Geschichte der deutschen Literatur. Band 2

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Geschichte der deutschen Literatur

Band 1. Humanismus und Barock

Band 2. Aufklärung

Band 3. Goethezeit

Band 4. Vormärz und Realismus

Band 5. Moderne

Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur

Band 2

Aufklärung

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2012

Gottfried Willems ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 3654 | ISBN 978-3-8252-3654-0

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

1 Einleitung

1.1 Das Studium des 18. Jahrhunderts als Zugang zur Moderne

1.2 Modernisierung im 18. Jahrhundert: Aufklärung

1.3 Literatur im 18. Jahrhundert

2 Eine Reise zu Voltaire und Rousseau Kulturgeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung

2.1 James Boswell und seine „Grand Tour“

2.1.1 Reisebeschreibung, Tagebuch, Brief und Konversation als Quellen der Kulturgeschichte

2.1.2 James Boswell als Autor der Aufklärung

2.1.3 Literatur und Individualisierung

2.1.4 Aufklärung im Alltag

2.2 Voltaire, Rousseau und die Entwicklung der Literatur im 18. Jahrhundert

2.2.1 Voltaire und der Weg zur Autonomie der Literatur

2.2.2 Rousseau und der neue Subjektivismus der Literatur

2.2.3 Literatur im Alltag

2.3 Boswell bei Rousseau und Voltaire

2.3.1 Boswell bei Rousseau

2.3.2 Boswell bei Voltaire

2.3.3 Boswells Gespräche mit Rousseau und Voltaire

3 Zentrale Impulse der Aufklärung Ideengeschichtliche Voraussetzungen der literarischen Entwicklung

3.1 Popes „Essay on Man“ und Voltaires „Philosophische Briefe“

3.1.1 Ein Profil der frühen Aufklärung: Alexander Pope

3.1.2 Themen und Formen des Aufklärungsdiskurses

3.1.3 Die Literatur zwischen Philosophie und Dichtung

3.1.4 Selbstbescheidung der Vernunft

3.1.5 Die Auseinandersetzung mit Humanismusund Konfessionalismus

3.1.6 Skeptischer Pragmatismus

3.2 Der „Philosoph auf dem Thron“: Friedrich II. von Preußen

3.3 Natur und Gesellschaft

3.3.1 „Naturzustand“ und „bürgerliche Gesellschaft“ bei Rousseau

3.3.2 „Naturzustand“ und „Goldenes Alter“

3.3.3 Das „Goldene Alter“ bei Voltaire und bei Goethe

4 Aufklärung in der deutschen Literatur Lessings „Nathan“ und Wielands „Musarion“

4.1 Lessing und Wieland als Aufklärer

4.2 Lessings „Nathan der Weise“

4.2.1 Die Ring-Parabel

4.2.2 Sympathie, Religion, Vernunft und Dichtung

4.2.3 Die Literatur der Aufklärung – eine Tugendpredigt?

4.3 Wielands „Musarion“

4.3.1 Die Eingangsszene

4.3.2 Zur Form der „Musarion“

4.3.3 Die Antike in der Literatur der Aufklärung

4.3.4 Humanistisches Bildungsgut bei Wieland

4.3.5 Zur Handlung der „Musarion“

4.3.6 Skeptischer Pragmatismus

4.3.7 Ironie und Psychologie

4.3.8 Menschlichkeit

5 Zur Entwicklung der Literatur im 18. Jahrhundert

5.1 Wandlungen im System der literarischen Gattungen

5.2 Annäherung von Tragödie und Komödie im „bürgerlichen Trauerspiel“ und im „rührenden Lustspiel“

5.3 Jenseits der Gattungsgrenzen: die Libretti da Pontes für Mozart

5.4 Das Beispiel „Così fan tutte“

Anhang

Siglen

Literaturhinweise

Personenregister

Rückumschlag

1 Einleitung
1.1 Das Studium des 18. Jahrhunderts als Zugang zur Moderne

Das 18. Jahrhundert als „Sattelzeit“

Das 18. Jahrhundert gilt als Zeit eines tiefgreifenden Wandels, als eine „Sattelzeit“, wie eine oft zitierte Wendung des Historikers Reinhart Koselleck lautet. Denn hier kam vieles von dem an sein Ende, was seit dem Mittelalter das Leben in Europa bestimmte, und zugleich nahmen die Verhältnisse Kontur an, unter denen wir heute leben. Hier wurden entscheidende Schritte in Richtung Moderne getan, hat sich das meiste von dem herangebildet, was wir mit dem Prädikat modern versehen und damit als charakteristisch für die heutige Welt kennzeichnen: die moderne Gesellschaft, der moderne Staat, die moderne Ökonomie, das moderne Leben, das moderne Denken, die moderne Öffentlichkeit, die moderne Wissenschaft und, last not least, das moderne literarisch-ästhetische Leben mit den entsprechenden Formen von Kunst und Literatur, Ästhetik, Literaturtheorie und Literaturkritik. All dies zeigt sich im 18. Jahrhundert zum ersten Mal in den uns vertrauten Formen.

 

