Der Kodex des Bösen

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Der Kodex des Bösen
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Frank Kurella

Der Kodex des Bösen

Historischer Roman

Zum Buch

DIE HÄUPTER DES HEILIGEN Neuss 1288. Der zum jungen Mann gereifte Marcus gerät in den Verdacht, die Reliquie des heiligen Quirinus aus dem Münster der Stadt Neuss gestohlen zu haben. Er hält gerade den sterbenden Priester, der die tatsächlichen Diebe überrascht hat, in seinen Armen, als zwei weitere Geistliche auftauchen. Mit letzter Kraft spricht der Sterbende einige rätselhafte Worte, die auf die Hintergründe des Raubes hinweisen, bevor Marcus die Stadt fluchtartig verlässt.

Frank Kurella, 1964 in Düsseldorf geboren, lebt heute in Neuss. Seit 2004 ist er als freier Autor tätig. Seine Publikationen haben stets einen Bezug zur Rheinischen Historie. »Der Kodex des Bösen« ist sein zweiter historischer Roman und die Fortsetzung zu seinem Debüt »Das Pergament des Todes«.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Das Pergament des Todes (2007)

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2020

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Susanne Tachlinski

Korrektorat: Claudia Senghaas, Susanne Tachlinski

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Vanitas-Stillleben« von Sebastian Stoskopff, visipix.com

ISBN 978-3-8392-3016-9

Dank

Mein besonderer Dank gilt Abt Friedhelm Tissen OSB aus der Abtei Kornelimünster, der mich in einigen klösterlichen Fragen beraten hat.

Vorbemerkung

Dieses Buch ist ein Roman, und die darin geschilderten Ereignisse sind größtenteils frei erfunden. In besonderem Maße gilt das für Handlungen und Äußerungen der auftretenden oder erwähnten Personen, auch wenn einige von ihnen nicht der Fantasie des Autors entsprungen sind. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Am Ende des Romans finden Sie ein Glossar, das die lateinischen Begriffe des benediktinischen Ordenslebens erläutert.

Prolog

Schloss Burg – im Jahre 1188

»Sagen wir 100 Kölnische Mark, verehrter Arnold.«

»Nur 100? Allein die Ländereien in Himmelgeist und Hongen sind diese Summe wert. Gut, meine Liegenschaften in diesem kleinen Dorf an der Dusel gebe ich Euch notfalls dazu, aber Monheim und Holthausen?« Arnold von Tyvern war den Tränen der Verzweiflung nahe. Graf Engelbert kannte seine finanzielle Misere und schien entschlossen, diese auszunutzen. Auf diese Weise hatte der Graf von Berg in den letzten Jahren sein Territorium Stück für Stück, Parzelle um Parzelle ausgeweitet. Die Grafschaft hatte sich rasch vergrößert, und es war ihm gelungen, unterhalb Kölns bereits bis an den Rhein vorzudringen. Jedoch bisher nur unterhalb Kölns.

Jegliche kriegerische Auseinandersetzungen waren dem Grafen verhasst. Vor allem wegen der damit verbundenen Kosten. Sein Geld für Zukäufe weiterer Ländereien zu verwenden, erschien ihm hingegen wesentlich sinnvoller, und so kam ihm die missliche Lage seines Verwandten sehr gelegen. Arnold von Tyvern war einst ein wohlhabender Mann gewesen. Doch eines Tages hatte er sich im Verborgenen der Alchemie und den magischen Kräften verschrieben. Seitdem war er an den einen oder anderen dubiosen Scharlatan geraten, der ihm sein Geld nur so aus den Taschen gezogen hatte. Anfangs war er mehr zufällig in einem Wirtshaus an einen Kerl geraten, der ihm redegewandt weisgemacht hatte, er könne aus einfachem Sand reines Gold gewinnen. Von Tyvern hatte ihm mit kindlicher Naivität geglaubt, dass er die Frucht seiner Gabe aus rein moralischen Gründen mit ihm teilen würde. Schließlich habe er ja das Talent aus göttlicher Hand empfangen und müsse dieses folglich auch im Sinne göttlicher Nächstenliebe verwenden, hatte der Kerl gesagt. Nachdem er aber eine beträchtliche Summe zur Beschaffung der erforderlichen Zutaten erhalten hatte, war er urplötzlich verschwunden. Auch die folgenden Alchemisten hatten alles andere als die erwünschte Vermehrung seines Vermögens gebracht, und so konzentrierte von Tyvern sein Bestreben schließlich auf das Erlangen ewigen Lebens. Das Einzige, das ihm aus diesen Jahren geblieben war, war eine stattliche Sammlung von Schriftrollen und Manuskripten mit zweifelhaften Zaubersprüchen und wertlosen Prophezeiungen. Seine Taschen und Münztruhen waren hingegen leer.

