Erinnerungen an zwei Erlebnisreisen und Geschichten aus zwei Welten

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Erinnerungen an zwei Erlebnisreisen und Geschichten aus zwei Welten
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EVA SANGRIGOLI

ERINNERUNGEN

an zwei Erlebnisreisen und Geschichten aus zwei Welten

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Foto Cover © Eva Sangrigoli

Foto Rückseite © Cornelia Landsbeck

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

ZWEI ERLEBNISREISEN

Paris in vier Tagen

Im Vorübergehen

GESCHICHTEN AUS ZWEI WELTEN

Das Indiz

Die Geburt

Nicht so laut

Wieder-sehen

Schlimmer als ein Hundeleben

Elfi und ihr Frisör

ZWEI ERLEBNISREISEN

Paris in vier Tagen

Ich hatte meine eigene, eine vage Vorstellung von dieser Stadt. Eindrücke über Film und Fernsehen, Informationen aus der Literatur und Malerei, mit einer guten Portion von Fantasie angereichert, geisterten in mir herum, als ich in einem der schnellsten Fernzüge Europas, Köln – Paris, mit meinem Lebensgefährten saß.

Die Grenze hatten wir schnell erreicht. Die aus den Lautsprechern tönenden Stimmen auf den nun französischen Bahnhöfen und mit dem Personalwechsel riefen bei mir die ersten Emotionen hervor. Eine Gefühlsregung, die weit bis zurück in meine Jugendzeit reichte.

Gebannt hörte ich damals französische Sender im Radio, verehrte Gèrard Philippe und Jean Marais, las mit Leidenschaft französische Romantiker und begann mich mit den französischen, impressionistischen Malern zu befassen. In der Schule entwickelte ich einen besonderen Ehrgeiz, französische Namen professionell auszusprechen.

Plötzlich fuhr der Zug nicht weiter und blieb ruckartig stehen. Waren wir schon da? Die Bahnhofsschilder verrieten es uns. In großen Buchstaben unübersehbar: PARIS.

Auf keinem Bahnhof der Welt habe ich ein derartiges Kunterbunt von Reisenden erlebt. Orientalen verschiedenster Rasse, Schwarze, Asiaten und Europäer eilten von diversen Bahnsteigen herbei und vereinten sich zu einem großen Strom dem Ausgang entgegen. Das Gebäude dieses Hauptbahnhofes ist in keiner Weise auffallend, geschweige denn modern, steht es doch mit Sicherheit unter Denkmalschutz aus diversen und wichtigen Hintergründen.

Nach meinen Beobachtungen leben die Pariser ohnehin ganz bewusst in ihrem eigenen Trott, lassen sich nicht so leicht beeinflussen, wenn überhaupt.

„Weißt du“, sagte mir mein Reisegefährte Lorenzo, „wenn wir an unser Sizilien denken, dürfen wir bei allen unseren Beobachtungen nicht vergessen, dass die Menschen die große Armut und alles, was bei uns gewesen ist, vergessen wollen und hoffnungsvoll dem Neuen entgegenblicken. Noch heute leben die Ärmsten der Armen in Palermo in einstigen und heute heruntergekommenen Prachtbauten. Man ist eher bereit Neues zu akzeptieren als Altes wieder aufzupolieren!“ Das Alte erinnert sie an Elend. Ein über zweitausend Jahre anhaltendes Elend.

Paris ist von derartig vielen Repräsentativbauten geprägt, dass man schnell den Bahnhof vergisst oder sogar beim Abschied von der Stadt zu denken geneigt ist: „Der Bahnhof muss so sein, wie er ist, auch verrußt, und ich denke dabei an die dampfenden Lokomotiven und auch an Hemingway, der ihn so wie wir erlebt hat.“

In großer Schrift entdeckten wir schnell das Taxischild. Die vielen Neuankömmlinge eilten in hastigen Schritten dem Ausgang zu in der Hoffnung, so schnell wie möglich ein Taxi zu erwischen. Weit gefehlt!

Vor dem Bahnhof standen gestikulierende Ordnungshüter, den Hunderten oder gar Tausenden Reisenden den Weg zu zeigen. Die Art der Organisation kam einem regelrechten Hin- und Durchschleusen gleich: Im Gänsemarsch, zwischen abgrenzenden Sperrungen, schoben sich die Menschenmassen nach vorn. Hier gab es keine Standesunterschiede, keine Privilegien. Menschen der High Society, Großfamilien mit schreienden Kindern, Studenten, Globetrotter, die müde ihre schweren Rucksäcke kaum zu tragen imstande waren, Bürgerliche, Kleinbürgerliche, Künstler, Dandys, Hochstapler, in Kimonos gekleidete trippelnde Asiatinnen – allen war das Warten auferlegt, bis sie an der Reihe waren.

