf eigene Faust einen Griff nach der Macht unternommen und das Attentat auf ihren obersten Herrn geplant hätten. Aber nein, eine solche Variante wollen wir gar nicht in Erwägung ziehen: ein Kinderzimmer, das zur Kommandozentrale einer europäischen Großmacht wird! Gleichwohl, was immer Colloredo und Lagusius auch für Pläne geschmiedet haben, man darf vermuten, dass sie fortwährend in engster Tuchfühlung mit dem Thronfolger gestanden haben.

Damit sind wir wieder bei Franz und bei dem Problem, dass man sich ihn nicht als machthungrigen Vatermörder vorstellen kann. Wenn der Kronprinz wenigstens ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt hätte, wäre es leichter, ein Szenario auszudenken, in dem der Sohn gegen den übermächtigen Vater rebelliert und dabei dessen Leibarzt zur Mordwaffe instrumentalisiert hätte. Aber davon kann gar keine Rede sein. Die Beziehung zwischen Leopold und Franz war ausgesprochen herzlich. Der Kaiser hielt bis zu seinem Tod große Stücke auf seinen Ältesten und bezog ihn, wo er nur konnte, in die Regierungsgeschäfte mit ein. Wenn er auf Reisen ging, ernannte er Franz zu seinem Stellvertreter und hin und wieder beauftragte er ihn mit ausgesprochen heiklen Aufträgen, wie zum Beispiel mit der geheimen Aktion unter dem Decknamen „Babel“, von der später noch die Rede sein wird. Allerdings ist klar, dass er sich dabei arg in der politischen Einstellung des Thronfolgers verschätzte. Leopold mag vielleicht ein scharfsinniger Beobachter gewesen sein, den eigenen Sohn hat er schlecht gekannt.

Wie weit die Welten von Vater und Sohn auseinander klafften, zeigt sich auf eindrucksvolle Weise im Regierungsstil des neuen Herrschers, der eine radikale Abrechnung mit den Zielen des Vorgängers bedeutete. Von einem Tag auf den anderen gab es eine scharfe Kehrtwendung in der Politik Österreichs, einen Rechtsruck, wie er nicht nachhaltiger hätte ausfallen können. Nicht nur die Politik des Vaters, auch seine Privatsphäre wurde vom Sohn demontiert. Eigenhändig soll Franz die Briefe Leopolds verbrannt haben, wie es heißt in größter Eile. Die schöne Römerin Livia Raimondi, Geliebte des Vaters, wurde vom ihrem – außerehelichen – Sohn Luigi getrennt und zurück nach Florenz geschickt. Bis dahin hatte sie einträchtig mit der Kaiserin in der Hofburg gelebt, aber Maria Luisa starb wenige Monate nach ihrem Mann und konnte somit nicht länger ihre schützende Hand über die Nebenbuhlerin halten. Livia sah ihren Sohn nie wieder, denn, was vielleicht voraus zu sehen war, Luigi ist in Wien nicht sehr alt geworden.

Die Abwendung von den Zielen des Vaters und das Totschweigen von dessen Leben und Wirken werfen kein günstiges Licht auf die Integrität des neuen Kaisers. Jedenfalls sind derartige Eigenschaften nicht geeignet, unseren Verdacht gegen Franz völlig aus dem Weg zu räumen. Was für einen Charakter hatte dieser Mann? Steckte in ihm nicht doch ein heimlicher Vatermörder? Wie hielt er es mit Moral und Gesetz? Vom Vater Leopold hatte er gelernt, dass jedermann vor dem Gesetz gleich sein sollte, auch der Kaiser selbst, ja gerade er. Wie kein anderer solle der Monarch dem Gesetz verpflichtet sein, denn auf seinen Schultern ruhe die Verantwortung für die Rechtsstaatlichkeit des Reiches.

Die Großmutter jedoch hatte andere Ansichten. Nach der Auffassung Maria Theresias stand der Monarch über dem Gesetz und demnach auch über der Moral. Der Absolutismus verlieh dem Herrscher unbeschränkte Vollmacht über die Gesetze, mittels deren das Volk zur Ordnung angehalten werden sollte. Er personifizierte selbst das Recht und konnte deshalb nicht gegen das Recht verstoßen.

Allerdings kannte Maria Theresia auch Pflichten, die sie für sich gelten ließ. Ihre oberste Pflicht bestand darin, die Dynastie zu erhalten und zu diesem Zweck alle Gefühle, die normale Sterbliche haben dürfen, unerbittlich zu unterdrücken. Jedes Mitglied der Dynastie war streng verpflichtet, auf Privatglück zu verzichten, wenn es darum ging, die Herrschaft zu sichern oder das Staatsgebiet zu vergrößern. Für die Familienmitglieder gab es selbstverständlich keinen Anspruch auf Eheglück, aber das war noch das wenigste. Auch das individuelle Leben war im Ernstfall nicht von Bedeutung gegenüber den Interessen der Dynastie. Auch für Kaiser Franz war die Sicherung der Dynastie höchstes Ziel, das alle Mittel zu heiligen schien, sogar das Mittel des Opfers eines Familienmitglieds. Am deutlichsten trat diese Eigenschaft hervor, als Franz die eigene Tochter dem Erzfeind Napoleon zur Frau gab. Weniger deutlich ist seine Rolle beim Tod seines Vaters oder seines Enkels, des Königs von Rom. Fürs erste wollen wir wissen, ob er dem Leibarzt seines Vaters den Auftrag gegeben haben könnte, den eigenen Dienstherrn mit medizinischen Mitteln umzubringen. Denn unsere Arbeitshypothese ist ja, dass Lagusius Leopold absichtlich die falsche Behandlung verabreicht hat, als dieser keineswegs lebensgefährlich erkrankt war.