Aber vielleicht hatte er ja schon durch eine der mysteriösen Zeremonien ewiges Leben erlangt, ohne es zu spüren? Woran sollte er erkennen, ob er nicht ohne die teure Magie schon lange tot wäre? Schließlich lebte er ja noch. So tröstete er sich mit kindlicher Naivität über seine chronische Armut hinweg und sprach sich selbst Mut zu. Erst Jahre später wurde ihm schmerzlich bewusst, dass sich seine Hoffnung auf ewiges Leben nicht erfüllen würde.

»Verehrter Engelbert, so habt ein Einsehen. Wovon soll ich denn leben? Ich habe nicht einmal genug Heller für eine tägliche Ration Brot!«

»Daran soll unser Handel nicht scheitern«, erwiderte der Graf von Berg mit ruhiger Stimme. »Du erhältst neben der großzügigen Summe, die ich bereits nannte, das lebenslange Recht, hier auf Schloss Burg zu leben und zu speisen. – Jedoch mit der Dienerschaft, versteht sich.« Der Graf beobachtete aufmerksam die Miene seines Gegenübers. Würde dieser armselige Kerl nach dem letzten Strohhalm greifen, an dem er sich aus dem finanziellen Sumpf ziehen konnte?

»Nun, ja …«, stammelte dieser und schaute demütig zu Boden.

»Dann ist es also abgemacht?«, fragte der Graf mit fester Stimme.

Von Tyvern überlegte kurz, dann nickte er widerwillig. Verzweiflung und Wut waren auf seinem Gesicht zu erkennen.

»Mein Schreiber wird noch heute den Vertrag aufsetzen. Wendet Euch derweil an den Burgvogt. Er ist bereits über alles informiert und wird Euch in Eure neue Kammer geleiten.« Mit einer gönnerhaften Handbewegung schickte Graf Engelbert den Bezwungenen fort.

Zufrieden setze er sich in den hohen Lehnsessel neben dem Kamin und nahm einen großen Schluck Wein. Zurzeit waren die soeben erworbenen Ländereien und Siedlungsteile zwar noch nicht von bedeutendem Wert, doch mit Wehrtürmen oder gar Befestigungen versehen, würden sie eines Tages ein Bollwerk gegen Übergriffe aus dem Westen bilden. Ein Bollwerk gegen die kurkölnischen Truppen des Erzbischofs oder jeden anderen Angreifer, der aus dieser Richtung über den Rhein vorrücken würde. In seinem tiefsten Inneren spürte er, dass der heutige Handel von großem Nutzen für seine Grafschaft war.

Der erste Tag

Neuss, 100 Jahre später …

Die ersten spärlichen Sonnenstrahlen des Maimorgens tauchten den Turm der Münsterkirche St. Quirin in ein gelblich warmes Licht, als Marcus die Gebrante Gaß hinuntertrottete. Noch etwas verschlafen ging er wie jeden Morgen zum Hafen, um nach einer lohnenden Anstellung für den Tag Ausschau zu halten. Die Schiffer der Lastkähne konnten meist eine starke Hand gebrauchen. Sie brachten vor allem Wein von der Mosel, den oberen Rheingebieten und aus dem Elsass nach Neuss. Von hier aus wurden die Fässer auf dem Landwege nach Flandern gebracht oder gelangten über den Hellweg nach Norden. Auf diese Weise bildete der Weinhandel, neben den sich stetig drehenden Kornmühlen, eine der Säulen, auf der der Reichtum der Stadt beruhte. Doch wesentlichste Quelle blieben die unzähligen Pilger, die nach Neuss kamen und den heiligen Quirinus um seine Führsprache anflehten. Und so waren die sterblichen Überreste des Römers, nicht nur aus religiöser Sicht, ein Segen für die Stadt und ihre Bewohner.

