Meine Jugend in Erfurt unter Hitler 1933–1945

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Meine Jugend in Erfurt unter Hitler 1933–1945
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Gerhard Laue

MEINE JUGEND IN ERFURT UNTER HITLER

1933-1945

Ein Zeitzeuge erzählt

Eine Jugend in bewegter Zeit

Aktiver Widerstand

In den Fängen der Gestapo

Schicksale jüdischer Freunde

Todesurteile und Euthanasie im engsten Umfeld

Sehr viel von dem, was ich in den letzten Jahren im Familienkreis

über meine Kindheit im "Dritten Reich" erzählt habe,

hat meine Tochter SUSANNE LAUE schriftlich festgehalten

und gesammelt.

Herausgekommen ist dieses Buch,

welches ohne dieses Engagement nicht möglich gewesen wäre.

Impressum

Umschlaggestaltung: Harald Rockstuhl

Titelbild: Auf dem Platz in Erfurt hinter der Gutenbergschule 1943.

Foto: Sammlung Gerhard Laue

1. Auflage 2016

ISBN 978-3-95966-214-7

Repro und Satz: Werner Knobloch

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Jeder Nachdruck, auch auszugsweise, bedarf der besonderen Genehmigung!

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaber: Harald Rockstuhl

Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e. V.

Lange Brüdergasse 12 in D-99947 Bad Langensalza/Thüringen

Telefon: 03603/81 22 46 Telefax: 03603/81 22 47

www.verlag-rockstuhl.de

Dieses Buch

widme ich

in

Dankbarkeit und Verehrung

meinen Eltern

Paul und Margarete Laue

Sehr hilfreich war das enge, freundschaftliche Zusammenwirken mit

Herrn Rüdiger Bender

Martin Niemöller-Stiftung e. V.

Förderkreis Erinnerungsort

Topf & Söhne e. V.

