TEXT + KRITIK 234 - Robert Menasse

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TEXT + KRITIK 234 - Robert Menasse
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TEXT+KRITIK.

Zeitschrift für Literatur

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:

Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Peer Trilcke

Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-96707-633-2

E-ISBN 978-3-96707-636-3

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E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Michael Köhlmeier

Mein Robert Menasse

Daniela Strigl

Der Gegendenker. Laudatio für Robert Menasse

Attila Bombitz Variationen auf die Entgeisterung. Zum literarischen Werk von Robert Menasse

Armin Schäfer Konstruktion und Störung. Zu Robert Menasses »Die Vertreibung aus der Hölle«

Sławomir Piontek Die Erziehung der Lust als ein Psychogramm einer Generation

Florence Baillet Robert Menasses Theaterstücke. Zeitgenossenschaft, politisches Engagement und figurenorientiertes Drama

Benjamin Biebuyck Von der Spannung der Symbole in Robert Menasses Essays und Reden

Ewout van der Knaap Eine eurosophische Fiktion. Zu Robert Menasses »Die Hauptstadt«

Eva Schörkhuber Zugänge zum literarischen Vorlass von Robert Menasse

Robert Menasse Der Preis der Werte

Ewout van der Knaap Vita Robert Menasse

Ewout van der Knaap Auswahlbibliografie

Notizen

Robert Menasse Abwesenheitsnotiz 2020/21

Michael Köhlmeier

Mein Robert Menasse

Einmal hat mich Robert Menasse gelobt. Als ich ihm einen Witz erzählte, nämlich diesen: Es klingelt an der Tür, der Mann macht auf, sieht aber niemanden. Dahört er unter sich ein Kratzen. Dort steht ein kleiner Tod, halb so hoch wie sein Knie, in der Knochenhand die Sense. Er sagt: »Hab keine Angst, ich hole nur den Hamster.«

Robert lachte sehr laut und sehr lange, wir saßen im Kaffeehaus, und immer wieder lachte er von Neuem. Ich ahnte, dass ihn der Witz auf etwas anderes gebracht hatte, das nur ihn anging, oder das zu erklären zu umständlich gewesen wäre und für mich ohne Bedeutung. Seither höre ich den Nachhall seines Lachens aus allen seinen Büchern. Auch aus jenen, die er vor meinem Witz geschrieben hat, sogar aus jenen, die er geschrieben hat, bevor wir uns kannten. Das wäre allerdings eine Art Wunder. Aber diese Art Wunder würde zu ihm passen.

Als unsere Tochter beerdigt wurde, kam er. Und war da. Und weinte mit mir. Es gibt nichts zwischen uns zu vergeben, weil wir uns seit diesem Tag immer alles vergeben würden.

Daniela Strigl

Der Gegendenker Laudatio für Robert Menasse 1

An Robert Menasse gibt es, gottlob, viel zu loben, so viel, dass man nicht weiß, wo anfangen – und auch nicht, wo aufhören.

Hätte das Wort nicht einen leicht gönnerhaften Beigeschmack, würde ich sagen, Robert Menasse ist ein Tausendsassa, einer, der vieles ist und vor allem vieles kann.

Zunächst ist er natürlich Schriftsteller, Romancier. Sodann Essayist und politischer Kommentator. Außerdem Theaterautor (2009 wurde sein Stück »Doktor Hoechst« am Staatstheater Darmstadt uraufgeführt). Menasse ist Germanist (als solcher hat er etwa energisch für die Wiederentdeckung von Gerhard Fritsch plädiert), er ist – oder war – Übersetzer aus dem Portugiesischen.

Er ist übrigens auch: Laudator (seine Rede auf den in Wiener Neustadt geborenen Autor Elazar Benyoëtz gehört zu den besten Laudationes, die ich je gehört habe). Schade also, dass Robert Menasse seine Laudatio nicht selbst halten kann. Er ist auch ein glänzender Redner.

Ob er ein ebenso guter Zuhörer ist, weiß ich nicht, aber das gehört zu den Vorzügen dieser Textsorte: Es bleibt ihm nichts anderes übrig.