Die schwere körperliche Arbeit im Hafen hatte den Jungen zu einem stattlichen Mann reifen lassen, seit er vor etwa vier Jahren beim Schankwirt Berthold Janssen ein Zuhause gefunden hatte. Gerade im letzten Jahr war er nochmals in die Länge geschossen, sodass er Annehild Janssen, die Wirtin des ›Schwarzen Krug‹, nun gar um einen ganzen Kopf überragte. Fast nichts mehr erinnerte an den knabenhaften Taschendieb, der er noch gewesen war, als die Wirtsleute ihn bei sich aufgenommen hatten. Nur sein langes, weißblondes Haar trug er noch wie an jenem Tag.

Im Gehen rieb sich Marcus den letzten Schlaf aus den Augen. Spät war es gestern Abend geworden. Annehild war schon zu Bett gegangen, und Marcus hatte Berthold noch in der Schenke geholfen, bis die letzten Gäste gegangen waren. Ein paar Männer des Schultheißen hatten in ihrem feuchtfröhlichen Gelage wieder mal kein Ende gefunden. Hubertus Hohenfels, ein ehrgeiziger junger Kerl, hatte wohl etwas zu feiern gehabt. Bestimmt hatte ihm sein Dienstherr, der Stellvertreter des erzbischöflichen Landesfürsten, erneut eine Anerkennung für seine Dienstbeflissenheit zukommen lassen, denn Hubertus gehörte nicht zu den gemütlichen Altgedienten, die hin und wieder ein Auge zudrückten, sondern zu jenen Männern, die für die Anerkennung ihres Vorgesetzten auch einen noch so armen Teufel wegen einer Nichtigkeit an den Pranger brachten. Trotz der Wut, die bei diesen Gedanken in Marcus aufstieg, musste er gähnen. Die langen Abende in der Schenke, an denen er dem Wirt half, und die frühmorgendliche körperliche Arbeit im Hafen zehrten an seinen Kräften. Niemals aber wollte er dieses Leben gegen sein früheres Dasein als armseliger Taschendieb in den Straßen von Neuss eintauschen.

 

Er war die Aber Strais hinuntergegangen und gerade an der Ecke zur nächsten Gasse angekommen, als ihn das aufgeregte Wiehern zweier Pferde aus seinen Gedanken riss. Es schien vom Münster her über den Freithoff zu schallen. Dann ertönten schwere Hufschläge, die sich rasch entfernten, bevor die frühmorgendliche Stille wieder einsetzte. Neugiergig bog Marcus in die Gasse ein und gelangte gerade­wegs auf den großen Vorplatz der Münsterkirche. Die plötzliche Stille kam ihm unheimlich vor.

Langsam ging er auf den imposanten Kirchenbau zu. Er war noch gut 30 Schritte entfernt, als plötzlich das Pilgerportal, das an der rechten Seite des Gotteshauses lag, von innen aufgestoßen wurde. Ein Priester stürzte ins Freie. Der Gottesdiener starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Richtung des jungen Mannes und taumelte auf ihn zu. Marcus blieb wie angewurzelt stehen. Kurz bevor der Geistliche ihn erreichen konnte, riss dieser die Arme mit einer krampfartigen Bewegung in die Luft, fiel vornüber und blieb regungslos auf dem Pflaster liegen. Erst jetzt lösten sich Marcus’ schreckerstarrte Muskeln. Rasch lief er auf den am Boden Liegenden zu und kniete sich neben ihn. Vorsichtig drehte er den reglosen Körper auf seinen Schoß. Seine Hände und der linke Unterarm fühlten sich mit einmal nass an. Als er den Priester ansah, wusste er warum. Am Hals des Mannes klaffte eine handbreite, stark blutende Wunde. In rhythmischen Stößen strömte das Blut hervor und tränkte den Ausschnitt der Soutane. Auch wenn Marcus kein Medikus war, so erkannte er sofort, dass der bluttriefende Schnitt von einem schweren Dolch oder gar einem Schwert stammen musste. In diesem Augenblick erwachte der Priester aus seiner Ohnmacht und öffnete die Augen. Gott sei Dank, er lebte noch.

Seine wulstigen Lippen begannen zu zittern. Der Mann versuchte zu sprechen. Doch er brachte keinen vernehm­baren Laut hervor. Eilig presste Marcus sein Ohr an die Lippen des Mannes.

»Schrein, Quirinus, Diebe …« Der Verwundete begann leicht zu husten, und Blut spritzte in Marcus’ Ohrmuschel. »Drei …« Der Mann hustete erneut. »Drei Muscheln … Armarius Niko…«, ein heftiges Zucken durchfuhr den Körper des Priesters, bevor er leblos in sich zusammensackte.

