Marivan unter den Kastanienbäumen

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Marivan unter den Kastanienbäumen
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H. Ezadi

MARIVAN UNTER DEN KASTANIENBÄUMEN

Ein kurdischer Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Ingrid Herzinger

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Hajeje

Pishahang (Scouts)

Das Kaffeehaus

Die mutige Bäuerin

Kak Foad im Hungerstreik

Die erste Demonstration in Marivan

Der Schah verlässt das Land

Die islamische Scheinrepublik

Das Camp „Kani Miran“

Zentralkomitee und Mamosta Sheik Ezzeadin

Zentralgefängnis der Komele-Organisation

Gefangenenaustausch

Wieder in Marivan

Die Liebe

Krieg und Hochzeit

Die wilde Landschaft „Shlir“

Irak, Zentraldruckerei und Geburt meines Sohnes

Ergänzung zu meiner Geschichte

Vorwort

Warum? Warum lautet die Überschrift meiner Zeilen, die ich schrieb:

„Marivan unter den Kastanienbäumen“?

Es ist leicht erklärbar, denn dort sind die Wurzeln meines Lebens, die ich scheinbar nie mehr werde sehen dürfen, auch nicht die Kastanienbäume und den Zarivar-See, der zu einer bestimmten Jahreszeit mit Seerosen geschmückt ist. Seit fast dreißig Jahren treibt mich die Sehnsucht nach meiner Heimat, obwohl ich durch viele Umstände, wie viele politisch Verfolgte des kurdischen Volkes, in der Welt aufgenommen wurde. Sonst würden wir alle nicht mehr leben. Ich bin dankbar dafür.

Ich weiß, es gibt Schlimmeres auf dieser Erde, als dass man weltweit, gleich welcher Medien-Berichterstattung immer nur von dem Wort „Kurdenproblem“ spricht. Ich fühle mich, wie damals, für unser Volk mitverantwortlich, das bis zum heutigen Tag für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfte und weiter kämpfen muss. Wir sind ein Volk ohne Staat. Ein nicht anerkanntes Volk, weil es unterschiedlichen egoistischen Machtspielen der vermeintlichen Machthaber unterliegt und weil unser Volk wie ein Spielball der Machthaber behandelt wird. Ob zu Schahs Zeiten oder im heutigen Islamismus werden wir und unsere Kultur mit Füßen getreten, als würden wir nicht existieren und keine Rechte haben.

Warum werden wir als Rebellen gesehen? Nur weil wir für unser Volk von „Freiheit und Gerechtigkeit“ sprechen und nur träumen dürfen, nach all dem Unheil, das uns bis zum heutigen Tage verfolgt?

Mit dem Aufschreiben der Vergangenheit und meinen Gedanken versuche ich mit diesen Zeilen, das Erlebte für mich und meinen Sohn aufzuschreiben, damit wir uns alle erinnern. Erinnern an die Gräueltaten, die wir erlebten und derentwegen wir politisch aktiv werden mussten, um uns selbst und unser Volk zu schützen.

Nach dieser Vergangenheit sind viele Kurden mit ihrer eigenen, meist schrecklichen Geschichte weltweit in anderen Ländern aufgenommen worden und ich denke, wir alle sind sehr dankbar dafür, dass wir weiterleben durften, obwohl es uns versagt ist und bleibt, unsere Heimat wiederzusehen. Ich wiederhole diese Worte, weil es menschlich ist, dass wir alle aus vollem Herzen unsere Heimat wiedersehen möchten. Auch nach dieser langen Zeit ist es aufgrund der Verhältnisse im Iran nur ein Wunsch, ein Traum.

Vielleicht werden Sie sich fragen, warum ich meine Zeilen zunächst in deutscher Sprache schreibe und nicht in meiner Muttersprache. Die Antwort ist einfach: Es wäre mir in meiner kurdischen Muttersprache nicht möglich gewesen, da es entgegen jeglicher UN-Menschenrechte für uns verboten war, in kurdischer Sprache unterrichtet zu werden. Es bleibt lediglich das Sprechen in meiner Muttersprache. Der kurdischen Grammatik und des Schreibens bin ich nicht mächtig. Ich hätte mich nicht getraut, diese schwerwiegenden Themen, die mir seit Jahrzehnten durch den Kopf gehen, in meiner Muttersprache niederzuschreiben. Ich bin nur ein Mosaikstein dieses Unrechts von 45 Millionen Menschen der kurdischen Bevölkerung, die in Träumen ihre Geschichten und Gedichte nach ihren Möglichkeiten lesen, singen oder auf ihre Art und Weise zu Papier bringen.