Menasses erste Erzählung hatte den prägnanten, adoleszentem Kunstwollen durchaus angemessenen Titel »Nägelbeißen« und erschien 1973 in der legendären Jugendzeitschrift »Neue Wege«. 1979 gehörte Menasse zu den studentischen Begründern des »Zentralorgans herumstreunender Germanisten«. Im Jahr darauf wurde er an der Universität Wien promoviert, mit einer Dissertation über den »Typus des ›Außenseiters‹ im Literaturbetrieb (Am Beispiel Hermann Schürrer)«. Anders als der genialische Dichter und gewiss nicht minder begnadete Trinker Schürrer, eine berühmte Wiener Lokal-Größe, hatte Robert Menasse kaum Gelegenheit, den Außenseiterstatus im Literaturbetrieb am eigenen Leib zu studieren.

Als Schriftsteller im engeren Sinn hat er sich mannigfaltig bewiesen: In seinen Romanen exerziert er alle möglichen Genres durch, manchmal auch in Überblendungen: den Exilroman, die Gelehrtensatire, den philosophischen Konversationsroman, den Campus-Roman, den Reiseroman, die Dorfgeschichte, den historischen Roman, den erotischen Entwicklungsroman. 2009 überraschte er seine Leser mit einem Erzählband – es war, und das war nun wirklich überraschend, sein erster. An Gedichten sind meines Wissens nur fünf Stück erschienen, weshalb ich mir erlaube, sie hier unter den Gabentisch fallen zu lassen, merkwürdigerweise firmierten sie unter dem Titel des allerersten – vom Autor verworfenen – Romanprojekts »Kopfwehmut«.

Das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien ist aber, das soll nicht übersehen werden, kein Literaturpreis (die Literaturpreise Menasses sind Legion), es ist ein Orden. Die »großen Verdienste«, die damit laut Statut gewürdigt werden sollen, gehen gerade im Fall Robert Menasses über das hinaus, was er sozusagen auf Grundlage seiner Profession, seines Schriftstellerhandwerks geleistet hat. Robert Menasse ist eine Institution, eine Wiener Institution, wie man, um »Das Lied der Deutschen« zu zitieren, »Von der Maas bis an die Memel, / Von der Etsch bis an den Belt«, also eben nicht nur hierzulande und nicht nur auf dem Gebiet des heutigen Deutschland, weiß. Die Institution Robert Menasse wirkt europaweit, sie wirkt auch dort, wo nicht deutsch gesprochen wird, sogar dort, wo das Deutsche aus historischen Gründen keinen besonders guten Klang hat, in Holland zum Beispiel, in Amsterdam, wo Menasse längere Zeit gelebt hat.

Kein Zweifel: Robert Menasse ist öffentliches Eigentum, er ist unser aller Menasse. Er ist auch für seine Gegner, ja für seine Feinde eine Institution, ein monumenthaft aufragendes Ärgernis.

Der Geburtsort Wien ist keine notwendige Bedingung für das Werden und Gedeihen einer Wiener Institution, aber, wie der Fall Menasse zeigt, es erleichtert und beschleunigt die Angelegenheit. Der Übergang von der Wiener zur österreichischen Institution ist bekanntlich fließend. Als 1995 Österreich als Gastland zur Frankfurt Buchmesse geladen war, da schien es geradezu zwingend, dass Robert Menasse die Eröffnungsrede halten sollte. Wer, wenn nicht er? Robert Menasse ist, wie Wendelin Schmidt-Dengler, sein Doktorvater und zeitlebens wohlwollender Kritiker gesagt hat, »ein Meister im Umgang mit symbolischen Repräsentationen«. Schmidt-Dengler meinte das im Hinblick auf Menasses literarisches Werk, man kann es aber auch auf den Autor münzen: Robert Menasse selbst beherrscht die Kunst der Repräsentation, er hat sich mit Kompetenz und Chuzpe, mit der Anmaßung des um seinen Wert Wissenden, zur Institution ausgestaltet; er verkörpert längst die umfassende Zuständigkeit für nationale Belange.