So können wir hier die Moderne unter ihren Entstehungsbedingungen studieren, können wir uns hier vieles von dem, was unser heutiges Leben prägt, daraufhin ansehen, wie es ursprünglich gemeint war und wie es auf den Weg gebracht worden ist, nicht zuletzt um uns klarzumachen, was seither daraus geworden ist. In diesem Sinne kann man kaum irgendwo mehr über die moderne Welt erfahren als im Studium des 18. Jahrhunderts. Jedenfalls kann man hier mehr darüber lernen, als wenn man sich ausschließlich mit der Gegenwart beschäftigt. Denn die Gegenwart ist uns viel zu nahe, wir sind viel zu sehr in sie verstrickt, als daß wir sie auch nur annähernd überblicken und durchschauen könnten. Es fehlt uns die Distanz, die uns die Verhältnisse kenntlich werden läßt. Wir müssen eine solche Distanz erst herstellen, und dies

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können wir nur, indem wir das Gegenwärtige mit dem Vergangenen konfrontieren. Insofern können diejenigen, die sich ausschließlich mit der Literatur der Gegenwart beschäftigen, vielfach am wenigsten über sie Auskunft geben. Wer um die Geschichte einen Bogen macht, bleibt immer ein Idiot der Aktualität. Das macht zumal in der Wissen­schaft wenig Sinn, denn für den Idiotismus der Aktualität hat die moderne Gesellschaft schon die Medien, den Journalismus und die Kritik; dafür braucht sie keine Wissenschaft.

Die Literatur des 18. Jahrhunderts im kulturellen Gedächtnis

Das 18. Jahrhundert als „Sattelzeit“, als die Zeit, in der sich die modernen Verhältnisse heranbilden, in der die moderne Welt Kontur annimmt. Was diese These besagt, kann man schon allein daran erkennen, daß einem heutigen Leser das Ende des 18. Jahrhunderts unendlich viel näher ist als sein Anfang. Im Prinzip gilt das natürlich für jede Epoche, aber es gilt beim 18. Jahrhundert doch in besonderem Maße. Die Literatur aus den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts hat sich sehr viel besser im kulturellen Gedächtnis erhalten als die aus seinen ersten Jahrzehnten. Die namhaften deutschen Autoren aus der ersten Jahrhunderthälfte, die zwischen 1680 und 1710 geborenen, sind fast alle vergessen, werden heute kaum mehr freiwillig, um des puren Lesevergnügens willen gelesen; die bedeutenden Autoren aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hingegen, die um 1730 geborenen, und zumal die aus der Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert, die nach 1750 geborenen, sind allgemein bekannt, sind im kulturellen Gedächtnis präsent.

Welcher Zeitgenosse hat wohl schon einmal etwas von Barthold ­Hinrich Brockes (1680 –1747), Johann Jakob Bodmer (1698 –1783), Johann Christoph Gottsched (1700 –1766) und dessen Frau Luise ­Adelgunde Victorie Gottsched (1713 –1762), der „Gottschedin“, von Friedrich von Hagedorn (1708 –1754) und Albrecht von Haller (1708 –1777) gehört? Da befinden wir uns noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und mit den Erfolgsautoren der Jahrhundertmitte, mit Christian Fürchtegott Gellert (1715 –1769), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 –1803) und Salomon Geßner (1730 –1788) wird die Sache noch kaum besser. Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781) hingegen, Christoph Martin Wieland (1733 –1813) und Georg Christoph Lichtenberg (1742 –1799) kennen die meisten, kennen sie zumindest vom Hörensagen, und noch mehr haben schon einmal etwas von Goethe (1749 –1832) und

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Schiller (1759 –1805), Hölderlin (1770 –1843), Novalis (1772 –1801) und Kleist (1777 –1811) gehört. Und den letzteren nähert man sich im allgemeinen schon in der Erwartung, daß man von dem, was sie schreiben, unmittelbar erreicht werden könnte, daß es uns Heutigen schon recht nahe wäre.