Prof. Dr. Christiane Kuller

Neuere Zeitgeschichte

Universität Erfurt

PD Dr. Annegret Schüle

Erinnerungsort Topf & Söhne

Die Ofenbauer von Auschwitz

Dr. Jochen Voit

Stiftung Ettersberg

Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße

und

meinem langjährigen Freund

Werner Knobloch

Offsetdruck-Meister

für seine technische Beratung

und Unterstützung

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Mitwirkende Autoren

I ERSTE BERÜHRUNGEN SCHON IN FRÜHER KINDHEIT

Auf ein Wort

1933 - Hitler kommt an die Macht

18. Juni 1933-Hitler in Erfurt

Hitler besucht Erfurt

Unsere Hakenkreuzfahne

Die „Alte-Fritz-Schule“

Klassenkamerad Günter Stein und der große Hunger

Hugo

Der KdF-Wagen, aus dem nach dem Krieg der Volkswagen wurde

II MEINE JAHRE ALS PIMPF IM JUNGVOLK

Ich werde Pimpf im Jungvolk

Die Pimpfenprobe

Die Rassenlehre

Familienprobleme

Der 9. November 1938

Die Bücherverbrennung

Die Fehde

Die Führerbüste

Zeltfahrten

Sportabzeichen und Siegernadeln

Die Kartoffelferien

Hitler-Jungen stören den Fronleichnamszug

Mein Wechsel zum Fähnlein 7

Gauleiter Sauckel

Wehrertüchtigungslager

Mein Opa, der ewige Rebell

Der Reichsjugendführer in Erfurt

1938 - Aus Deutschland wird Großdeutschland

75 Jahre später - Ursachenforschung

III SCHICKSALE JÜDISCHER FREUNDE

1933–1945 - Jüdische Freunde

1933 - Erfurt hatte eines der ersten Konzentrationslager

Erste Jüdische Freunde schon im Vorschulalter

Die Schuhfabrik Hess

„Das ist n u r ein Konzentrationslager“

Gute und echte Freundschaften

„Das werden wir noch einmal bitter büßen müssen!“

Der „Jude Mayer“

Leopold Wolf, der jüdische Onkel

Richard Besser, der jüdische Freund meiner Großeltern

„Der alte Cohen“

Fritz Lessmann wird zum Tode verurteilt

Günter Schwarze wird zum Tode verurteilt

Tante Frieda - ein Opfer der Euthanasie

IV DIE HANDELSSCHULE - BEGINN DES UMDENKENS

Vorwort

Begeisterung - Nachdenken - Kritik - Ablehnung Die Stationen des Wandels

Meine vergeblichen Absetzversuche

Die Handelsschule

Ferienjobs

Horst Kohl

Das Relief

Die „Achse Berlin - Rom“

 

1943 - Feindsender - Erste Zweifel

V DER ERFURTER JUGENDWIDERSTAND

Meine Nähe zum Widerstand

Meine Verhaftung - Das Verhör bei der Gestapo

Die Suspendierung

Der bewegende Abschied - Die späte Rückkehr

Melanies Hochzeit - Der verdammte Krieg -

Herr Schulz - Der stille Held

VI GERICHTSVERHANDLUNG - DOKUMENTE - URTEILE

Die Gerichtsverhandlung

Die Dokumente aus dem Stadtarchiv

Die Urteile des Oberlandesgerichts Kassel

VII DIE PROTAGONISTEN ERZÄHLEN

Meine Gespräche mit Karl Metzner und Gerd Bergmann

Alles hat am Bodensee begonnen

Die Gründung der Gruppe - Die Aktivitäten - Das Ende

Die Gerichtsverhandlung - Gedanken und Gefühle der Protagonisten

VIII DIE GENERATION DER FLAKHELFER

Meine Flakhelfer-Generation

Klassentreffen der Mittelschule III

IX DER DOKUMENTATIONSFILM „NIEDER MIT HITLER“

Ein großer Zeitsprung

Planung und Vorbereitung

Die Dreharbeiten

Die Uraufführung

Presse-Echo

X EIN BLICK VORAUS - EIN BLICK ZURÜCK

Einige Worte zum Schluss

Grußworte

Der Autor Gerhard Laue

Unsere Hla lebt weiter fort

Dank an

I

Auf ein Wort

Es kann sich niemand die Zeit aussuchen, in welche er hineingeboren wird. Mein Schicksal war es, dass es bei mir die Ära des Nationalsozialismus gewesen ist. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, war ich gerade mal 4 ½ Jahre alt. Natürlich habe ich damals noch nicht begriffen, was für eine Bedeutung dieser Vorgang hat. Aber, ich bin groß geworden in dieser Zeit und habe bis zum Kriegsende – und damit auch dem Ende dieser Ära – nichts Anderes gekannt.

Natürlich haben diese 12 Jahre mich und meine Altersgenossen geprägt. Wie könnte das auch anders sein! Bei all dem Erlebten – positiv wie auch negativ – war es das große Maß an Erfahrung, welches wir aus dieser Zeit mitgenommen haben.

Nach 1945 hat sich die Welt verändert. Wir haben den Krieg verloren. Mit allen seinen schrecklichen Folgen. Die Sieger verloren nur wenig später ihr riesiges Kolonialreich. Das waren riesige Umwälzungen, die es in diesem Ausmaß vorher und auch danach nicht wieder gegeben hat.

Es war eine Zeit, die scheinbar nur der richtig erklären kann, der sie selbst erlebt hat. Dieser frenetische Jubel! Diese wie hypnotisiert wirkenden Massen! Es war der reine Wahnsinn! Sogar mir als Zeugen aus dieser Zeit fällt es schwer, nachzuvollziehen und zu begreifen, was damals in der Mehrheit der Bevölkerung vor sich gegangen ist.

Mit diesem Buch will ich versuchen, den Leser in die für uns alle unbegreiflichen Jahre von 1933-1945 hineinzuführen.