Eines Tages besuchte mich eine Frau an meinem Arbeitsplatz, interessierte sich für die kurdische Geschichte und gab mir den Mut zu schreiben. In der langen Arbeit einiger Jahre konnte ich meine Geschichte aus meiner Erinnerung aufschreiben. Danke, liebe Ingrid.

Ein ganz besonderer Dank gilt Maleke, die mir erlaubte, ihre schreckliche, bedrückende und furchtbar grausame Familiengeschichte unter dem Schah-Regime, der Savak und am schlimmsten unter der islamistischen Regierung als Ergänzung zu meiner Geschichte zu veröffentlichen. Meine Gedanken sind bei dir, Maleke.

H. Ezadi, Januar 2014

MARIVAN unter den Kastanienbäumen

Hajeje

Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen. Es war ein schöner Vormittag und auf dem Nachhauseweg betrachtete ich bei blauem Himmel all die farbenfrohen Blumen am Wegesrand und freute mich, zu Hause meiner Mutter zu erzählen, dass ich heute an der Tafel von meiner Lehrerin gelobt worden war. Das kam ja nicht so oft vor.

Ich aß mit meiner Mutter und meinen Geschwistern eine Kleinigkeit und trank eine Tasse Milch. Danach sollte ich wie immer meine Hausaufgaben für die Schule machen. Als erstes Kind meiner Eltern musste ich ja mit acht Jahren schon ein Vorbild für meine Geschwister sein.

Plötzlich war mein Vater da. Er kam früher von der Arbeit nach Hause als an den anderen Tagen. Er wirkte sehr traurig, sein Gesicht war rot und nass, als hätte er geweint. Meine Mutter bemerkte das sofort und hielt aus Sorge die Hand vor ihren Mund. Sie fragte meinen Vater: „Was ist mit dir passiert, hast du geweint? Hat dir jemand etwas angetan?“

Als er nicht antwortete, fragte sie erneut: „Sag doch, bitte sag, was ist geschehen?“ Doch mein Vater antwortete nur: „Lass mich in Ruhe. Später erzähle ich dir, was passiert ist.“

Meine Mutter ließ nicht locker, weil sie meinen Vater noch niemals so traurig gesehen hatte. Sie wollte den Grund für seine Traurigkeit wissen.

Ihr Mann, mein Vater, war ein Geschäftsmann und besaß einen eigenen Laden auf dem Basar. Seine Kunden waren viele kleine Einzelhändler. Mein Vater fuhr jede Woche einmal mit dem Bus nach Teheran, um dort die Waren zu bestellen, die dann wenige Tage danach mit einer Speditionsfirma vor seinen Laden in Marivan gebracht wurden. Nachdem alles sortiert war, konnte er den Einzelhändlern die Waren in kleinen Mengen aushändigen. Diese kamen stets mit einem kleineren Koffer, füllten ihn und gingen dann zu Fuß in Richtung der Dörfer rund um die Stadt Marivan, um die Waren von Haus zu Haus anzubieten. Nachdem sie mit ihrer stundenlangen Arbeit fertig waren, liefen sie zurück zu „Haje“, Ahmad, meinem Vater. Das eingenommene Geld befand sich jeweils in den Koffern. Nachdem es gezählt war, bekamen sowohl die Einzelhändler als auch mein Vater als eine Art Großhändler jeweils fünfzig Prozent der Verkaufserlöse. Viele Jahre waren beide Parteien mit dieser Lösung zufrieden und jeder von ihnen konnte seine Familie ernähren.

Meine Mutter kam zu mir. Ihr Gesicht war vor lauter Aufregung rot. „Nimm das Geld“, bat sie mich, „und kaufe uns Brot beim Bäcker.“

Ich wusste aber doch, wir brauchten kein Brot, es war genügend in der Küche. Sie wollte mich wegschicken, um ungestört mit meinem Vater zu sprechen. Ich würde dabei nur stören. Ich sagte zu ihr: „Ja, ich gehe.“ Aber ich tat nur so, als würde ich zum Bäcker gehen, blieb aber zu Hause, weil ich hören wollte, was mit meinem Vater passiert war. Ängstlich versteckte ich mich hinter der Haustür und lauschte. Der Vorhang an der Haustüre schützte mich; niemand konnte mich sehen. Unbemerkt hörte ich zu, was mein Vater meiner Mutter erzählte.

