Man hat's nicht leicht, so als Student

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Man hat's nicht leicht, so als Student
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Zum Autor: Hans Hüfner (1926-2009) wurde in der Kleinstadt Groitzsch südlich von Leipzig geboren. Der Krieg unterbrach seine Schulzeit auf St. Augustin zu Grimma/Sachsen, denn die Schüler des Jahrganges 1926 gehörten zu jenen jungen Menschen, welche ab Februar 1943 als Luftwaffenhelfer für den „Flak-Dienst“ der Leuna-Werke eingesetzt wurden. Ein sich anschließender „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) führte ihn nach Ostpreußen. Offensichtlich gehörte es zum ungeschriebenen Gesetz, sich als Schüler einer höheren Schule zur Ausbildung als Reserveoffizier zu melden. Mein Vater absolvierte ab Juni 1944 seine Ausbildung beim Regiment der Hoch- und Deutschmeister in Brünn. Nach Marschbefehl verließ er am 2. April 1945 seinen Standort Znaim und kam nach vielen Wegen und Umwegen schließlich am 12. Mai 1945 in seiner Heimatstadt Groitzsch an. Dort erlernte er bei der Firma Sebastian das Maurerhandwerk, welches er mit der Gesellenprüfung im März 1947 abschloss. An Arbeit mangelte es durch die vielen Kriegszerstörungen nicht. Später studierte Hans Hüfner ab dem Wintersemester 1948/49 Architektur an der Technischen Hochschule in Dresden. Nach Beendigung des Studiums 1954 arbeitete er bis 1991 als Architekt in Dresden. Schon von frühester Jugend an schrieb er seine Erlebnisse und Eindrücke auf, so dass seine Studentenerlebnisse überwiegend auf Kalender- und Tagebuchaufzeichnungen sowie zahlreichen Briefen basieren.

Zur Herausgeberin: Claudia Stosik, geb. 1961 in Dresden, Tochter von Hans Hüfner, Studium der Geschichte, Kulturwissenschaften und Literatur an der staatlichen Fernuniversität Hagen. Masterarbeit über die Schulklasse ihres Vaters: „Die Kriegsjahre 1943-1944 und die Fürstenschüler von St. Augustin zu Grimma – Schuljahrgang 1939-1945“

Veröffentlichungen:

• Beitrag beim

Ideenwettbewerb der Deutschen Gesellschaft e.V., Werte und Wertewandel, Berlin 2012

• Schicksale im Ersten Weltkrieg – Erinnerung und Gedenken an Menschen in Dresden-Pieschen, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2016

• (Hg.) Kuriose Grenzgeschichten – Mai 1945 bis November 1989, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2017

• (Hg.) Wir sind im Land unserer Träume…

Eine Reise von Dresden nach Italien im Sommer 1957, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2018

Dresden, Juni 2018

Hans Hüfner

Claudia Stosik (Hg.)

MAN HAT’S NICHT LEICHT, SO ALS STUDENT

ARCHITEKT WOLLTE ER WERDEN

ZEITGESCHICHTE DER JAHRE 1948 BIS 1954

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei Autor und Herausgeberin

Titelbild:

Der Autor am Strand von Ückeritz/Usedom 1952

Die Technische Hochschule Dresden

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Zum Autor

Zur Herausgeberin

Titel

Impressum

Vorbemerkung

Ergänzende Gedanken der Herausgeberin

Die Vorstudienanstalt

Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone

Unterricht nach fünfjähriger Pause

Verbotene Zeitschriften

Währungsreform

Studentenzeit 1948 – 1954

Architekturabteilung TH Dresden bis zum Vordiplom

Die Studentenbude

Der Untermieter

Wie man so lebte als Student

Trümmerfelder und Ruinen

Stipendium

Das zweite Semester

Die Vollgummibereifung

Freizeitaktivitäten – Der „King“

Minnedienst und Westmargarine

Freizeitaktivitäten – Theater

Semesterferien – Wildost im Erzgebirge

Grenzgeschichten

Gründung der DDR

Optimistische Tragödie

Das vierte Semester

Kunstgeschichtliche Exkursion

Vordiplom

Die Zweite, die größere Hälfte auf dem Weg zum Diplom

Veredelnde Elemente

Die Architektur in den Fünfziger Jahren

Semesterferien in Ückeritz

Berlin Bauakademie

Abschluss in Wilschdorf

Volksarmee!!!