Marcus erstarrte. Was war geschehen? Schrein, Quirinus, Diebe? Hatte womöglich jemand die Reliquien des Heiligen aus der Münsterkirche geraubt? Die Reiter! Aber was wollte ihm der Geistliche mit den drei Muscheln und diesem Armarius Niko sagen?

Plötzlich glaubte Marcus ein Geräusch hinter sich gehört zu haben. Er fuhr hoch und blickte über seine rechte Schulter. War da gerade ein Schatten in der Gasse verschwunden, oder spielten ihm die Sinne nur einen Streich?

Er hockte immer noch auf dem Pflaster, den toten Priester auf den Knien, als das Portal des Münsters erneut aufgestoßen wurde. Zwei Diakone traten eilig ins Freie. Sie hatten sich bereits mit gusseisernen Leuchtern bewaffnet und erblickten den über den Leichnam gebeugten jungen Mann.

»Das muss der Kerl sein!«, rief einer der Gottesdiener schrill in die Stille und zeigte mit seinem knochigen Finger auf Marcus. Im gleichen Moment stürzten die beiden auf ihn zu. Offensichtlich hielt man ihn für den Reliquiendieb. Marcus ließ den Toten schlagartig los, und der leblose Körper fiel dumpf auf das Pflaster. Hastig sprang er auf die Beine. Doch wohin sollte er laufen? Ohne eine Antwort auf diese Frage zu haben, drehte er sich um und rannte die Kremer Strais hinab in Richtung Marckt. Hinter ihm ertönte das Klatschen des einfachen Schuhwerks der Kleriker auf dem Pflaster. So schnell er konnte, lief er über den Marckt zur Geim Gaß. Die hastigen Schritte hallten über den menschenleeren Platz und schienen von allen Seiten zu kommen.

Außer Atem bog Marcus in die schmale Verbindungsgasse zur Bruck Strais ein. Der Weg war versperrt. Ausgerechnet hier an der engsten Stelle kam ihm ein Pferdegespann entgegen. Marcus hielt inne und presste seinen Körper an das kalte Mauerwerk. Nicht eine Handbreit Platz blieb ihm, als der Wagen auf seiner Höhe angekommen war. Den Mann auf dem Kutschbock schien dies nicht zu stören, und so setzte er die Fahrt unbeirrt fort. Der beißende Gestank von frisch gegerbten Fellen stieg Marcus in die Nase und raubte ihm fast den Atem. Er begriff jedoch, dass dies die Gelegenheit war, auf die er Sekunden zuvor gehofft hatte. Mit der Linken erwischte er in letzter Sekunde den hinteren Eckholm des vorbeifahrenden Fuhrwerks und schwang sich auf die Ladefläche. Mit einer Geschicklichkeit, die man diesem muskulösen Körper nicht zugetraut hätte, schob er sich unter die Fracht. Der Gestank wurde unerträglich, doch es half nichts. Er musste ihn wohl oder übel ertragen, wenn er nicht den Häschern in die Hände fallen wollte.

Marcus verspürte einen gewaltigen Ruck. Der Wagen hielt abrupt an, und das Pferd scheute.

»Aus dem Weg, Ihr elenden Pfaffen!«, raunzte der Kerl auf dem Kutschbock die beiden Geistlichen an, die gerade die Straßenecke erreicht hatten. Dann schnalzte der Fuhrmann laut mit der Zunge, und das Gespann setzte sich wieder in Bewegung. Marcus vergrub sich noch tiefer in den Fellen und hoffte inständig, dass die Diakone ihn nicht entdecken würden. Das Fuhrwerk bog nach links ab, und zeitgleich erklang wieder das klatschende Geräusch der Bundschuhe. Glücklicherweise entfernte es sich. Die Kirchendiener schienen weiter in Richtung Hafen zu laufen, doch Marcus wagte es nicht, seinen Kopf aus dem vermeintlich sicheren Versteck herauszustrecken.

Schon ein paar Straßen weiter hielt der Wagen erneut. Sie hatten die Ober Pfortz erreicht, die stadtauswärts an der Straße nach Köln lag. Marcus zitterte immer noch am ganzen Leib.