 

Mein Vater sagte: „Heute war die Savak bei mir und sie haben mich zu einem Verhör in ihr Büro abgeholt.“

„Savak?“, fragte meine Mutter entsetzt. „Warum, was wollten sie von dir?“

Mein Vater antwortete: „Sie wollten nichts von mir. Sie wollten nur wissen, ob jemand bei mir gewesen war, den sie festgenommen haben. Ob ich den kenne. Die Beamten brachten mich in einen anderen Raum und ich sah einen alten Mann zusammengekauert am Boden liegen. Seine Hände und Füße waren gefesselt und er war blutüberströmt.“ Mein Vater weinte vor den Augen meiner Mutter. „Sie haben Hajeje gefoltert. Alle Finger- und Fußnägel haben sie ihm mit einer Beißzange ausgerissen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas Schlimmes gesehen. Er lag am Boden wie ein Stückchen Elend, wie ein verletztes Tier.“ Mein Vater machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach: „Mele, das war Uhlhassan Hajeje. Die Savak hatten ihn an der Grenze zum Irak festgenommen und dachten, er sei ein Iraki und ein Spion, weil der arme alte Mann nicht Persisch sprechen konnte. Der alte Mann hatte der Savak nur immer wieder meinen Namen genannt. Deswegen haben sie mich abgeholt und dorthin gebracht. Sie fragten mich, ob ich den Mann kenne, und ich habe geantwortet: ‚Ja ich kenne diesen Mann. Er ist Hajeje und verkauft meine Waren in einem Dorf, das nahe der Grenze zum Irak liegt. Deshalb war er nahe der Grenze.‘ Ich sagte den Beamten, dass er unschuldig und harmlos ist. Dann musste ich etwas unterschreiben. Alles, was ich gehört oder gesehen habe, darf ich niemandem erzählen, sonst machen sie mit mir, was sie wollen.“ Mein Vater bat meine Mutter: „Sag auch du zu keinem Menschen ein Wort! Du weißt, die Savak Leute können uns einfach umbringen. Weißt du, die Wand hat Mäuse mit Mund und Ohren; außerdem braucht unser Sohn Hussein das auch nicht zu erfahren, er ist noch zu jung und unerfahren.“

Zitternd lauschte ich hinter dem Vorhang den Worten meiner Eltern. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht aus Sorge um meinen Vater zum Bäcker gegangen war.

Mein Vater sprach weiter: „Ich habe Hajeje Uhlhassan hinter meinen Laden gebracht. Er braucht Medizin und Pflege, bis er wieder laufen kann und gesund wird. Verbinde seine Finger und seine Zehen einzeln. Er muss irgendwann wieder laufen und mit seinen Händen greifen können, damit er sein Leben selbständig meistern und einen Löffel zu seinem Mund führen kann. Du musst dich um ihn kümmern. Bringe ihm täglich einen Teil von unserem Essen in einer Schüssel, damit er wieder zu Kräften kommt. Das Essen sollte warm oder heiß sein, damit sein armer Körper Wärme spürt.“

Meine Mutter streckte ihre Hand nach oben und murmelte vor sich hin. Sie schimpfte auf den Schah und die Savak-Beamten und fragte: „Bis wann muss man dieses Unrecht hören und sehen, wenn man nichts unternimmt?“

Endlich lief ich zum Bäcker. Nachdem ich das Gespräch zwischen meinen Eltern mitbekommen hatte, war ich in tiefen, traurigen Gedanken versunken, weil auch ich diesen armen alten Mann kannte. Ich wusste, er konnte nicht lesen und auch kein Persisch sprechen. Jetzt wusste ich, warum alle in meiner Stadt Angst vor den Savak-Leuten hatten. Wenn sie ein weißes Auto sahen, waren sie ängstlich und liefen schnell weg. Jetzt bekam auch ich Angst, ein kleiner Junge mit acht Jahren. Ja, ich hatte mir das Bild in meinen Gedanken vorgestellt, das mein Vater gesehen hatte. Folter, verstümmelte Finger und Zehen, Blut. Ein furchtbarerer Gedanke, der mich wochenlang bis in den Schlaf verfolgte. Aber wie meine Mutter durfte auch ich das, was ich gehört hatte, mit niemandem teilen. Ich blieb still, doch es prägte mein junges Leben, dass mir diese Grausamkeiten des Schah-Regimes zu Ohren gekommen waren.