Wenn es mir gelingt, etwas mehr Verständnis für das aufzubringen, was die eigenen Groß- und Urgroßeltern damals veranlasst hat, sich so zu verhalten, wie sie es in ihrer Mehrheit getan haben, dann hat das Buch seinen Zweck erfüllt. Die Zeiten sind wahrlich nicht gut gewesen, als ich am 14. Juni 1928 in der Erfurter Moritzwallstraße das Licht der Welt erblickte.

Es war die Zeit der Weimarer Republik. Gefühlt gab es alle acht Wochen eine neue Regierung!

Der verlorene erste Weltkrieg, der vor zehn Jahren zu Ende gegangen war und die große Inflation von 1923, hatten tiefe Spuren hinterlassen. Wie Millionen Andere auch, hatten meine Großeltern und die vielen Verwandten ihr ganzes Barvermögen verloren. Alle mussten sie wieder bei Null anfangen. Und das unter erschwerten Bedingungen. Die Arbeitslosigkeit war mit sieben Millionen – bei 66 Millionen Einwohnern – riesengroß. Und wer Arbeit hatte, der hat meist nicht viel verdient. Das Geld reichte für Viele für die Miete und für einen sparsamen Lebensunterhalt.

Das wurde auch unter Hitler nicht anders. Da floss das meiste Geld in die Prestige-Projekte der neuen Machthaber. Der private Sektor wurde vernachlässigt. Auch vor dem Krieg herrschte schon Mangel an vielen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Butter war rationiert. Die Wohnungsnot war groß. Als es begann besser zu werden, kam der Krieg. Da wurde alles noch schlimmer.

Sie haben damals eng zusammengehalten. Und sie haben sich damals gegenseitig geholfen – die Alten!

Trotzdem kann ich auf eine behütete Kindheit zurückblicken, wofür ich meinen Eltern und Großeltern vom Herzen dankbar bin.

1933 – Hitler kommt an die Macht

Als Hitler am 30. Januar die Macht in Deutschland übernommen hat, war ich, wie bereits erwähnt, 4 ½ Jahre alt. Begriffen habe ich noch nichts. Aber an einige Vorgänge kann ich mich doch noch erinnern.

Das war vor allem der nächtliche Lärm unten auf der Straße. Ich konnte nicht schlafen – auch wenn ich mich noch so tief unter der Bettdecke verkrochen habe.

Wir wohnten damals im Norden der Stadt, einem reinen Arbeiterviertel. Da hatten sich kurz zuvor noch die Nazis und die Kommunisten erbitterte Straßenschlachten geliefert.

Jetzt feierten die Sieger, voran die Schlägerkolonnen der SA, ausgiebig und lautstark ihren Sieg. Mit Pauken, Trompeten und klingendem Spiel zogen sie durch unsere nächtliche Straße. Laut grölend haben sie ihre brachialen Lieder gesungen. Lange Fackelzüge erhellten die Nacht.

Diese Horrornächte sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben.

Schon nach wenigen Tagen der Hitlerregierung hat es niemand mehr gewagt, sich über den Lärm zu beschweren.

Auch in unserem Haus gab es einige begeisterte Hitler – Anhänger. Ich weiß noch, wie mich damals ein Nachbar zur Seite genommen hat. Mit wichtigem Gesicht hat er mir gesagt: „Wenn du jetzt jemandem begegnest, der eine Uniform anhat, dann musst du ihn grüßen. Das geht so: „Du musst den rechten Arm nach vorn strecken und dabei laut „Heil Hitler“ rufen.“

Er machte mir das vor und ich hatte kapiert.

Männer in Uniform hatte ich schon gesehen. Das waren die zwei Polizisten, die den ganzen Tag mit geschultertem Gewehr die Stollbergstraße auf und ab gegangen sind.

An denen wollte ich jetzt das ausprobieren, was ich gerade gelernt hatte. Meinen Spielkameraden hatte ich vorher den neuen Gruß beigebracht.