Himmelfahrt

Luftmatratzen

Sperrzonen und Spione

Sommer 1952

1952 – die zweite Fahrt

Kündigung – die Hundebude

17. Juni 1953 – Volksaufstand

Der letzte Urlaub als Student

Finale

Dies Ater

Nachbemerkung des Autors

Erwähnte Literatur

Zeitungen/Internet

Quellen

persönliche Quellen

Bildnachweise

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

VORBEMERKUNG

Drei Jahre lag das Kriegsende zurück, als im Herbstsemester 1948 die Vorlesungen begannen. „Man hat’s nicht leicht, so als Student“, das ist nicht nur ein klangvoller Titel für meine Aufzeichnungen, es war wirklich so. Wir haben gehungert, gefroren, meine Kleidung bestand aus einer dunkelblau eingefärbten englischen Armeeuniform, und der allgemeine Mangel beherrschte unser Leben. Im Mittelpunkt meines Berichtes sollen aber weniger diese zeitbedingten Probleme stehen, sondern die überwiegend positiven Erinnerungen an unsere Studentenzeit.

 

Architekt wollte er werden“, 1948 – 1954, das waren die Jahre des Studiums an der Architekturabteilung der Technischen Hochschule Dresden. Schon gemessen an der Zeitdauer, war das ein bedeutsamer Abschnitt meines Lebens.

Wir wussten schon damals unsere relative Freiheit und Unabhängigkeit zu schätzen. Es sind keine allein auf Grund der zeitlichen Distanz von mehr als einem halben Jahrhundert verklärte Erinnerungen. Deshalb habe ich auch nie darüber geklagt, dass ich um meine Jugend betrogen wurde. Wir mussten auf manches verzichten, aber wir haben unsere bescheidenen Möglichkeiten optimal genutzt und gerade das hat uns Erlebnisse beschert, wie sie jetzt nicht mehr denkbar sind. Das hat sicher auch dazu geführt, dass in meinen Betrachtungen weniger die fachlichen Probleme unserer Studentenzeit im Vordergrund stehen. Basis meiner Publikation sind zeitgenössische Aufzeichnungen aus Tagebüchern, Briefen und Kalendern.

Sinngemäß trifft das auch auf die Jahre meiner praktischen Tätigkeit als Hochbaupraktikant, als Architekt in volkseigenen Projektierungsbüros zu. 37 Jahre habe ich damit zugebracht, am laufenden Bande Bauprojekte der verschiedensten Art zu produzieren.

Dresden, Oktober 2007

Hans Hüfner

ERGÄNZENDE GEDANKEN DER HERAUSGEBERIN

Mittelpunkt dieser Publikation sind Erlebnisse und Ereignisse in den 1950er Jahren, die, nach den schweren Kriegszeiten, für den Autor sehr abwechslungsreiche Jahre im positiven Sinne waren. Zum Anfang soll im Kapitel Vorstudienanstalt eine kurze Einführung erklären, warum nicht sofort nach Kriegsende ein Studium aufgenommen werden konnte. Zum Studienbeginn im Oktober 1948 war mein Vater bereits 22 Jahre alt, hatte allerdings schon eine Maurerlehre absolviert. Die Zeit zwischen dem Kriegsende und Studienbeginn, welche in dieser kleinen Publikation nur gestreift wird, war ereignisreich. Sie war nicht nur von Hungerjahren geprägt, sondern stellte auch schon so manche Herausforderung und Mut zu Entscheidungen an den jungen Protagonisten. Vorzeitig aus der Schule in Grimma im Februar 1943 zum Flak-Dienst für die Leunawerke abkommandiert, später Reichsarbeitsdienst und Wehrmachtsausbildung, musste im Sommer 1945 die persönliche und berufliche Situation von Hans Hüfner eine Neuorientierung erfahren.