Literatur- und Kulturgeschichte, Kontextwissen und Literaturverständnis

So muß es in dieser Einführung in die Literatur des 18. Jahrhunderts zunächst darum gehen zu sichten, was es hier überhaupt an Literatur gibt und wie sie beschaffen ist, wer da alles geschrieben hat, für wen und warum, aus welchen Antrieben heraus, mit welchen Absichten und Zielen. Das kann freilich kaum gelingen, ohne zugleich nach dem literarischen Leben der Zeit zu fragen, als dem Raum, in dem sich der Austausch von Autoren und Lesern vollzogen hat, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, was die Basis des literarischen Lebens in der Gesellschaft war, welche Schichten und Gruppen es getragen haben, wie es in der Kultur der Zeit verankert war und in welchen Formen es sich unter diesen Voraussetzungen entfaltet hat. Daß hierbei die Autoren und Werke von besonderem Interesse sind, die die Menschen seinerzeit besonders intensiv beschäftigt haben und die von daher in den Kanon der literarischen Überlieferung, in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind, versteht sich von selbst.

Dem allem ist natürlich mit dem bloßen Sichten und Zusammentragen von Fakten noch nicht gedient. Worauf es bei einer Einführung wie dieser vor allem ankommt, das ist, dafür zu sorgen, daß die literarischen Texte des 18. Jahrhunderts dann auch wirklich zu einem heutigen Leser sprechen können; daß er die Texte verstehen kann, daß er sich erschließen kann, was sie uns Menschen von heute womöglich noch immer zu sagen haben. Denn alles Sammeln von Informationen über die Literatur des 18. Jahrhunderts macht ja nur insofern Sinn, als man mit ihr am Ende wirklich ins Gespräch kommt.

Das erfordert aber einiges an Vorarbeit. Denn natürlich ist uns diese Literatur nach den zwei-, dreihundert Jahren, die seither vergangen sind, in vielem fern gerückt, fern vielfach schon von der Sprache her, die sie spricht, und erst recht durch das, was sie an Vorstellungen kultiviert; durch das Wissen, mit dem sie arbeitet, durch die Sachen, die sie zur Sprache bringt, und durch die Begriffe und Wertvorstellungen, mit denen sie an diese Sachen herangeht. Es gilt also, sich auch in der Kultur dieser so fern gerückten Epoche umzusehen, zu fragen, wie die

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Menschen damals gelebt haben, was sie gewußt und gedacht haben, wie sie ihre Welt und sich selbst gesehen haben. Nur in dem Maße, in dem sich ein solches Wissen heranbildet, als kulturgeschichtliches Kontextwissen, das ihre Texte erschließt, nur in dem Maße, in dem es gelingt, die geschichtlichen Barrieren auszuräumen, die ihrem Verständnis im Wege stehen, wird ihre Literatur wirklich zu uns sprechen, und darauf muß es hier vor allem ankommen.

Das aber heißt, daß es im folgenden – anders als man es vielleicht von einer Einführung erwarten mag – nicht darum gehen wird, möglichst viele der Namen und Werke zu benennen, die in den Literaturgeschichten unter der Rubrik 18. Jahrhundert aufgeführt werden. Darüber kann man sich unschwer in den probaten Nachschlagewerken informieren, in Literaturgeschichten, Handbüchern, Fachlexika und Forschungsberichten. Vielmehr soll vor allem versucht werden, einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Literatur des 18. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“, was in ihr an Fragen aufgegriffen und an Problemen ausgetragen wird.