So vorbereitet zogen wir Dreikäsehochs – ich war mit 4 ½ der Älteste – voll Tatendrang in die Stollbergstraße. Das war direkt um die Ecke.

Auch wir gingen nun die Straße auf und ab. Genau wie die Polizisten. Aber in die Gegenrichtung. Bei jeder Begegnung grüßten wir die Polizisten ganz stramm mit dem neuen Gruß. Es hat Spaß gemacht. Ganz offensichtlich auch den Polizisten. Die haben mitgemacht und immer freundlich zurück gegrüßt.

Wir wurden mutiger und grüßten bei jeder Begegnung lauter und zackiger. Schnell ausgesprochen wurde aus dem „Heil Hitler“ bald ein „Heitler“.

Meine kleine Schwester, gerade 3 Jahre alt geworden, war auch mit dabei. Sie hat uns „Großen“ alles nachgemacht. Nur nicht ganz so stramm. Sie hatte ihr Spielzeug, einen kleinen Handfeger, mitgebracht. Und so ergab es sich, dass sie einmal mit erhobenem Handfeger gegrüßt hat. Darauf haben ihr die freundlichen Polizisten gesagt, dass man den Führer nicht mit einem Besen grüßen darf. Ganz brav hat sie das dann auch nicht mehr getan.

Weil es uns so gefallen hat, haben wir das Spielchen mit großer Ausdauer sehr lange fortgesetzt. Wir hatten unsere Freude. Und die Polizisten bestimmt auch.

Ich habe erst 60 Jahre später erfahren, warum die Polizisten damals in der Stollbergstraße patrouilliert sind. Das geschah während eines Klassentreffens kurz nach der Wende.

Da erfuhr ich erstmals, dass in der Feldstraße – nur 100 m von unserer damaligen Wohnung entfernt – in einem Hinterhoffabrikgebäude ein provisorisches Konzentrationslager errichtet worden war. Es soll das erste überhaupt gewesen sein.

Vermutlich sollten die Polizisten Präsenz zeigen, um eventuell aufkommenden Unruhen im Umfeld dieses KZs vorzubeugen.

18. Juni 1933 – Hitler in Erfurt



Wenige Monate nach seiner Machtübernahme besuchte Hitler Erfurt.

Es war sein erster und einziger Aufenthalt hier. 100 000 Menschen sollen ihm begeistert zugejubelt haben.

In der Folge galten seine Besuche nur noch der Gauhauptstadt Weimar.

Seine Residenz hatte er im Hotel „Elephant“.

Hitler besucht Erfurt

Nur wenige Monate nach seiner Machtübernahme weilte Hitler für zwei Tage in Erfurt.

Es sollte sein erster und einziger Besuch in unserer Stadt gewesen sein.

An diesem 17. Juni 1933 war er nach Erfurt gekommen, um am großen „Thüringer Gautreffen“ der SA teilzunehmen. Angekommen war er mit seiner Sondermaschine auf dem Flughafen Erfurt – Nord. Dieser erste Erfurter Flughafen ist schon lange Geschichte. Das damals große Areal, welches sich vom Roten Berg in Richtung Bahnhof Erfurt – Nord hinzog, ist nach dem Krieg bebaut worden.

Auf dem langen Weg zum Rathaus, wo er vom Nazi – Oberbürgermeister Pichier empfangen wurde, sollen die Menschen dicht gedrängt gestanden und ihrem Führer zugejubelt haben. Bei seiner Rede auf dem Friedrich – Wilhelm–Platz waren es 100 000, die das Gleiche getan haben.

Zählt man die jubelnden Massen zusammen – die auf den Straßen, und die auf dem heutigen Domplatz – dann muss doch eine stattliche Summe zusammengekommen sein.

Es war eine Begeisterung, die heute keiner mehr begreifen und noch weniger verstehen kann.