Viele Episoden beschreiben auf humorvolle Art, wie der nicht immer einfache Alltag gemeistert wurde. Auch zahlreiche Vergnügungen und der Urlaub kamen nicht zu kurz. Mit dem Fahrrad fuhren die Studenten mehrere Jahre in Folge während der Semesterferien an die Ostsee. Die kurzweiligen Reisebeschreibungen geben beiläufig Eindrücke vom Leben im Nachkriegsdeutschland. Unterwegs sahen die Studenten noch vielerorts Ruinen, auch kleine Landstädtchen, welche oftmals zum Ende des Krieges noch sinnlos zerstört wurden. Es ist eine Zeit des Mangels und der Entbehrung, aber wie es mein Vater selbst beschrieb, war es eine interessante Zeit. Vielleicht lag es auch daran, dass die Studenten in seinem Semester alle noch den Krieg in seiner letzten Phase unfreiwillig miterleben mussten, auch die schwierige Zeit zwischen 1945 und 1947 meistern mussten und daher um so hoffnungsvoller einen Neustart begannen.

Von den Zeitzeugen aus jenen Jahren, die man befragen könnte, leben nur noch wenige. Ich greife deshalb auf die stummen Zeugen aus diesen Jahren zurück – Briefe –, die damals geschrieben, gesammelt und sorgfältig aufbewahrt wurden und somit für die Nachgeborenen erhalten blieben. Ergänzend zum Text meines Vaters geben diese Briefe doch persönliche Eindrücke des Schreibenden wieder. Jeder Mensch erlebte Ereignisse wie beispielsweise den 17. Juni 1953 sehr unterschiedlich, doch meist sind die persönlichen Sichtweisen auf das Geschehen nicht auf’s Papier gebracht worden. Dieses Ereignis und andere politische Höhepunkte fanden in jenen Jahren des Studiums meines Vaters statt und sollen deshalb nicht unerwähnt bleiben.

Übergangslos beginnt nach dem Studium der „Ernst des Lebens“, in dem die erworbenen theoretischen Kenntnisse und Fähigkeiten zur praktischen Ausübung in volkseigenen Betrieben angewandt werden konnten. Das Berufsleben wird an dieser Stelle nicht aufgeführt, jedoch schienen die ersten beiden Arbeitsstellen interessant gewesen zu sein und das nicht nur auf Grund der Arbeit, sondern auch auf Grund der gemeinsamen Ausflüge und Veranstaltungen der Arbeitskollegen. Zeigen sie doch einen kleinen Ausschnitt des Lebens im Ostteil Deutschlands zu einer Zeit, die noch lange von den Folgen des Krieges geprägt war. In einer folgenden Publikation könnte dieses Thema ausführlicher zu Wort kommen.

Die Lebensmittelkarten wurden erst Ende der 1950er Jahre für immer abgeschafft. Aber was danach folgte, die Mauer, war noch einschneidender für die Menschen.

Dresden, Juni 2018

DIE VORSTUDIENANSTALT
KREISKOMMISSION LEIPZIG

6. Januar 1948, Rückkehr auf die Schulbank nach fünfjähriger Unterbrechung. Bereits drei Jahre zuvor, Ostern 1945, sollte ich meine Schulzeit an der Fürstenschule St. Augustin zu Grimma mit dem Abitur abschließen. Aber die Verhältnisse ließen das nicht zu im Frühjahr 1945. Immerhin hatte ich die letzten Wochen des Krieges unverletzt überlebt. Dass uns die Russen nach der bedingungslosen Kapitulation nach Hause geschickt hatten und nicht nach Sibirien, grenzte fast an ein Wunder, hat mir Jahre der Gefangenschaft erspart. Dass ich nun hier, an einer „Vorstudienanstalt“, mit einer Verspätung von vier Monaten noch antreten durfte, um die Hochschulreife zu erwerben, war ein weiteres Wunder.