Was hier auf den Leser zukommt, ist mithin so etwas wie eine kulturgeschichtlich fundierte Geschichte der Literatur des 18. Jahrhunderts. Es könnte aber genausogut eine literaturgeschichtlich fundierte Geschichte der Kultur des 18. Jahrhunderts heißen. Denn wie die Beschäftigung mit der Kultur des 18. Jahrhunderts die Literatur der Zeit aufschließen soll, so die Beschäftigung mit dieser Literatur die zeitgenössische Kultur. Beides, Textkenntnis und Kontextwissen, sind die zwei Seiten einer Medaille, beides kann nur zugleich in Angriff genommen werden. Indem wir uns in der Kultur des 18. Jahrhunderts umsehen, erschließt sich seine Literatur unserem Verständnis. Und indem wir uns mit dieser Literatur auseinandersetzen, wird sie für uns zu einem Fenster in die Welt des 18. Jahrhunderts.

Literatur als Zugang zu Identität und Alterität

Literatur ist für den lesenden Menschen ja immer beides zugleich: ein Spiegel und ein Fenster; ein Spiegel, in dem er sich selbst bespiegelt, und ein Fenster, durch das er andere und anderes zu sehen bekommt; ein Spiegel, in dem er seiner selbst, seines eigenen Lebens und seiner eigenen Welt ansichtig wird, und ein Fenster, durch das er nach anderen und anderem Ausschau hält, Einblick in das Leben anderer Menschen bekommt, Einblick in fremdes Leben, in fremde Welten. Mit wissenschaftlicher Ambition gesagt: lesend sind wir stets

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auf der Spur der eigenen Identität und auf dem Weg zur Alterität, beides in einem.

Das gilt übrigens für jede Form von historischen Studien, für jedes Interesse an früheren Zeiten. Warum beschäftigt sich der Historiker mit der Vergangenheit, warum der Literarhistoriker zum Beispiel mit der Welt des 18. Jahrhunderts? Vor allem aus zwei Gründen. Zum einen weil er wissen will, wie das geworden ist, was heute ist, wie sich die Verhältnisse herangebildet haben, unter denen wir heute leben – womit sich stets die Hoffnung verbindet, das, was heute ist, genauer sehen und besser verstehen zu können. Das ist das genetische Interesse an der Geschichte, das Interesse an der Genese der heutigen Verhältnisse. Und zum anderen will er, wenn er in die Geschichte zurückblickt, Verhältnisse kennenlernen, die anders sind als heute, will er die heutigen Verhältnisse, die uns so selbstverständlich, ja vielfach nur allzu selbstverständlich sind, mit anderen Verhältnissen kontrastieren und so auf Distanz stellen, will er sich ein Bewußtsein davon geben, daß alles auch ganz anders sein könnte als heute und schon einmal anders gewesen ist. Das ist das kontrastive Interesse an der Geschichte. Das genetische Interesse zielt auf Identität, das kontrastive Interesse auf Alterität. Und auch hier gilt, daß man beide Interessen nur in einem verfolgen kann.

Das 18. Jahrhundert ist nun sowohl für das genetische als auch für das kontrastive Interesse, sowohl für Identitäts- als auch für Alteritätsfragen besonders aufschlußreich, insofern es sich bei ihm um eine „Sattelzeit“ handelt, um die Zeit, in der sich die Genese der modernen Welt vollzogen hat. Die meisten der großen und kleinen Schritte, die damals in Richtung auf die modernen Verhältnisse zu unternommen worden sind, kristallisieren sich aber um einen einzigen Begriff: um den der Aufklärung. Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Aufklärung. Von dieser Aufklärung hat man sich also zunächst und vor allem Rechenschaft zu geben, wenn man in die Literatur der Zeit eindringen will. Und so sei als erstes versucht, sich hiervon einen Begriff zu machen, einen ersten Begriff, einen Vorbegriff, der sich dann bei der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen des 18. Jahrhunderts zu bewähren und zu bestätigen hat.

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1.2 Modernisierung im 18. Jahrhundert: Aufklärung

Aufklärung als Modernisierung

Was man im Rückblick auf das 18. Jahrhundert Aufklärung genannt hat, war eine große geschichtliche Bewegung, die sich eine Reform aller menschlichen Dinge auf die Fahnen geschrieben hatte, eine Reform der gesamten Kultur von den Formen, in denen sich das mensch­liche Denken und Wissen organisiert, über die Strukturen, in denen der Einzelne lebt, arbeitet und sich mit anderen austauscht, bis hin zur Organisation der Gesellschaft als ganzer, und die damit in der Tat nach und nach alle Bezirke des menschlichen Lebens erreichte und durchdrang.