Pishahang (Scouts)

Wir Kinder verbrachten die Zeit, wie eben Kinder sind. Wohlbehütet in meinem Elternhaus wurde ich von Jahr zu Jahr größer und erwachsener. Doch eines Tages passierte Folgendes:

Wir saßen alle in unserer Schulklasse, hatten gerade Mathematikunterricht, schauten lautlos auf die Tafel und lauschten unserem Lehrer, der uns Plus und Minus erklären wollte. Er sagte: „Die Multiplikation und die Division erkläre ich erst nächste Woche.“ Unser Klassenbester, Farhad, hob den Finger und behauptete: „Herr Lehrer, ich weiß das alles schon!“ Wir Kinder wussten gleich, was der Lehrer zu ihm sagen würde und lachten über Farhad, weil er immer alles besser wissen wollte. Doch schon nach kurzem Gelächter waren wir alle wieder still und folgten dem Plus und Minus an der Tafel.

Plötzlich klopfte es sehr laut an der Klassenzimmertür. Neugierig, wer uns um diese Zeit besuchen würde, öffnete unser Lehrer die Tür. Er war überrascht, ebenso wie wir Kinder. Unser Lehrer sagte: „Barpa.“ Das bedeutet, dass alle ehrfürchtig aufstehen mussten, wie ein Soldat, die Arme und auch die Hände dicht am Körper.

Der Schuldirektor betrat unser Klassenzimmer. Er war recht freundlich und sagte: „Liebe Kinder, setzt euch.“ Wir nahmen Platz und er sprach weiter: „Liebe Kinder dieser Schule, im Namen von Prinz Wahlyahed (des Königs Nachfolger) habe ich Folgendes zu verkünden: Wie in anderen Schulen in unserem Land Iran wird in Kürze Pishahang eingeführt. Alle Eltern sollen euch eine Uniform kaufen. Das ist freiwillig. Wer mitmachen möchte, ist herzlich eingeladen.“ Der Schuldirektor hatte die Schuluniform mitgebracht und zeigte sie uns. Es war ein schöner Anzug, wie für einen General gemacht – an den Schultern waren goldene Schleifen, so ähnlich wie bei einem Birkenbaum, und ein Emblem, wie die Polizei es hatte. Der Schuldirektor nahm einen Hut aus der Tasche. Er sah aus wie ein Hut der Verkehrspolizei. Anstelle der Krawatte, welche die Polizisten trugen, gab es ein rotes Tuch, das man wie einen Schmetterling um den Hemdkragen herum binden konnte. Es sah aus wie eine rote Fliege, wie eine Libelle oder wie ein Schmetterling. Sehr schön. Zudem sollten uns die Eltern ein zusätzliches weißes Hemd kaufen, weil man eines für jeden Tag brauchte.

Der Schuldirektor erklärte uns, wie wichtig es sei, dass wir alle in dieser Uniform sauber und ordentlich aussehen. Es sei eine große Ehre, sie zu tragen. Nun begann er uns Pishahang zu erklären. Oh, wirklich, wir waren alle sehr aufgeregt und neugierig.

„Pishahang ist ein Vorbild für alle. Ihr werdet das Vorbild für andere sein, ihr müsst stets hilfsbereit sein und viele gute Taten tun. Weiterhin werdet ihr während der Schulferien in dieser Uniform gute Dinge für eure Mitmenschen tun. Ihr könnt die Straßenpolizei unterstützen, indem ihr alten Menschen helft, sicher über die Straße zu kommen. Ihr werdet immer aufmerksam sein, wenn Menschen eure Hilfe brauchen. Haltet stets eure Augen auf. Die Uniform verleiht euch die Aufmerksamkeit. In den Sommerferien werden Camps für euch eingerichtet, die das Ministerium mitfinanziert. Hier lernt ihr dann Pishahang aus anderen Städten kennen, auch aus anderen Ländern Asiens. Liebe Kinder, das war meine heutige Botschaft an euch. Geht nach der Schule nach Hause und sprecht mit euren Eltern. Sie müssen ihr Einverständnis in der Schule abgeben, damit wir wissen, wer von euch bei dieser wunderbaren Idee mitmacht. Die Kopfnoten eurer Zeugnisse, Moral und Erziehung, werden bei der Auswahl, wer mitmachen darf, einbezogen, also seid stets brave Schüler.“ Der Schuldirektor verabschiedete sich und unser Lehrer sagte laut und bestimmend: „Barpa.“ Wie Soldaten standen wir auf und durften uns erst setzen, als sich die Tür hinter dem Schuldirektor schloss.