*

»Verrat!« Der Würdenträger war außer sich und tobte wie ein waidwunder Keiler, dem der Spieß des Jägers noch in der Flanke steckte. »Vierteilt den Kerl auf der Stelle!«

»Eure Eminenz, bedenkt den Skandal.« Bruder Ignatius von Heinsberg versuchte Erzbischof Siegfried zu beschwichtigen, der aufgeregt im großen Saal des Palastes auf und ab lief. Ignatius hatte kommen sehen, dass es kein gemütliches Unterfangen sein würde, Siegfried von Westerburg über dessen engsten Vertrauten aufzuklären. Dieser hatte seine Stellung jahrelang zu seinem persönlichen Vorteil genutzt und ihn, den Erzbischof von Köln, ein ums andere Mal hintergangen. Ignatius hatte lange abgewägt, ob es klug sei, den Kirchenfürsten so kurz vor der anstehenden Schlacht mit dieser Angelegenheit zu behelligen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass der Erzbischof in dieser angespannten Situation nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und kurzerhand mit aller Härte durchgreifen würde.

»Die Kölner Bürgerschaft wird sich das Maul zerreißen, und man wird Euch einmal mehr unterstellen, dass Ihr nicht imstande seid, Euren eigenen Hof zu führen. Sie werden den Vorfall womöglich Papst Nikolaus zu Ohren bringen. Bedenkt, der Heilige Vater ist erst seit einigen Monaten im Amt, und so ist es derzeit noch schwer, seine Reaktion auf derartige Anschuldigungen einzuschätzen.«

»Ihr habt recht.« Urplötzlich schlug die Stimmung des Würdenträgers um. Mit einem Mal wirkte er nachdenklich. »Was schlagt Ihr vor, Ignatius?« Erzbischof Siegfried blickte erwartungsvoll auf.

»Nun ja«, der Geistliche schluckte etwas gekünstelt und zog die Stirn in nachdenkliche Falten. »Eine Versetzung scheint mir das rechte Mittel. An einen Ort, wo er Euch von nun an nicht schaden kann.« Der Erzbischof hob inter­essiert die linke Augenbraue. »Ich hörte jüngst, dass der Abt zu Brauweiler einen Stellvertreter sucht. Bruder Urban wurde erst kürzlich heimgerufen, und so ist die Stelle des Priors derzeit unbesetzt. Darüber hinaus verarmt das Benediktiner­kloster zusehends. Es scheint mir daher der rechte Ort zu sein, an dem ein Sünder seine Geld- und Machtgier bereuen kann. Abt Heinrich ist Euch seit Jahren treu ergeben, sodass er Eurem ›Wunsch‹ vorbehaltlos und ohne Widerspruch entsprechen wird.«

Für einen Moment schaute Erzbischof Siegfried zufrieden drein. Urplötzlich schlug seine Nachdenklichkeit wieder in Tobsucht um. »Prior?«, schrie er. »Wir wollen den Kerl nicht belohnen! Diese Aufgabe ist nur etwas für einen meiner treuesten Diener. Bruder Mattäus wird der stellvertretende Abt zu Brauweiler!« Sogleich nahm seine Stimme wieder einen ruhigeren Tonfall an, und ein süffisantes Lächeln huschte über sein Gesicht. Nachdenklich rieb er sich mit dem Zeigefinger die etwas zu lang geratene Nase. »Wir werden Prior Mattäus natürlich nicht allein nach Brauweiler entsenden. Er benötigt gewiss einen persönlichen Schreiber, der ihn, dank seiner Erfahrung, insbesondere bei den lästigen und mühsamen Arbeiten seines neuen Amtes unterstützen kann.«

*

Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Wachen der Ober Pfortz setzte das Fuhrwerk seine Fahrt fort. Marcus überlegte, ob er einfach vom fahrenden Wagen springen solle. Doch was würde passieren, wenn ihn der Kutscher bei seinem Fluchtversuch entdecken würde?

Schon kurze Zeit später hörte Marcus entferntes Stimmengewirr und die Geräusche geschäftigen Treibens. Das Lager! Die Leute in den Neusser Gassen erzählten sich schon seit Tagen, dass Truppen vor den Toren aufgezogen waren. Anfänglich hegte man die Sorge, die Stadt würde belagert. Doch bald schon verbreitete sich die Kunde, dass sich dort nur eine Reihe von Grafen und Landesfürsten mit ihren Männern sammelten, die keinerlei kriegerische Pläne die Stadt Neuss betreffend hatten. Wenn sie auch eher nicht in friedlicher Absicht zusammentrafen.