Nach meiner Entlassung aus der Wehrmacht, welche laut amerikanischem „Certificate of Discharge“ am 11. Juni 1945 erfolgte, hatte ich ausreichend Zeit und Muse, darüber nachzudenken, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Irgendwie musste ich ja versuchen, meinen Lebensunterhalt durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Die Entscheidung, Maurer zu werden, war kein Zufall. Ein Bauberuf war schon früher einmal in die engere Wahl gezogen worden. Den letzten Anstoß lieferten aber die deutschen Trümmerfelder, die der Krieg hinterlassen hatte, eine Garantie dafür, dass zu meinen Lebzeiten die Arbeit nicht ausgehen würde.

Ich hatte zunächst nun das Nahziel, die Berufsausbildung als Maurer abzuschließen. Am 20. August 1945 begann ich meine Arbeit als Maurerlehrling in der Firma „Baumeister Friedrich Sebastian“ in Groitzsch. Den Lehrvertrag musste mein Vater unterschreiben, weil ich vor dem Gesetz nicht als mündig galt. Kein Mensch wusste, ob und wann die Bauschulen ihren Lehrbetrieb wieder aufnehmen würden.


Arbeit als Maurerlehrling u. a. beim Aufbau des Bahnhofs in Groitzsch bei Leipzig

Auch die Zusage, dass wir eines Tages ohne Prüfungen und sonstige Formalitäten nach der Entlassung aus der Wehrmacht einen „Vorsemestervermerk“ erhalten würden, war mit dem Ende des Dritten Reiches hinfällig geworden.

Wider Erwarten wurde bereits im Oktober 1945 an der Fürstenschule zu Grimma mit der Bildung einer Abiturientenklasse der Unterrichtsbetrieb wieder aufgenommen. Ich hatte auch eine entsprechende Einladung erhalten, mich aber dann doch entschieden, die begonnene Berufsausbildung nicht abzubrechen, auch weil ich das damals als Grundlage für ein Fach- oder Hochschulstudium betrachtete. Einige meiner früheren Klassenkameraden, mein Freund Günther F. gehörte dazu, hatten diese Möglichkeit genutzt, im Mai 1946 das Abitur abgelegt und bereits im Herbst 1946 das Studium an einer Hochschule aufgenommen. Ich konnte meine Berufsausbildung als Maurer erst im Frühjahr 1947 mit der Gesellenprüfung abschließen. Etwa zur gleichen Zeit wurde in der Presse durch eine „Kreiskommission Leipzig zur Förderung des Arbeiterstudiums und minderbemittelter Studenten und Schüler“ für die Teilnahme an einem Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium geworben. Ohne Zweifel konnte ich als hochgradig minderbemittelt gelten, was meine finanziellen Verhältnisse betraf und sowohl meiner Herkunft als auch meiner beruflichen Tätigkeit nach, betrachtete ich mich als Arbeiter, als was sonst. Deshalb glaubte ich, die erforderlichen Voraussetzungen zur Teilnahme an diesem Vorbereitungslehrgang zu erfüllen. Ich hatte aber nicht bedacht, dass es noch weitere Auswahlkriterien geben könnte.

Mit einer Arbeitsverpflichtung, „bis auf weiteres als Hilfsarbeiter beim Arbeitsamt Aue“, die mir in den Abendstunden des 19. Juli 1947, einem Sonnabend, die Volkspolizei ins Haus brachte, wurde diese Bewerbung praktisch gegenstandslos. „Bis auf weiteres“ konnte im ungünstigsten Falle auch lebenslänglich sein und weil „lebenslänglich als Hilfsarbeiter“ keine besonders attraktive Perspektive für meine Zukunft verhieß, machte ich mich, statt nach Aue, in westlicher Richtung auf den Weg. Um mich dieser unbefristeten Arbeitsverpflichtung in den Uranbergbau zu entziehen, hatte ich im Juli 1947, nicht ganz freiwillig, die sowjetische Besatzungszone verlassen und war in die britische Besatzungszone über gewechselt. Dort erreichte mich, von meinen Eltern nachgesandt, ein Schreiben mit folgender Begründung:


Schreiben der Kreiskommission Leipzig vom 1. September 1947

Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie für den III. Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium Herbst 1947 nicht zugelassen werden konnten.“

Grund:

Sie scheinen sich am Neuaufbau nicht aktiv zu beteiligen, da Sie weder der FdJ noch einer der antifaschistischen Parteien angehören.