Vorangetrieben wurde sie von einer durchaus überschaubaren gesellschaftlichen Gruppe, die sich eben damals neu formierte und die man heute die Intellektuellen nennt. Sie selbst und ihre Zeitgenossen hatten für sie allerdings noch einen anderen Namen; sie sprachen von ihr als von den „Philosophen“. Wie ihre Vorgänger, die frühneuzeitlichen Zirkel gelehrter Humanisten, war die Gruppe der „Philosophen“ bereits bestens vernetzt, standen alle, die ihr angehörten, in einem Austausch, der so eng und intensiv war, wie ihn die Verkehrsformen der Zeit nur irgend zuließen. Anders als die Humanistenzirkel bestand sie freilich nicht nur aus der Elite der Gelehrsamkeit, aus Theologen, Philosophen, Philologen und anderen Vertretern einer gelehrten Bildung, sondern auch aus interessierten Laien, aus Literaten, Publizisten, Pädagogen, höheren Beamten und all den anderen „Standespersonen“, die sich die Bildung der Bevölkerung und die Entwicklung der Gesellschaft zur Aufgabe machten. Die Intellektuellen haben die Aufklärung gemacht, und die Aufklärung hat die Intellektuellen gemacht.

 

Diese „Philosophen“ haben nun eben nach und nach den Begriff der Moderne entwickelt, von dem aus sich unsere heutige Gesellschaft als moderne Gesellschaft definiert. Was aber heißt modern? Von Modernität sprechen wir immer dann, wenn etwas Altes, Herkömmliches, Überliefertes, Traditionelles, Altgewohntes durch etwas Neues ersetzt worden ist, wenn an ihm ein Akt der Modernisierung vorgenommen worden ist, in dem Bestreben, mit dem Anspruch, die Sache besser zu machen als vorher, einen Fortschritt zu erzielen. Das setzt natürlich voraus, daß man zuvor einen kritischen Blick auf das Alte, Herkömmliche, Überlieferte, Traditionelle, Altgewohnte geworfen

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hat, einen Blick, dem es sich eben als veraltet, überholt und überholungsbedürftig, als verbesserungsbedürftig darstellt. Nichts kann eine Gesellschaft wie die unsere deutlicher als eine moderne Gesellschaft kennzeichnen, als daß sie alles Alte immer schon unter den Generalverdacht stellt, veraltet zu sein und der Modernisierung zu bedürfen.

Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung

So weit, so modernisierungsfreudig, so fortgeschritten und fortschrittsversessen waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts freilich noch nicht. Aber sie haben nach und nach ein Klima geschaffen, in dem es zunächst überhaupt möglich und dann auch üblich wurde, sich kritisch mit Überlieferung und Tradition zu beschäftigen, und in dem so der Weg hin zu Neuem freigemacht wurde, in dem der Begriff modern insofern einen positiven Klang bekam. Aufklärung bedeutet im 18. Jahrhundert zunächst und vor allem: Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, Emanzipation von der Autorität der Tradition. Das kann man schon äußerlich daran erkennen, daß das Wort „kritisch“ ein Lieblingswort aller Aufklärer gewesen ist.

Eines der wichtigsten Dokumente der frühen Aufklärung ist der „Dictionnaire historique et critique“ (1697), das Historisch-kritische Lexikon des Franzosen Pierre Bayle (1647 –1706), ein Werk, das im 18. Jahrhundert mehrfach ins Deutsche übersetzt worden ist – unter anderem von Gottsched, unter Beteiligung seiner Frau und des jungen Gellert – und das überall in Europa, oder jedenfalls doch in allen Ländern, die von der Aufklärung erreicht worden sind, zu einem Grundbuch der Bildung geworden ist, ein Werk, das sich im Bücherschrank eines jeden fand, der an der Aufklärungsbewegung teilhatte, bis hin zum Vater von Goethe. Da werden mit der Systematik eines Lexikons die Bestände der kulturgeschichtlichen Überlieferung zunächst historisch gesichtet und sodann kritisch auseinandergenommen: historisch-kritisches Lexikon. Solche Kritik will aufdecken, was an der Tradition bloß schlechte Gewohnheit, bloß Meinung, Aberglauben und Vorurteil ist. Der Aufklärer streitet mit seiner Kritik gegen das, was er Meinung, Aberglauben und Vorurteil nennt.