Unsere Hakenkreuzfahne

Die Nazis haben ihren Sieg ausgiebig gefeiert. Sie führten auch neue Gedenktage ein. Sie sollten an die Erfolge und auch an die Toten aus der sogenannten „Kampfzeit“ erinnern. An solchen Tagen – wie auch am 1. Mai, am Heldengedenktag und natürlich auch an Hitlers Geburtstag – wurde die allgemeine Beflaggung angeordnet.

Jede Familie musste eine Hakenkreuzfahne kaufen und sie an jedem dieser Flaggentage aus dem Fenster hängen. Der jeweilige Blockwart der Partei achtete peinlich genau darauf, ob auch jede Familie dieser Pflicht nachgekommen war.

 

Diese Fahne wurde bald zum echten Kultobjekt. Konnte man doch mit einer großen Fahne, dazu aus wertvollem Material, auch nach außen hin so schön seine Verehrung für den Führer zeigen.

Zu meinem großen Leidwesen hat mein Vater nichts von Wettbewerben dieser Art gehalten. Das ging vollkommen an ihm vorbei.

Hitler hin, Hitler her. Ihm ist es grundsätzlich gegen den Strich gegangen, dass er da zu etwas gezwungen wurde, was er freiwillig nie getan hätte.

Er ließ sich nun mal nicht gern vorschreiben, was er zu tun und was er zu lassen hatte. In solchen Fällen konnte er auch schon mal ganz schön stur sein, mein lieber Papa!

Also kaufte er eine Hakenkreuzfahne, weil er das musste. Und so hatte sie auch ausgesehen. Allein in dieser Fahne lag schon eine gehörige Portion Protest.

Es war eine kleine Fahne. Sie war weder schön, noch war sie aus wertvollem Material. Schon beim ersten Regen waren die Farben ineinander gelaufen. Der weiße Innenkreis mit dem schwarzen Hakenkreuz hatte das Rot der Fahne angenommen. So konnte bei mir keinerlei Freude aufkommen, wenn mal wieder eine Beflaggung angesagt war. Da stand ich unten auf der Straße und habe all die schönen großen Fahnen in der Nachbarschaft bewundert. Aber wenn ich dann nach oben geschaut habe – in den dritten Stock, wo wir gewohnt haben – und wenn ich dann Papas mickriges, kleines Fähnchen erblickt habe, da habe ich mich aufrichtig geschämt.

Unser Fähnlein bot ein Bild des Jammers.

Das sehen die Nachbarn doch auch, habe ich mir gedacht. Auch meinem Vater wird das nicht entgangen sein. Aber ihn hat das kalt gelassen. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er das sogar genossen hat. Er hatte wohl seinen Spaß daran, wenn er ab und an mal so richtig gegen den Strom schwimmen konnte.

Er wusste, dass er nichts Unrechtes getan hatte. Über die Größe der Fahne hat es auch in der Hitler – Diktatur kein Gesetz gegeben.

Irgendwann hab ich mir ein Herz genommen und meinen Vater auf unsere mickrige Fahne angesprochen. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht – bitte, bitte – eine schönere Fahne kaufen könne. Er gab sich darauf kurz angebunden: „Für eine größere Fahne gebe ich kein Geld aus.“

Der Ton, mit dem er das sagte, ließ keine weiteren Fragen zu. Das habe ich gewusst.

Wo wir in Erfurt gewohnt haben


Feldstraße Nr. 11

Im 3. Stock rechts haben wir von 1932 bis 1941 gewohnt.

Nur 7 Häuser weiter – in der Feldstraße Nr. 18 – haben die Erfurter Nazis im Jahre 1933 das erste Konzentrationslager errichtet.


Albrechtstraße Nr. 28

1941 - 1957

Die 5 Fenster im ersten Stock rechts gehörten zu unserer Wohnung. Im Erkerzimmer über dem Hauseingang hatte ich mein Reich.