Im offiziösen, seinerzeit vom Wissenschaftsministerium initiierten sogenannten »Kulturinformationssystem« im Internet namens »aeiou« findet sich im Eintrag zu Robert Menasse der Satz: »Im Mittelpunkt seiner Essayistik steht die Positionsbestimmung der österreichischen Literatur.« Kann man das sagen, oder drückt sich da nicht vielmehr das Wunschdenken aus, Menasse möge sich auf seine Kernaufgaben als Autor und Literaturwissenschaftler konzentrieren? Gewiss, mit dem Essay »Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik« (1990) hat er ein Bild der österreichischen Literatur geprägt, das den Geist der Realverfassung des Landes atmet, das die Spuren von Kompromiss und Konsens um des lieben Friedens Willen trägt. Aber die »Positionsbestimmung der österreichischen Literatur« ist für Menasse eben in erster Linie insofern von Interesse, als sie etwas über dieses Land verrät. Und so erscheinen auch Werke in einem rotweißroten Licht, die man lange nur als individuell-existenziell verstehen wollte. A. E.I. O.U. – kein Wunder, dass Menasse für eine doppeldeutige Lesart des habsburgischen Wahlspruchs plädiert und die Erkenntnis in jedem Fall für tröstlich erklärt: Austria erit in orbe ultima – »Österreich wird in der Welt das Letzte sein«.

 

»Brillant« ist wohl das in Bezug auf Menasses Essayistik am häufigsten gebrauchte Wort. »Brillant«, das meint, neben der substanziellen Härte und Qualität, immer auch die Sphäre des Effekts, das Funkelnde, Glänzende, Blendende des geschliffenen Ausdrucks. Und wirklich, wir erleben Robert Menasses Befunde als brillant, egal, ob sie uns nun plausibel erscheinen oder haarsträubend, was auch hin und wieder vorkommt – ja, dann wirken sie fast noch beeindruckender, müssen wir doch Könnerschaft bewundern, wo wir die Gefolgschaft in der Sache verweigern.

Wer etwa Robert Menasses langen Essay »Das Land ohne Eigenschaften« (1992) jetzt wieder liest, der staunt freilich, wie haltbar die Schlussfolgerungen zur österreichischen Identität am Vorabend des EG-Beitritts sind, wie prophetisch der Autor manches damals gesehen hat, etwa den fiktiven Charakter der unverdrossen beschworenen Neutralität.

Robert Menasse ist der Ausnahmefall des Propheten, der im eigenen Lande sehr wohl etwas gilt. Das ist keine einseitige Liebe: Menasses Kritik an Österreich ist durchpulst von einem patriotischen Furor, der für Autorinnen und Autoren der nächsten Generation schwer begreiflich ist.

Dass in Österreich schlicht alles Symbol ist und dass die Macht des Imaginären in die Wirklichkeit hineinwirkt, berührt, wie der Germanist Friedbert Aspetsberger meinte, auch das Phänomen Menasse: So verlangte der Autor gleich nach Regierungsantritt des Wende-Kabinetts Schüssel /

Riess-Passer 2000 dessen Rücktritt, weil es seine historische Mission – das Aufbrechen der großkoalitionären Verkrustung – erfüllt habe. Die Regierung trat nicht zurück, 2002 dann aber doch: Die Realität richtete sich nach der Fiktion des Dichters. – »Menasse fordert viel, ist aber kein Doktrinär«, resümiert Aspetsberger.

Freilich: Das Apodiktische gehört nun einmal wesentlich zum Geschäft. Der Eros des Denkens tritt nicht schamhaft auf. Auch Karl Kraus hat seine Urteile über die Zeit und ihre Genossen nicht in das Gewand tastender Überlegung gekleidet. Ganz in seinem Sinne versteht Robert Menasse den Schriftsteller als den natürlichen Feind der Floskel – und damit der Sprache des Journalismus wie der Politik. Das Denken des Essayisten kann deshalb grundsätzlich nur ein Gegendenken sein. Nicht zwangsläufig bloß gegen die Macht, sondern auch gegen die öffentlich sich artikulierende Mehrheit – wie es Menasse mit seiner These von der im Jahr 2000 endlich in Österreich eingezogenen »Normalität« unternahm. Jörg Haider als Proponent einer etwas anderen »Linksopposition« gegen die rot-schwarze Einheitspartei – diese Deutung Menasses sahen damals viele als rote Fahnenflucht.

Unerschrockenheit ist es, was den politischen Kommentator Menasse zuvörderst auszeichnet: Robert Menasse erschrickt prinzipiell nicht vor der eigenen Courage, es erschrecken immer die anderen. Er kennt buchstäblich keinen Genierer.