Es wurden damals übrigens auch Lehrbücher der Poesie geschrieben, denen der Name einer Critischen Dichtkunst gegeben wurde, unter anderem von Gottsched (1730) und Johann Jakob Breitinger (1740). Unter diesem Titel versuchten die Autoren eben mit all dem aufzuräumen, was für sie bloße Meinungen und Vorurteile in Sachen

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Literatur waren. Und dieser Kritizismus kulminierte in den großen Kritiken des Philosophen Immanuel Kant: „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Da wird die Kritik ins Prinzipielle gewendet, nämlich auf die kritisierende Vernunft selbst bezogen, als Selbstkritik der kritisierenden Vernunft.

Glaubst du denn: von Mund zu Ohr

Sei ein redlicher Gewinst?

Überliefrung, o du Tor,

Ist auch wohl ein Hirngespinst!

Nun geht erst das Urteil an.

Dich vermag aus Glaubensketten

Der Verstand allein zu retten,

Dem du schon Verzicht getan. (HA 2, 48 –49)

So klingt das alles bei Goethe. Goethe ist ein in der Wolle gefärbter Aufklärer gewesen, und er ist es geblieben bis ins hohe Alter, und das heißt: bis weit ins 19. Jahrhundert hinein; es handelt sich bei den zitierten Versen nämlich um ein Gedicht aus einem seiner Alterswerke, dem lyrischen Zyklus „West-östlicher Divan“ von 1819. Überlieferung, so wird da gesagt, ist immer eine problematische Sache; worauf es ankommt, ist, nicht fraglos auf dem Weg der Anpassung in die Überlieferung einzurücken, sondern das eigene kritische Urteil zu bemühen, das Wagnis und die Arbeit des Selbst-Urteilens auf sich zu nehmen. sapere aude, wage zu wissen, lautet demgemäß ein immer wieder beschworenes Motto der Aufklärung; an seiner Stelle und in ähnlicher Funktion trifft man auch häufig auf ein Diktum von Horaz: nil admirari, nichts (unbesehen) bewundern.

Säkularisation und „Querelle des Anciens et des Modernes“

Aufklärung als Entwicklung eines kritischen Verhältnisses zur Überlieferung, als Emanzipation von der Autorität der Tradition. Wenn wir verstehen wollen, was das im 18. Jahrhundert konkret bedeutet hat, dann müssen wir uns vergegenwärtigen, was seinerzeit die wichtigsten Mächte der Tradition waren, die gegenüber den Menschen ihre Autorität zur Geltung brachten, autoritativ in das Leben der Menschen hineinwirkten, und auf welche Weise, mit welchen Mitteln sie das

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taten. Es handelt sich dabei vor allem um zwei große Überlieferungskomplexe: das Erbe des Christentums, wie es die Basis für die Autorität der verschiedenen Kirchen und Theologien war, und das Erbe der Antike, wie es vom frühneuzeitlichen Humanismus in allen Belangen des kulturellen Lebens autoritativ zur Geltung gebracht worden war.

Die frühe Neuzeit, das 16. und 17. Jahrhundert, hatten ja die Reformation und die Renaissance gesehen, und das heißt: sie hatten zum einen im Streit der Konfessionen einen neuen Schub an Religiosität erlebt, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdrang; und zum andern hatten sie erlebt, daß der Humanismus die Quellen des antiken Erbes neu erschlossen und die Kultur der Antike, die Philosophie und Wissenschaft, Kunst und Literatur der alten Griechen und Römer zur Basis aller Bildung und Kultur, zum Maß aller Dinge gemacht hatte. Beides wurde nun im Zuge der Aufklärung zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung. So ist das 18. Jahrhundert, was die Religion anbelangt, zur Zeit einer fortschreitenden Säkularisation geworden und, was das Erbe der Antike anbelangt, zur Zeit eines Streits um die Vorbildlichkeit der antiken Kultur, der „­Querelle des Anciens et des Modernes“, eines Dauerdisputs zwischen denen, die die antiken Vorbilder für unübertrefflich hielten, und denen, die demgegenüber das Eigenrecht und die besonderen Qualitäten des Modernen zur Geltung zu bringen suchten.1