Der „Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium“ war damit für mich kein Thema mehr, was mir schließlich auch durch diese Kreiskommission schriftlich bestätigt wurde. Was mich veranlasste, noch einmal an diese Kreiskommission zu schreiben, war die Begründung der Ablehnung. Ich gehörte ja tatsächlich keiner Partei an, aber was meine Beteiligung am Neuaufbau betraf, da meinte ich, meinen Beitrag unter schwierigsten Bedingungen geleistet zu haben. Offenbar spielte das aber nur eine untergeordnete Rolle und wog das nicht vorhandene Parteibuch nicht auf. Ich verfasste mein Schreiben, kein Gnadengesuch, mit kritischen Betrachtungen zu den Gründen für die Ablehnung, verbunden mit der Bitte um Stellungnahme. Eine Stellungnahme gab und gibt es gewöhnlich in solchen Fällen nicht. Stattdessen wurde ich am 15.11.1947 ganz überraschend durch ein Telegramm informiert, ich solle am 17.11.1947 in Leipzig zur Prüfung erscheinen. Weil ich zu dieser Zeit infolge eines Unfalls im Bett lag und nicht laufen konnte, musste ich absagen, was ich als endgültigen Schlusspunkt betrachtete. Nun dieses Telegramm, das am Heiligen Abend in Ringelstein1, meinem damaligen Aufenthaltsort, eintraf. Sein Inhalt:

„Komme nach Hause, da zugelassen zum Lehrgang der Vorstudienanstalt. Unterrichtsbeginn am 6. Januar. Dein Vater Paul Hüfner2

***

RÜCKKEHR IN DIE SOWJETISCHE BESATZUNGSZONE

Diese Weihnachtsüberraschung bescherte mir eine unruhige Nacht, Zweifel kamen auf. Aber im Verlauf der nächsten Tage rang ich mich durch, in die SBZ zurückzukehren. Immerhin war damit das Risiko verbunden, dass die angedrohten Strafen wegen Nichtbefolgens der Arbeitsverpflichtung wirksam werden könnten. Am Silvestertag verließ ich mein Domizil in Ringelstein, um in der Neujahrsnacht zwischen Eichenberg und Arenshausen im Eichsfeld über die Grenze zu gehen. Zweifellos war das ein Zeitpunkt, der das Unternehmen außerordentlich begünstigte. Das neue Jahr wurde eingeläutet, als der Zug in Hedemünden an der Werra einlief, und kurz nach Mitternacht stand ich, zunächst ziemlich einsam, in der Schalterhalle des Bahnhofs Eichenberg, mit den besten Vorsätzen für das neue Jahr und in der Hoffnung auf einen glücklichen Grenzübergang. Offenbar war nicht schwer zu erkennen, welches Vorhaben mich zu so außergewöhnlicher Stunde an diesen Ort verschlagen hatte, denn es dauerte nicht lange, da hatten sich ein paar Schicksalsgenossen zusammengefunden, die wie ich, die Gunst der Neujahrsnacht für ihre Zwecke nutzen wollten.