Menasse hat sich, ohne Ansehen der Partei, mit allen angelegt: mit Jörg Haider selbstverständlich, mit Kurt Waldheim und Wolfgang Schüssel, mit Viktor Klima und auch mit Helmut Zilk – nie hat er seine Zielpersonen in ihrem Individuellen aufs Korn genommen, immer in ihrem Symptomatischen. Was er sagte, war hieb- und stichfest, das heißt auch: zitabel.

Dass er, der den Beitritt des Landes zur EG als einen weiteren Versuch beschrieb, die Verantwortung für sich selbst loszuwerden, später mit großer Ausdauer die scheindemokratische Verfasstheit der EU anprangerte, war ein Labsal für viele seiner Leser. Hier jedoch scheint sich nun ein Kurswechsel anzukündigen. Auch das gehört zur Institution Menasse: Wenn Robert Menasse in Brüssel weilt und über eine Revision seines Brüssel-Bildes nachdenkt, dann halten das die österreichischen Medien für berichtenswert. Das meint wohl Friedbert Aspetsbergers Beobachtung, Robert Menasse sei ein »Medienmensch« – »und vielleicht mehr Medienmensch (…) als der durchschnittliche Medienmensch Medienmensch ist«. Was immer man von einer möglichen Bekehrung zum Brüssel-Paulus halten mag: Menasses geistige Gelenkigkeit übertrifft zweifellos die seiner jungen Kollegen.

Mut bewies Robert Menasse nicht nur bei der Einmischung in die öffentlichen, also ureigenen Angelegenheiten, sondern auch bei der Erprobung und Eroberung neuer literarischer Genres.

Als Autor hat er prinzipiell jede sich stellende Herausforderung angenommen oder vielmehr: Er hat sie sich selbst gestellt. Er hat nicht ein Buch über den Geisteszustand Europas vor der großen Wende geschrieben, sondern gleich eine Trilogie: die Trilogie der Entgeisterung. Er hat nicht bloß die Geschichte des Rabbi Menasseh ben Israel erzählt, des Lehrers von Baruch Spinoza, er hat sie mit der zeitgenössischen Existenz des Alter Egos Viktor Abravanel, eines Wiener Historikers, zu einer grundlegenden Fallstudie über die Vorzüge und Nachteile des Erinnerns wie des Vergessens verknüpft, jenseits aller vorgestanzten Antworten. Er hat nicht irgendein Theaterstück über das zeitgenössische Wirtschaftstreiben verfasst, sondern – mit »Doktor Hoechst« – natürlich gleich ein »Faustspiel«. Er hat die Lebensbeichte eines liebeshungrigen Klatschjournalisten, der in der Badewanne nach der verloren Uterus-Wohligkeit sucht, nicht irgendwie genannt, sondern »Don Juan de la Mancha«, solcherart Mozart und Cervantes vor seinen Karren spannend. Und er hat sogar ein Buch, das zu schreiben einem seiner Helden einen ganzen Roman lang nicht gelingen wollte, kurzerhand selbst geschrieben: die »Phänomenologie der Entgeisterung« erschien als eine Art Appendix zur Trilogie. Für diejenigen unter Ihnen, die den zweiten Band, den Roman »Selige Zeiten, brüchige Welt« kennen: Es stimmt, dass Leo Singers in vielen Gesprächen beschworenes Buch, mit dem er Friedrich Hegels »Phänomenologie des Geistes« fortschreiben, ihn gut dialektisch bestätigen und widerlegen wollte, zu guter Letzt erscheint, doch es ist eigentlich nicht sein Buch, es sind die Aufzeichnungen der hassgeliebten Judith Katz, die seine philosophischen Kaffeehaus- und Barspekulationen für die Nachwelt verewigt, selbst hingegen das Zeitliche gesegnet hat.

Billig gibt es dieser Autor also nicht. Dr. Menasse ist nicht nur ein Dr. Tausend, er ist immer auch Dr. Höchst. Dass ein »bestrickender intellektueller Hochmut« dazu gehört, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit Hegel just den »totesten aller toten philosophischen Hunde« als Leitmotiv zu erwählen, hat Sigrid Löffler schon 1999 in ihrer Laudatio zur Verleihung des Grimmelshausen-Preises an Robert Menasse festgestellt. Menasse wollte und will vom dialektischen Denken, vom Modell des Fortschritts als Dreischritt, nicht lassen, selbst wenn er es ironisiert. Die Umkehrung der von Hegel gesehenen Entwicklung, der Rückschritt vom vollendeten Wissen (verdeutlicht in Hegel selbst) bis zum Verschwinden dieses Wissens heute, dieses Modell ist dem, der es in seiner »Phänomenologie der Entgeisterung« vorstellt, selbst nicht geheuer, vor allem weil, »angelangt in der Gegenwart, wenn die entfaltete Dummheit total ist, ich dieselbe nicht repräsentieren möchte«.