Und schon ging das Getuschel los. Nasrin, die neben mir saß, flüsterte mir ins Ohr: „Das ist genial! Ich spreche nach der Schule mit meinen Eltern, sie sollen mir diese Uniform kaufen.“

Nasrin war mir unangenehm. Ständig belästigte sie mich. Ihre Eltern waren sehr reich, aber sie war nicht nach meinem Geschmack und hatte, so vermutete ich, einen schlechten Charakter. Immer wieder versuchte sie mich anzulächeln, aber ihr Gesicht gefiel mir gar nicht. Das Mädchen zwei Reihen vor mir gefiel mir umso besser, wollte aber nichts von mir wissen. Oft versuchte ich, ihre Sympathie mit meinem Lächeln zu gewinnen. Vielleicht war sie schüchtern oder in einen anderen Jungen verliebt. Ich schlug oft die Hand vor den Kopf, weil ich diese hübsche Mitschülerin nicht erobern konnte und mir stattdessen Nasrin dauernd auf die Nerven ging. Auch wenn ich es nicht verstand, war ich in das Mädchen zwei Reihen vor meinem Platz verliebt. Platonisch. Wir waren alle ungefähr dreizehn Jahre alt. Also Kinder.

Nach diesem Tag lief ich verträumt nach Hause. Ich hatte Hunger und fragte mich, ob meine Mutter meine Lieblingsspeise gekocht hatte. Ich würde ihr gleich von der Pishahang-Idee des Schuldirektors erzählen. Ich träumte so vor mich hin, dachte, wie ich in dieser Uniform aussehen und was ich Gutes tun würde. Die Worte des Schuldirektors beflügelten meine Fantasie. Doch einige Meter vor unserer Haustür kehrte ich in die Gegenwart zurück und überlegte, wie ich die Ausgaben für die Uniform zuerst meiner Mutter erklären würde, die dann meinen Vater von dieser wunderbaren Idee überzeugen musste. Ich wollte natürlich erst einmal nur die Uniform erwähnen und nicht, dass ich in den Sommerferien nach Nischapur fahren würde. All die zusätzlichen Ausgaben wollte ich erst später erwähnen, nachdem ich diese Uniform hatte. Man durfte nicht mit der Tür ins Haus fallen, sonst bekam man gar nichts. Aber mir war all das wichtig. Ich war neugierig und gespannt darauf, andere kennenzulernen.

Bevor ich das Haus meiner Eltern betrat, roch ich schon von draußen das leckere Essen. Ich erkannte am Geruch, was es gab. Ich hatte großen Hunger. Meine Mutter war gerade dabei, sich nebenan die Hände zu waschen, sodass ich in der Küche schnell die Töpfe kontrollieren konnte. Nur kurz hob ich die Topfdeckel an, da wusste ich schon, es war meine Lieblingsspeise. Fast hätte mich meine Mutter dabei ertappt, ich konnte gerade noch rechtzeitig die Küche verlassen, um meine Schultasche in den Flur zu legen. Ich freute mich so sehr, dass sie Reschte-Plau gekocht hatte. Schnell rief sie mich und meine Geschwister, die im Hof spielten. „Los, los, Kinder setzt euch an den Zefre. Wir essen gleich!“

Es dauerte nur wenige Sekunden, da saßen wir auch schon wie Vögelchen am Zefre und genossen dieses wunderbare Mahl. Meine Mutter fragte, wie es in der Schule gewesen sei. Aber wir Kinder konnten nicht antworten, weil wir den Mund voll hatten und genussvoll kauten. Die Augen meiner Mutter freuten sich über dieses Lob und sie bat uns: „Lasst noch etwas für euren Vater übrig.“