Undogmatische Religiosität, freier Umgang mit dem Erbe der Antike

Säkularisation, „Querelle des Anciens et des Modernes“ – das heißt allerdings nicht, daß die Aufklärer nun gar nichts mehr mit Religion und Antike zu tun haben wollten. Das Gegenteil ist richtig. Was die Religion anbelangt, so verstanden sich die meisten Aufklärer durchaus noch als religiöse Menschen, glaubten sie noch an einen Gott oder an etwas Göttliches, schon allein deshalb, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß man Moral, Ethik, ja das Soziale überhaupt, das schiedlich-friedliche Zusammenleben der Menschen, anders als religiös begründen könnte. Allerdings taten sie das vielfach dann nicht

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mehr in den überkommenen kirchlichen, theologisch-dogmatischen Formen; sie machten sich ihre eigenen undogmatischen Gottesbegriffe, ihre eigenen undogmatischen Vorstellungen von einem Leben in Gott und einem ethisch begründeten sozialen Leben, sei es als Deisten, Theisten, Pantheisten oder Panentheisten. Nur wenige gingen auch darüber noch hinaus und versuchten es mit dem Atheismus, etwa mit materialistischen Positionen; immerhin hat das 18. Jahrhundert auch den Frühmaterialismus gesehen.

Und was das Erbe der Antike anbelangt, so sind die Aufklärer allesamt zunächst einmal klassische Humanisten gewesen, mehr oder weniger gelehrte Kenner der Antike. Es gibt kaum einen Autor im 18. Jahrhundert, der nicht die Dichter der alten Griechen und Römer von Homer bis Vergil, von Sophokles bis Seneca und von Pindar bis Horaz gründlich kannte und dem deren Werke bei der Arbeit nicht ständig als Vorbilder oder Gegenbilder vor Augen standen. So ist es ja noch am Ende des Jahrhunderts, bei Goethe und Schiller, oder bei ­Hölderlin. Aber man begriff diese Vorbilder, diese Muster immer weniger als verbindliche Autoritäten. Auch wenn man vieles an ihren Werken immer noch bewunderte, ging man doch immer freier mit ihnen um, benutzte man sie mehr und mehr als Gegenbilder, denen man etwas anderes, etwas spezifisch Modernes gegenüberstellen wollte, und mancherorts hat man sich auch vollständig von ihnen zu lösen versucht.

Also eine fortschreitende Säkularisation, eine permanente „­Querelle des Anciens et des Modernes“, aber keineswegs so, daß man das christliche und das antike Erbe gänzlich aus dem Blick hätte entfernen wollen. Man wollte sich nicht von diesen Überlieferungen, sondern nur von ihrer Autorität lösen, von den autoritativen, bindenden Ansprüchen, die damit in der frühen Neuzeit verknüpft waren. Zu einer programma­tischen Absage nicht nur an die autoritativen Ansprüche von Tradition, sondern an die Tradition selbst und an das Tradierte überhaupt kommt es erst am Ende des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Moderne im engeren Sinne, bei den ersten programmatischen Avantgardisten; derlei findet sich im 18. Jahrhundert noch kaum.

Kritik an der „Schrift“

Was die Aufklärer dementsprechend vor allem kritisieren, ist die Form, in der das christliche Erbe und das antike Erbe ihre Autorität zur Geltung bringen, sind Buchgelehrsamkeit und Schriftgläubigkeit.

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Die christliche Religion fußt ja auf einem Buch, auf der Bibel, der „Heiligen Schrift“; diese soll alles Wesentliche und Wahre enthalten, so daß hier eine Schriftkenntnis und Schriftgläubigkeit, die von Schriftgelehrten verwaltet wird, zur Basis des religiösen Lebens geworden ist. Hinzu treten in der christlichen Tradition weitere altehrwürdige Bücher, vor allem die Schriften der Kirchenväter, die „Patristik“. In eben dieser Haltung haben sich die frühmodernen Humanisten, die ja zunächst einmal Christen und insofern Kinder einer schriftgläubigen Kultur waren, dann auch dem Erbe der Antike genähert. Der Antike wollten sie vor allem in den Schriften begegnen, die sich von ihr erhalten hatten, und diese Schriften hatten für sie einen ähnlichen Stellenwert, eine ähnliche Autorität wie die Bibel und die Kirchenväter, so daß sie die Kultur der Antike, die Wissenschaft und die Kunst, um nicht zu sagen: den Geist der Antike als Buchgelehrte, als Schriftgelehrte, als Philologen in den Formen der Schriftkenntnis und der Schriftgläubigkeit meinten haben zu können.