Um die »Trilogie der Entgeisterung« zu genießen, muss man jedoch, wie ich bestätigen kann, keineswegs Hegel-Spezialist sein. Der Titel des ersten, 1988 erschienen Romans »Sinnliche Gewißheit« (fulminant wie alle Titel Menasses) zitiert das erste Kapitel des Hegel’schen Werks, er formuliert aber auch ein sehr leicht nachvollziehbares Programm: Die Erlebnisse des Ich-Erzählers Roman, der wie Robert Menasse etliche Jahre als österreichischer Lektor in Saõ Paulo lehrt und der die jüdischen Emigranten Singer und Katz in der »Bar jeder Hoffnung« kennenlernt, sind dem Bedürfnis nach unmittelbarer sinnlicher Gewissheit geschuldet: nach Frauen, nach Alkohol, nach der Hitze der Tropen. Selten ist ein Buch, in dem so viel über Philosophie geredet wird, sinnlicher gewesen, selten amüsanter.

Der dritte Band »Schubumkehr« tritt hingegen als eine Art Muskelprotz der Motivik, der Konstruktion und des Sinnverweises auf, nichts an dieser Erzählanordnung spricht für sich, alles spricht immer auch für etwas anderes. Der symbolische Muskelaufbau lässt Roman Gilanian, der sich nach dem Brasilien-Intermezzo in den Schoß der Mutter und in den der Heimat flüchtet, den geschichtlichen Prozess der Entgeisterung und Verblödung am eigenen Leib zu Ende führen: Komprechts im Waldviertel wird für Menasse zur Modellgemeinde Österreichs, nichts mehr ist hier, was es ist, alles ist so, als ob, alles ist Kopie, auch Romans jüdische Identität.

»Hier ist ein Exkurs nötig. Es sind immer Exkurse nötig.« (Don Juan de la Mancha) Im nationalsozialistischen Sprachgebrauch bezeichnete man als »Geltungsjuden«, wer als Mischling ersten Grades nach den Nürnberger Rassegesetzen eigentlich kein Jude war, aber als solcher galt, weil er z. B. mosaischen Glaubens oder mit einem Juden / einer Jüdin verheiratet war. Robert Menasse, der weder nach den Gesetzen der Nazis noch nach jenen der jüdischen Religion Jude ist, hat sich in seiner Rolle als Autor ganz bewusst zum »Geltungsjuden« der österreichischen Nachkriegsliteratur gemacht. Er hat an eine durch die Vertreibung der Intelligenz 1938 fast vollständig verschüttete jüdische Wiener Literaturtradition angeknüpft, an eine ganz spezifische, geistreich-widerspruchsvolle Art und Weise zu denken, zu reden, schreiben – und, ja auch das, zu blödeln. Robert Menasse hat sich, in erster Linie in seinem großen Doppelgänger-Roman »Die Vertreibung aus der Hölle«, zuletzt aber auch mit der vielleicht besten Geschichte seines Erzählbandes, »Vom Ende des Hungerwinters«, mit den jüdischen Wurzeln seiner Familie auseinandergesetzt – oder: diese jüdischen Wurzeln (mit dem Rabbi Menasseh / Manasseh) erst erfunden. Immer hat er auch die Frage reflektiert, wie über dieses Thema zu sprechen, zu schreiben sei. In »Das Ende des Hungerwinters« wird die Erzählung des Vaters vom Überleben im Amsterdamer Tiergartenversteck grandios durch dessen Entertainer-Routine unterlaufen, in der er tränenlos erstarrt scheint. Das allenthalben verherrlichte Erinnern ist ein kompliziertes Geschäft.