Klara-Zetkin-Straße Nr. 108

Im Frühjahr 1957 bezog unsere Familie den 2. Stock im eigenen Haus.

Die „Alte-Fritz-Schule“

Ostern 1934 wurde ich eingeschult. Als Juni – Geborener war ich erst fünf Jahre alt.

Ich war der Jüngste in der Klasse. Und wie es in diesem Alter üblich ist, gehörte ich damit auch zu den Kleinsten. Ich bekam die obligatorische Zuckertüte und fühlte mich an diesem Tag als Mittelpunkt der zahlreich erschienenen Verwandtschaft.

Meine neue Schule war die „Alte-Fritz-Schule“ in der gleichnamigen Straße. Zu DDR–Zeiten hieß sie wohl „Hans-Sailer-Schule“.

Auf dem Schulgelände stand noch ein weiteres großes Gebäude. In dem waren unten die Turnhalle und darüber die große Aula untergebracht.

In dieser Aula wurde die Einschulung in der damals üblichen Art gefeiert. Mehrere Hakenkreuzfahnen und noch mehr SA-Uniformen! Die Uniformträger waren einige junge Lehrer und einige Väter.

An einer Seitenwand stand in großen goldenen Lettern auf roten Grund der Satz: „Deutsch die Saar – immerdar.“

Auch unser neuer Klassenlehrer, Herr Albrecht, hat mit sichtbarem Stolz die braune SA-Uniform getragen. Er hat uns im Unterricht viel über unseren verehrten Führer Adolf Hitler erzählt.

Er ist aber nicht so fanatisch gewesen wie Herr Jentzsch, den wir im dritten Schuljahr gehabt haben. Der konnte richtig euphorisch werden, wenn er von unserem Führer gesprochen hat. Der konnte so begeistert reden, dass man das Gefühl haben konnte, er sei überall dabei gewesen.

So war es auch mit dem spanischen Bürgerkrieg, der in diesem Jahr 1936 gewütet hat. Der faschistische General Franco hatte einen Aufstand gegen die kommunistisch dominierte Volksregierung organisiert.

Auch das Ausland hat sich eingemischt. Hitler half seinem Faschistenfreund Franco mit der Entsendung der „Legion Condor“. Auf der Gegenseite stand eine internationale Brigade mit Teilnehmern aus verschiedenen Ländern. Viele Prominente waren darunter. Unter ihnen auch Ernest Hemingway. Der hatte darüber seinen Roman „Wem die Stunde schlägt“ geschrieben. Der Roman ist auch verfilmt worden.

Diese „Legion Condor“ hatte es Lehrer Jentzsch angetan. Er bejubelte alle Siege. (Die sie auch wirklich errungen hat) Die „Legion Condor“ hat auch wesentlich zum Sieg Francos beigetragen.

Jentzsch hat besonders von unserer Luftwaffe geschwärmt. Die habe so große Bomben, dass sie ganze Städte zerstören kann. Er skizzierte an die Tafel, wie einfach unsere Flugzeuge eine bis dahin uneinnehmbare Festung sturmreif gebombt haben.

Jentzsch hat uns das Gefühl vermittelt, dass Hitler der Allergrößte ist und dass unsere Armeen unbesiegbar seien.

Schon in der Volksschule hat die Politik einen großen Raum eingenommen. Es hat kaum ein Fach gegeben, in dem man nicht politische Themen behandeln konnte. Vor allem die jüngeren Lehrer haben es verstanden, ihre grenzenlose Begeisterung für Hitler an uns 6-10jährige weiterzugeben.

Zehn Jahre später – 1944 – habe ich diese alte Aula noch einmal wiedergesehen. Es war eine Pflichtveranstaltung. Da haben nämlich die von uns allen gefürchteten Werbeabende der Waffen-SS stattgefunden. Mit allen Wassern gewaschene SS-Offiziere haben versucht, uns dazu zu zwingen, eine Freiwilligenmeldung zu unterschreiben.