Es war eine ruhige mondhelle Nacht, der Boden war hart gefroren, stellenweise lag noch etwas Schnee, und wir schienen tatsächlich weit und breit die einzigen Menschen zu sein. Bis Hohengandern, bereits in der Ostzone, marschierten wir an einem Bahndamm entlang, der keine Gleise mehr trug, unbehelligt von Grenzwächtern beider Seiten. Von Arenshausen, der ersten Bahnstation jenseits der Grenze, hofften wir, im Laufe des Tages mit der Eisenbahn weiterzukommen. Aber der Fahrplan besagte, dass an Sonn- und Feiertagen der Zugverkehr ruhe, dass wir demzufolge noch über 26 Stunden warten müssten. Am Neujahrsmorgen gegen 3 Uhr mussten wir diese herbe Enttäuschung hinnehmen. Zum Glück war der Schalterraum des kleinen Bahnhofs nicht abgeschlossen. Es gab dort ein paar Bänke, die zur Nachtruhe einluden, in meinem Gepäck hatte ich eine Wolldecke, und ein Gefährte dieser Nacht fand in den Zäunen benachbarter Grundstücke geeignetes Brennmaterial für den eisernen Ofen, der offenbar gemäß Eisenbahnbau- und Betriebsordnung hier zu stehen hatte. Diese gebündelten Maßnahmen brachten nicht das erhoffte Ergebnis. Ich fror jämmerlich. Deshalb packten wir, als der Morgen graute, unser Gepäck zusammen und machten uns auf den Weg in Richtung Heiligenstadt. Bis dahin waren es immerhin zwölf Kilometer, die wegen meiner umfangreichen Habe mit Schweiß aufgewogen werden mussten. Natürlich gab es an diesem Neujahrstag von Heiligenstadt aus keinen Zugverkehr, weshalb es, uns ausgenommen, auch keine weiteren Fahrgäste und damit auch keine Veranlassung gab, den Warteraum zu heizen. Für ein paar Stunden fanden wir etwas Wärme im Kino. Dort wurde in der Kindervorstellung ein Russenfilm gezeigt: „Admiral Nachimow besiegt die Türken“.

 

Bahnhof Heiligenstadt, wo mein Vater am Neujahrstag 1948 nächtigte.

Wir ließen es über uns ergehen. Anschließend rückten wir in einer Kneipe ein paar Stühle an den Ofen und tranken dazu, weil es nichts anderes gab, heißen Kinderkaffee. Für die Nacht fanden wir in einem Durchgangslager für Kriegsgefangene eine Bleibe. Hier war gerade ein Transport aus Russland eingetroffen, der in die britische Zone weitergeleitet werden sollte. Ihre Entlassung aus der Gefangenschaft hatten sie offenbar ihrem miserablen Gesundheitszustand zu verdanken. Es waren ausnahmslos bleiche, abgemagerte Gestalten in verschlissenen Uniformen, darunter junge Burschen, nicht älter als wir, mit greisenhaften Gesichtszügen, mit dick angeschwollenen Beinen. Relativ gut genährt und gekleidet, deshalb mit zwiespältigen Gefühlen, stand ich diesem Elend gegenüber. Im Überschwang des Sieges hatten mich die Russen im Mai 1945 nach Hause geschickt und nicht nach Sibirien. Hier hatte ich vor Augen, was mir dadurch erspart geblieben ist.

Am 2. Januar 1948 früh 4 Uhr fuhr der erste Zug ab Heiligenstadt in Richtung Sangerhausen. Dort mussten wir bis zur Weiterfahrt wieder neun Stunden warten. Wartezeit war Zeit für Gespräche. Die Warteräume in den Bahnhöfen waren überfüllt mit Reisenden. Es waren keine Vergnügungsreisenden und viele von ihnen hätten Abenteuerliches erzählen können.

Neben mir saß ein ehemaliger Landser. Er kam direkt aus Italien, war dort aus amerikanischer Gefangenschaft geflohen und wollte nun nach Hause. Ich musste wieder an die Gefangenen denken, die aus Russland kamen, mit denen ich gestern in Heiligenstadt gesprochen hatte. Ein junger Mann borgte sich bei mir 20 Mark, um eine Fahrkarte für die Heimfahrt bezahlen zu können. Ich wusste, dass ich das Geld nie wieder sehen würde. In Halle wieder Warten auf den Anschluss, dann in dreistündiger Fahrt in einem hoffnungslos überfüllten Zug nach Leipzig. Etwa 60 Stunden war ich unterwegs, als ich in den Morgenstunden des 3. Januar 1948 wieder zu Hause war.

***