Mit seiner Selbstbestimmung als öffentlicher Ezzesgeber hat Robert Menasse, Kopie oder nicht, die Rolle des jüdischen Schriftstellers in Österreich, in Wien, wieder zu einer begehrenswerten gemacht. Die Kaffeehauskultur ist ihr Humus, nicht ihre Zukunft. Menasses Standpunkt ist nicht der verlorene Posten des letzten jüdischen Mokka-Mohikaners. Es ist nicht die Rolle der verschämten Selbstwahrnehmung, nicht die des Opferlamms, es ist eine aktive, eine selbstbewusste, zupackende, freche, ja fröhliche Rolle.

Einer der in allen Sätteln gerecht ist, kein Prinzipien- und kein I-Tüpfel-Reiter.

Vielleicht doch: Tausendsassa. Der Tausendsassa kommt, wie man nachschlagen kann, aus dem Französischen, vom Hetzruf für Hunde: »ça, ça!« – also »da! da!« Der Rufende weckt die »totesten der toten philosophischen Hunde«. Auf jeden Fall weckt er mit Vergnügen schlafende Hunde und hetzt sie in tausend Richtungen. Er will sie in Bewegung sehen. Nicht immer lassen sie sich zurückpfeifen. Der Hund verkörpert Wachsamkeit und Treue – und den Tod.

Was einer schreibt, schreibt er mit dem Tod um die Wette. Da hört sich der Spaß auf, oder er fängt erst an. In »Schubumkehr« steht: »Es ist alles lächerlich, wenn.« Der Thomas-Bernhard-Leser ergänzt: »wenn man an den Tod denkt«. Mit einem solchen Satz konnte man in den seligen Zeiten vor 40 Jahren noch preisverleihende Minister erschüttern.

In »Sinnliche Gewißheit« behauptet der Erzähler, das Leben des Einzelnen hänge davon ab, dass er es erzählen könne. Worauf der Wirt Oswald mit dem Satz zustimmt: »Ich kann jeder sagen.« Der Titel des Erzählbandes ist also nicht einfach die trotzige Antwort auf den Titel eines jüngeren Kollegen, der da behauptet »Das bin doch ich«, um es post festum gleich wieder abzustreiten.

Nach altem Brauch soll das Erzählen als Trick funktionieren, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, das letzte Wort zu behalten, und das letzte Wort ist bei Robert Menasse immer eine Pointe.

»Anekdoten mit Toten« heißt eine Kurzgeschichte in dem Band. Menasse erzählt darin die Geschichte von Onkel Alfred, dem passionierten Steinmetz aus Schrems, der sich in jahrelanger Arbeit eine Gruft baut, eine Pyramide eigentlich, ein »Monument des ewigen Lebens«. Onkel Alfreds Lebensgefährtin, die Großmutter des Ich-Erzählers, kommt gegen den Drang zur Unsterblichkeit nicht an: »›So gib doch a Ruh‹, sagte Oma. Und Onkel Alfred: ›Für die Ruh hab ich später Zeit!‹«

 

Das wäre, zugegeben, ein verführerisches Bild für den emsig bauenden Autor Menasse, der keine Ruh geben will. Das Bild ist aber von unangemessener Düsternis, zumal in der Geschichte die Behörde die Einebnung des pyramidalen Traums besorgt.

Der Autor selbst hat uns ein freundlicheres Selbstporträt gewissermaßen auf dem Serviertablett offeriert, das ganz ohne Koketterie das Stoffliche und Handfeste und Handwerkliche des Schreibens bemüht. In einem Interview hat er sich den Kochlöffel – nicht irgendeinen übrigens, sondern den seiner Großmutter – zum literarischen Zunftzeichen erwählt. Seine Gewürze beschreibt er so: »Das Salz ist zum Beispiel die Erziehung. Der Pfeffer die Erregung. Der Paprika ist die Scham. Ganz wichtig ist mir der Chili. Der Chili ist die Gier! Der Chili ist das Fiebern. Das ist eigentlich der Dauerzustand des Dichters.«

Diese Stelle mag Sie an den meistzitierten Romananfang der letzten Jahre erinnern. Hier geht es aber um die schlichte Erkenntnis, dass literarische Wirkung hergestellt wird, dass vor dem Rühren das Umrühren liegt.

Intelligenz ist ein Geburtsfehler, kein literarisches Verdienst. Der Rest ist Arbeit.

1 Gehalten anlässlich der Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens der Stadt Wien am 15.4.2010. Der erwähnte Erzählband ist »Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung«, Frankfurt/M. 2009.