Die Bauern, die in die Stadt kamen, wussten von Luxemburgern, den Männern des Grafen Rainald von Geldern und der Herren von Plettenberg zu berichten. Auch Dietrich ›Luv‹ von Kleve mit seinen Leuten solle dabei sein, erzählte man sich im ›Schwarzen Krug‹. Die schwer bewaffneten Reiter des Erzbischofs Siegfried von Köln hatte Marcus hingegen sogar mit eigenen Augen auf dem Markt der Stadt gesehen. Ganz Eifrige wussten zu berichten, dass die Zahl der streitbaren Männer bereits auf weit über 4.000 Kämpfer angewachsen war.

Unvermittelt hielt das Gespann an. Vorsichtig hob Marcus die stinkenden Felle, sodass er sich durch den entstandenen Spalt umschauen konnte. Seine Vermutung bestätigte sich: Er befand sich inmitten des Lagers. Was würde passieren, wenn die Männer die Felle abladen und ihn hier auf der Ladefläche bemerken würden? Rasch reckte Marcus sich nach der Wagenkante und zog sich aus seinem Versteck. Mit einer Drehung glitt er von der Ladefläche und landete auf den Beinen. Zur gleichen Zeit war der Kutscher vom Bock gestiegen und stand nun neben ihm.

»Kann ich Euch helfen, werter Herr?« Marcus setzte den unschuldigsten Gesichtsausdruck auf, den er zustande brachte.

»Du kannst die Felle vom Wagen schaffen«, entgegnete der Kutscher. »Glaub nicht, dass ich dich hierfür entlohnen werde«, schob er hastig nach. Mit misstrauischem Blick starrte er auf Marcus. Wo war dieser unerwartete Gehilfe nur so plötzlich hergekommen?

Um keinen Verdacht zu erwecken, begann Marcus unverzüglich und ohne ein weiteres Wort mit der Arbeit.

»Leg mir die guten Stücke nicht dort in die Pfützen! Hier drüben ist es trockener.« Mit diesen Worten wandte sich der Klotz von Marcus ab und ging nach vorn, um nach dem Pferd zu sehen.

»He, du!« Marcus spürte plötzlich eine kräftige Hand auf seiner rechten Schulter. »Wenn du abgeladen hast, kannst du das stinkende Zeug zu unseren Zelten schaffen. Dein Herr wird bei dem Wucherpreis, den er von uns für die gammeligen Fetzen verlangt, gewiss nichts dagegen haben, wenn du uns noch ein wenig zur Hand gehst.«

Marcus drehte sich erschrocken um. Vor ihm stand ein hünenhafter Ritter, dessen schmieriger Wappenrock offensichtlich seit Monaten nicht mehr mit Schlagbrett und Wasser in Berührung gekommen war. Der Kerl stank nicht minder als die Felle, die Marcus Stück für Stück vom Wagen zerrte. In seinem breiten Ledergürtel steckte der Schaft eines gewaltigen Morgensterns. Die schwere, mit langen Stacheln versehene Eisenkugel baumelte an einer frisch geölten Kette. Die Waffe schien das Einzige zu sein, was der Mann regelmäßig pflegte.

»Was glotzt du so?«, fuhr der Bewaffnete ihn an. »Mach, dass du fertig wirst. Wir wollen nicht den ganzen Tag auf dich Faulpelz warten müssen.« Dabei versetzte er Marcus eine tüchtige Ohrfeige und ging wortlos davon. Der Getroffene rieb sich die schmerzende Gesichtshälfte, die augenblicklich anschwoll. Verärgert schaute er dem Hünen nach. Hatte er zunächst die Lust verspürt, den Kerl mit ein paar kräftigen Fausthieben zu zeigen, dass er kein kleiner Junge war, mit dem man so umspringen konnte, hatte er sich sogleich darauf besonnen, nicht weiter aufzufallen. Schließlich war er ein vermeintlicher Reliquiendieb und Mörder auf der Flucht. Um eine weitere Auseinandersetzung zu vermeiden, würde er zukünftig einfach einen großen Bogen um den Ritter machen. Er würde ihm schon von Weitem auffallen, dachte Marcus angesichts des ungewöhnlichen Wappen­rocks. Waren die meisten schlicht, oft nur einfarbig, so hob sich dieser durch seine besondere Aufteilung von den anderen ab. Der weiße Grund, der sich unter dem Schmutz der Kleidung nur erahnen ließ, war durch einen dunkelroten gezackten Brustring geteilt. Der farbige Streifen war mit einer guten Elle außerordentlich breit.