Nach dem Essen sprach ich mit ernsthaften Worten zunächst mit meiner Mutter. Mein Ziel war es, ein stolzer Pishahang zu werden. Meine jüngeren Geschwister schickte ich zum Spielen in den Hof, heute sollten sie die Hühner und den Truthahn füttern. Wir Kinder tauften vier Mal im Jahr einen neuen Truthahn, weil diese Tiere zu besonderen Anlässen wie Ramadan, Nouruz oder einem anderen besonderen Ereignis wie beispielsweise der Geburt eines neuen Geschwisterkindes geschlachtet wurden. Mein Vater fütterte den Truthahn manchmal mit Walnüssen, damit er groß und kräftig wurde. Das Tier war etwas ganz Besonderes. Einmal erklärte mir meine Mutter, dass dieser Truthahn sieben verschiedene Sorten Fleisch hätte. Aber für uns Kinder war es eigentlich ein hässlicher Vogel, außer er landete im Brattopf und wir alle freuten uns, ein besonderes Essen auf unseren Tellern zu haben.

Ich hatte meinen Kopf voll mit den Neuigkeiten aus der Schule, und weil meine Geschwister im Hof beschäftigt waren, konnte ich nun allein mit meiner Mutter sprechen. Ich war sehr aufgeregt. „Mama, Mama, heute war der Schuldirektor in unserer Klasse.“ Ich umarmte sie in meinem Enthusiasmus und verlieh damit, meiner Freude Ausdruck, dass sich etwas Neues in der Schule anbahnte. „Wir werden alle neue Kleidung bekommen, eine Uniform, dann wirst du stolz auf mich sein. Ich werde wie ein General aussehen. Einen Hut werde ich tragen und einen roten Schmetterling um meinen Hals haben. Alle Kinder sind begeistert.“ Ich gab ihr einen Kuss und umarmte sie noch einmal, wie es nur ein Kind, das etwas erreichen wollte, tun konnte.

 

Sie antwortete: „Wenn dein Vater heute Abend nach Hause kommt, werde ich ihm das mit der Uniform erzählen, und wenn wir das Geld dafür haben, glaube ich, können wir das machen. Aber dein Vater verdient das Geld, ich sorge nur für unser Essen. Wenn wir das machen, musst du immer ein guter Junge sein, gute Schulnoten nach Hause bringen und deinen Geschwistern bei den Hausaufgaben helfen.“

Mir war bewusst, dass ich die Uniform ohne irgendwelche Bedingungen, die meine Eltern an mich stellten, nicht bekommen würde. Also war mein Plan genau richtig: Erst einmal die Uniform ansprechen und dann die Urlaubsreise nach Nischapur. Meine Mutter wollte spät am Abend mit meinem Vater darüber sprechen, sie machte sich extra hübsch für das Schlafengehen. Irgendwann war ich so müde, dass ich ins Bett ging und träumte. Im Traum trug ich die neue Uniform und das Mädchen zwei Reihen vor mir grüßte mich voller Bewunderung und flirtete ein wenig mit ihren schönen Augen.

Am nächsten Morgen beim Frühstück – mein Vater war bereits auf dem Weg nach Teheran, um neue Waren zu bestellen, sein Bus war um 5.00 Uhr abgefahren – verkündete meine Mutter: „Mein lieber Junge, wir werden dir diesen Wunsch erfüllen.“ Sie lachte, weil sie genau wusste, sie erfüllt mir meinen Traum. Sie sagte: „Ich gehe heute Mittag in deine Schule, melde dich für die Uniform an und werde unterschreiben, dass du Pishahang werden darfst.“ Dann ergänzte sie: „Dein Vater ist auch damit einverstanden.“

Was war ich glücklich! Ich rannte in die Schule, neugierig, ob die Eltern von Jewad auch ihr Jawort gegeben hatten. Aber am meisten interessiert mich das Mädchen zwei Reihen vor mir. Ob sie wohl auch in den Sommerferien mit nach Nischapur fahren durfte? Aber das wussten ja meine Eltern noch nicht. Die Uniform und die Unterschrift meiner Mutter waren erst einmal wichtiger.