 

Nachdem Marcus das letzte Stück von der Ladefläche des Wagens gezogen hatte, machte er sich eilig daran, die ersten Felle in die Richtung zu tragen, in die der Riese verschwunden war. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte, dem Kerl aus dem Weg zu gehen, so musste er die übel riechende Ware zu ihm schaffen, um keine weitere Ohrfeige zu riskieren. Marcus hoffte, dass der Mann auf jede weitere Provokation verzichten würde und ihn unbehelligt seine unerwartete Arbeit verrichten ließe.

Kurze Zeit später erschien ein anderer Ritter am Fuhrwerk. Auf seinem Wappenrock prangte der gleiche rote Streifen, den der Hüne auf seiner Brust getragen hatte. Schon an der Gangart des Recken erkannte der Kutscher von Weitem, was ihm die ordentliche Fahne des Mannes bestätigte, als er nun einen Schritt vor ihm stand. Der Kerl hatte sich offenbar die Zeit mit einigen Bechern Branntwein vertrieben und sich einen ordentlichen Rausch angesoffen, der jeden anständigen Mann aus den Stiefeln gehauen hätte. Laut rülpsend reichte er dem Kutscher ein klimperndes Ledersäckchen. Angewidert drehte dieser den Kopf zur Seite und verstaute den Beutel in seinem Wams, konnte sich jedoch angesichts der üppigen Bezahlung ein breites Grinsen nicht verkneifen.

»Ihr braucht gar nicht so dümmlich zu lächeln!«, fuhr ihn der Recke an. »Glaubt ja nicht, dass wir nicht merken, dass Ihr uns übers Ohr haut.« Er schaute den Kutscher aus rot unterlaufenen Augen grimmig an. Was sollte er machen? Die große Zahl derer, die sich hier vor den Toren Neuss’ mit den letzten Besorgungen eindeckten, hatten die Preise selbst für die schlechteste Qualität in die Höhe getrieben. Weniger vom schlechten Gewissen getrieben als aus Angst vor einer tüchtigen Abreibung, verneigte sich der Kutscher kurz und stieg eilig auf. Gerade als sich der Wagen in Bewegung setzte, hielt der Ritter das Pferd am Zaumzeug zurück. Der Mann auf dem Bock zuckte zusammen.

»Ach ja, bevor Ihr ihn vermisst: Euren Burschen schicke ich Euch nach, sobald er die Felle hinüber zu unseren Zelten geschafft hat«, lallte der Betrunkene und gab das Pferd mit einer wegwerfenden Bewegung wieder frei.

Bursche? Von wem sprach der versoffene Kerl? Doch diese Frage wollte der Kutscher nicht vertiefen. Einen Disput mit diesem Trunkenbold zu riskieren, war nun wirklich nicht nach seinem Geschmack. Rasch wendete er den Wagen und fuhr kopfschüttelnd, aber erleichtert davon.

*

»Brauweiler? Das allein wäre ja nicht das Schlimmste! Aber als Schreiberling?« Die Stimme des Alten überschlug sich vor Erregung, und Speicheltropfen spritzten seinem Gegenüber ins Gesicht. Es war das zweite Mal an diesem Tage, dass Ignatius eine äußerst unangenehme Nachricht überbringen musste. Musste? Oder war es mehr ein Dürfen? Insgeheim gestand er sich ein, dass ihm dies im Falle des ersten Beraters in gewisser Weise Freude bereitete. Er hatte den Alten in seiner rücksichtslosen, eiskalten Art nie gemocht. Ein Schauer des Ekels war ihm jedes Mal über den Rücken gelaufen, wenn dieser mit seinem silberverzierten Stock an ihm vorbeigehumpelt war. Längere Zeit hatte er ihn schon in Verdacht, dass er sein eigenes geldgieriges Spiel hinter den Mauern des erzbischöflichen Palastes trieb, jedoch nie Beweise hierfür gefunden. Häufig hatten zwielichtige Gestalten vorgesprochen, die zur Überraschung aller auch noch zum Legaten vorgelassen werden mussten. Danach zog sich der Alte oft rätselhafterweise zurück.