Meine Mutter kam wie versprochen in die Schule, schrieb mich für Pishahang ein, bezahlte meine Uniform und nahm sie gleich mit nach Hause. Die erste Anprobe fand abends statt, als mein Vater von der Arbeit kam. Meine Eltern freuten sich und ich sah aus wie ein General in dieser hübschen Uniform – wohl wissend, dass ab sofort nur gute Taten von mir erwartet wurden.

In der Zeit bis zu den Sommerferien präsentierte ich auf dem Schulweg stets stolz meine Uniform. Es war ein anderes Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, die den Menschen half und die beachtet wurde. In unserer Stadt gab es verschiedene Aktionen für die Pishahang und wir waren eine Gemeinschaft.

Kurz vor den Sommerferien bekamen meine Eltern einen Brief von der Schule, dass wir Pishahang die Ferien in Nischapur verbringen würden. Meine Mutter kaufte mir noch verschiedene Dinge und packte meinen Koffer. Am Tag der Abreise trafen wir uns um 8.00 Uhr auf dem Schulhof. Dort bemerkte ich, dass die nervige Nasrin auch mitkam. Sofort war sie bei mir und sagte: „Ich freue mich, dass wir zusammen fahren.“ Ich bekam schlechte Laune, gab ihr eine kurz angebundene Antwort und schaute, ob das Mädchen, das zwei Reihen vor mir im Klassenzimmer saß, auch mitreiste. Ja, da wurde sie gerade von ihren Eltern mit dem Auto gebracht. Ich war erleichtert. Als alle Schüler in den Bus gestiegen waren, winkten wir unseren Eltern zum Abschied.

Die Fahrt begann. Es war ein schöner Tag mit viel Sonne und blauem Himmel. Ich saß am Fenster und betrachtete die Landschaft. Wir fuhren durch Dörfer, in denen Menschen auf der Straße liefen und ihre Einkäufe erledigten. Auf den Feldern gingen die Bauern ihrer Arbeit nach und wir konnten im Vorbeifahren die Tiere auf der Weide beobachten. Nach zweieinhalb Stunden erreichten wir Sanandaj, die Provinzhauptstadt von Kurdistan. So eine große Stadt mit so vielen Autos hatte ich noch nie gesehen. Ich dachte: Was für eine große Stadt im Vergleich zu Marivan!

In Sanandaj trafen noch viele andere Bussen ein. Sie kamen aus allen möglichen Städten Kurdistans. Wir trafen dort Schüler, die anders waren als wir. Auf der einen Seite waren sie frech, auf der anderen aber auch sehr schick. Sie gaben sich selbstbewusst und die Mädchen waren irgendwie freier als unsere Mädchen. Sie trugen Make-up, ihre Augen waren geschminkt und die Lippen rot. Ich bewunderte unsere Mädchen, denn sie versuchten sich vor den anderen zu verstecken, weil sie sich armselig fühlten. Zu der Gruppe der uns fremden Schüler gehörten einige Musiker mit verschiedenen Instrumenten. Wir hatten keine Chance, mit denen konnten wir nicht mithalten.

Die Stimme eines der Lehrer erklang durch einen Lautsprecher. „Wir fahren alle zusammen mit vier großen Bussen weiter. Die Fahrt geht über mehrere Hundert Kilometer, aber wir machen alle paar Stunden eine Pause. Zuerst fahren wir nach Mashhad zu dem Grab von Imam Reza und beten. Von dort aus geht es weiter zu dem Camp in Nischapur.“ Auf allen vier Bussen klebte ein Plakat mit der Aufschrift „Schulkarawane aus Kurdistan“. So fuhren wir über die Autobahnen zu unserem Ziel.

Unterwegs spielten Sanandajs Schüler Musik, zu der wir alle sangen. Später hielten wir an einer Raststätte und machten eine halbe Stunde Pause. Die Lehrer hatten inzwischen Essen und Getränke an uns verteilt. Jeder bekam eine kleine Tüte mit einem belegten Brötchen und einer Dose Cola. Als ich genüsslich in mein Brötchen biss, kam Nasrin zu mir und sagte: „Ich muss mit dir reden.“ Sie sprach gleich weiter: „Hast du gesehen, dass die Pishahang von Sanandaj alle miteinander befreundet sind? Die Jungs haben alle eine Freundin und die Paare gehen Hand in Hand. Wir beide müssen auf dieser Reise zusammenhalten und du passt bitte auf mich auf.“