Wie sehr hatte Ignatius den heutigen Tag herbeigesehnt. Endlich warf Siegfried diesen greisen Schmarotzer aus dem erzbischöflichen Palast. Wie ein toter Aal in der Sommersonne sollte dieser eklige Alte in Brauweiler verrotten! Ignatius’ Ziel, zum ersten Berater aufzusteigen, schien in greifbarer Nähe. Schon bald würde der Erzbischof allein auf seine Worte hören und ihm sein ganzes Vertrauen schenken.

»Ich kann Euch gar nicht sagen, Bruder Lucius, wie sehr ich auf den Erzbischof eingeredet habe, Gnade vor Recht ergehen zu lassen«, heuchelte Ignatius.

»Eure Fürsprache schert mich einen Dreck!« Der Alte rappelte sich mühsam auf und stütze sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seinen Gehstock. Wenn er nur jünger und nicht so gebrechlich wäre, hätte er diesen Bastard von Erzbischof mit eigenen Händen erwürgt. Diese Schmach würde er ihm heimzahlen, das schwor er sich. Als Schreiber dieses Mattäus, dieses schleimigen Emporkömmlings, würde er auf keinen Fall enden. Schon gar nicht in Brauweiler!

So gut es seine schmerzende Hüfte zuließ, ging er in seiner Kammer auf und ab und überlegte krampfhaft, wie er es anstellen könnte, das Blatt noch zu wenden.

»Eure Abreise ist für den morgigen Tag vorgesehen. Der Erzbischof hat bereits alles veranlasst.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Bruder Ignatius und ließ den wütenden Alten zurück.

*

Als Marcus an die Stelle zurückkam, an der die restlichen Felle lagen, war das Fuhrwerk schon lange verschwunden. Zunächst ärgerte er sich, dass er zu Fuß zur Stadt zurückkehren musste. Aber schon im nächsten Augenblick wurde ihm bewusst, dass er nach den Geschehnissen der frühen Morgenstunden gar nicht zurückkehren konnte. Jeder andere Bürger der Stadt hätte den sterbenden Priester in seinen Armen halten können und wäre niemals in Verdacht geraten. Doch ausgerechnet er? Man hatte seine diebische Vergangenheit nicht vergessen, und die Wirtsleute mussten sich manch üble Anfeindung anhören, seit sie Marcus bei sich aufgenommen hatten. Die ›anständigen‹ Neusser, die einfach nicht an seine Verwandlung zu einem rechtschaffenen Kerl glauben wollten, würden ihn für den Reliquiendieb halten. Darüber hinaus hatte seine instinktive Flucht ihren Anschuldigungen schließlich weiteren Nährboden gegeben. Einen gerechten Prozess, in dem er sich verteidigen konnte, würde er als ehemaliger Dieb nicht erwarten können. Wenn es überhaupt zu einer Verhandlung vor dem Schultheißen kam. Dagegen konnte er sich der geballten Wut des Klerus und der Bürgerschaft über den Verlust des Heiligen sicher sein. Neben den bedeutsamen Glaubensaspekten war der heilige Quirinus schließlich eine beachtliche Geldquelle für die Stadt. Jahr für Jahr kamen Tausende Pilger nach Neuss, um ihn um seine Fürsprache bei Gott anzuflehen. Da es sich bei dem Diebesgut um eine heilige Reliquie handelte, würde man Marcus als Dieb und Ketzer gleichermaßen richten, und dies eher heute als morgen.

So gedankenversunken irrte er zwischen den Zelten des riesigen Lagers ziellos umher. Nach einer Weile setzte er sich auf eines der Strohbündel, die hier und da verstreut lagen.

»Zu welcher Grafschaft gehörst du, Rumtreiber? Dein Herr wird dich Faulpelz schon suchen!« Ein stark untersetzter Mann trat gegen das Bündel, auf dem Marcus saß. Erschrocken sprang dieser auf.

»Äh, ich gehöre nicht …«, er stockte und besann sich. »Gewiss, Herr, verzeiht. Ich werde sofort an meine Arbeit zurückkehren.« Er durfte um keinen Preis auffallen. Solange er nicht wusste, wo er eine sichere Zuflucht finden würde, bot ihm das riesige Lager mit seinen unzähligen Männern und Burschen ausreichend Schutz. In den Massen konnte er vorerst untertauchen. Eilig verschwand Marcus zwischen den Zelten.