Ich erwiderte: „Warum soll ich auf dich aufpassen? Warum kommst du ausgerechnet zu mir? Soll sich doch ein anderer um ich kümmern.“

Nasrin bettelte weiter: „Ich freue mich, bei Imam Reza zu beten. Es war schon immer mein Traum, ihm meine Wünsche zu sagen, damit sie in Erfüllung gehen. Aber ich habe Angst, dass mir etwas passiert. Ich habe ein schwaches Herz und gerate in Menschenansammlungen leicht in Panik. Wenn ich umfalle und bewusstlos werde, wer soll mir dann helfen?“

Ich lenkte ein. „Gut, ich passe auf dich auf, hab keine Angst.“

Sofort erklärte sie mir: „Wenn ich umfalle, musst du mich von Mund zu Mund beatmen.“

Ich fragte mich, was Nasrin plante. Während ich grübelte, sah ich ein Sanandaj-Mädchen am Rand der Autobahn stehen. Sie hatte sich von der Schülergruppe gelöst, war dorthin gelaufen, hatte ihre Bluse hochgezogen und zeigte sich so den vorbeifahrenden Autofahrern, die begeistert waren und große Augen machten. Alle Schüler lachten und klatschten, weil die Autofahrer sich nicht mehr auf das Fahren konzentrierten. Und so kam es, wie es kommen musste: Einige Autos fuhren ineinander und es gab einen Unfall.

Die Lehrer reagierten schnell, holten das Mädchen zurück und schimpften mit ihr.

Unter uns Schülern löste das Ereignis eine große Diskussion aus. Wir waren der Meinung, dass dieses Verhalten für uns Kurden eine Schande war. Was sollen die Menschen nur von uns denken? Die Busse waren ja plakatiert. Andere meinten, wir hätten die Perser verarscht und den Unfall verursacht. Das zeigte wieder einmal: Wir waren Kurden, die waren Perser, und wir waren nicht das gleiche Volk. Dieses Beispiel verdeutlichte den Unterschied in unserem Land, den Unterschied zwischen Reich und Arm (Machthaber und Besatzungsland). Wir Schüler fragten uns ständig: Warum war es hier anders? Hier war es viel schöner als bei uns. Seit der letzten Stadt, die wir in Kurdistan passiert hatten, war alles anders. Hier gab es gut ausgebaute Autobahnen mit besseren Straßenschildern, hübsche Gebäude und im Vorbeifahren sahen wir überwiegend neue Autos. Bei uns in Kurdistan wurden meist alte Autos gefahren und Autobahnen gab es nur wenige. Was die Kultur betraf, so waren wir jedoch etwas freier als die Perser, nicht so abergläubisch. Das öffnete mir die Augen und in meinem Gedanken ging es mir um Gerechtigkeit, wie bei Hajeje Uhlhassan, der Analphabet war und nicht persisch sprechen konnte, weil das nur in der Schule gelehrt wurde, die er aber nie besucht hatte. Wie ungerecht war das für ihn!

Ich war tief in Gedanken versunken, als der Reiseführer uns darüber informierte, dass wir gleich das heilige Grab von Imam Reza erreichen würden. „Wir bleiben eine Stunde. Seid bitte pünktlich wieder hier. Danach reisen wir zu unserem Camp.“

Wir stiegen aus den Bussen und gingen zum Haram Imam Reza. Das Dach des Hauses war eine riesengroße, goldene Kuppel, es war eine gigantische Residenz! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ein riesiger Palast in Gold gehüllt. In der großen Halle war das Grab vom Imam. Es war von goldenen Gittern umrahmt. Da waren Tausende Gläubige, die ihre Gebet oder Wünsche vor sich hin murmelten. Ich war verwundert, dass so viele Menschen den Imam kannten und um ihn weinten, obwohl er doch bereits vor mehreren Jahrtausenden ermordet worden war. Ich beobachtete die Gläubigen. Eine Frau hatte etwas hinter das Goldgitter geworfen. Das machte mich neugierig und ich traute meinen Augen nicht, als ich näher hinsah. Da lagen zahlreiche große Geldscheine, goldene Ringe, Goldketten. Ich überlegte. Davon ließen sich in Kurdistan Krankenhäuser und Schulen bauen oder man könnte mit diesem Geld Dörfer mit Strom und fließendem Wasser versorgen. Aber ich war nur ein Kind und hatte keine Ahnung.