In ständigem An- und Wegfahren dominieren sie in Breite und Länge in der Bahnhofstraße: die Damen und Herren Chauffeure mit ihren TAXI PAISIENNE. Später, im Laufe der nächsten Tage, sollten wir erfahren, dass es trotz Taxiständen, die es überall gibt, oder einer telefonischen Bestellung von unserem Hotel aus einem Wunschtraum gleichkommt, auf ein Taxi zu hoffen. Vermutlich gab es viel zu wenige Taxis oder es mag auch mit der Erkenntnis der Taxiherren und -damen zusammenhängen, die trotz unseres intensiven Winkens leer an uns vorbeifuhren und nie hielten – da sie vielleicht am Bahnhof die besseren Verdienstmöglichkeiten wahrnehmen wollten? Es war das erste und letzte Mal an unserem Ankunftstag, dass wir die Ehre hatten, in einem Taxi zu sitzen.

Während uns der Taxifahrer durch die Stadt Richtung Hotel chauffierte, entdeckte ich, dass Paris, in der Praxis erlebt, meine theoretischen Vorstellungen weit übertraf. Meine blassen Gedanken über diese Stadt vergaß ich schnell, als ich das rege Treiben der Menschen kennenlernte. Nicht das Treiben als solches empfand ich vordergründig, sondern das undefinierbar zwischen den Zeilen Stehende. Vielleicht nennen wir es Fluidum, Atmosphäre, Seelenleben.

Nein, Paris ist ohne Pariser kein Paris!

Meine Begeisterung gleich am ersten Tag ging so weit, mir einzubilden, dass ein neues Adjektiv erfunden werden sollte, um der Beschreibung dieser einmaligen Stadt gerecht zu werden. Nun, wir wissen, dass sich alles dem Gesetz der Relativität unterordnet und meine gewiss starken subjektiven Empfindungen Produkt meines stets intensiven Kontaktes mit der französischen Kunst waren. Eine Bereicherung meines bisherigen Lebens, über die ich sehr froh bin.

Unser Hotel befand sich in der Rue Lauriston, einer der um das Triumphtor verlaufenden, sternförmigen und ansteigenden Straßen. Auf dem Heimweg nach unseren täglichen Ausflügen fiel mir das ständige, ununterbrochene Fließen von Wasser entlang des Bordsteines auf. Es gab Kloakenbesichtigungen mit Führungen, erfuhr ich, doch fehlte uns die Zeit, dieser Sache auf den Grund zu gehen.

Jede Minute schien uns kostbar und so nahmen wir zunächst keine Notiz von unserem zugewiesenen Minizimmer. Erst in der Nacht, als wir nach unserem ersten Ausflug heimkehrten, stellten wir fest, dass sich ein Leben zu zweit in diesem Raum als unmöglich herausstellte. Den Tag darauf bekamen wir ein anderes Zimmer – mit sehr viel Mühe wegen der beiderseitigen Sprachbarriere. Meine Ungeduld hatte ihren Höhepunkt erreicht und ich sagte: „Impossibile!“ Dann klappte es plötzlich.

Die Verständigung mit den Parisern zeigte sich als unser größtes Handikap. Viele Pariser setzen vom Reisenden die Beherrschung der französischen Sprache als selbstverständlich voraus. Wir haben in den Speiselokalen, die wir besuchten, ein starkes Desinteresse einer Verständigung notiert. Nur einmal ist es mir gelungen, an den Stolz eines Kellners zu appellieren, indem ich sagte: „Unverständlich, in einer der berühmtesten Touristenstädte der Welt spricht man keine Fremdsprachen?“ Daraufhin überreichte uns der Mann eine Speisekarte in drei verschiedenen Sprachen. Doch erlebten wir bei den Passanten hilfsbereite, freundliche Menschen, die uns das Vorgefallene schnell vergessen ließen. Wie oft standen wir unschlüssig mit unseren Karten an irgendwelchen Haltestellen und baten um Auskunft.

Die Untergrundbahn von Paris wäre ein eigenes Kapitel wert. Die Stadt gleicht einem Maulwurfhügel. Als wir uns das erste Mal unter die Erde wagten, fühlte ich mich zwischen dem Labyrinth der Gänge, Treppen und den dahineilenden Menschen verloren. Das hektische Treiben habe ich in keiner Großstadt in dieser Weise erlebt. Gleich Ameisenkolonnen hinunter, hinauf, nach rechts, nach links pulsiert dieses ganz eigenständige Leben unter der Stadt. Da die Métro zu den billigsten und schnellsten Verkehrsmitteln zählt, ist es nicht verwunderlich, dass sie von zirka vier Millionen Menschen täglich benutzt wird. Auch bin ich hier mit meinen Betrachtungen in Bezug auf das Bahnhofsgebäude zur Erkenntnis gekommen, dass die Metro aufgrund ihres Alters von über hundert Jahren ihre Tradition bewahrt hat. Sie steht sogar tatsächlich, wie von mir bereits vermutet, teilweise unter Denkmalschutz und galt damals im Zusammenhang mit der Weltausstellung zur Jahrhundertwende als „Wunder Europas“.

 

Unsere Unbeholfenheit am ersten Tag hatten wir selbst verschuldet. Wir stürzten uns gedankenlos in den brodelnden Kessel der Millionenstadt, ohne vorher den Reiseführer konsultiert zu haben. Ein Vorteil für mich in anderer Weise, da sich meine jungfräulichen Empfindungen ohne Voreingenommenheit voll entfalten konnten.

Eigentlich kommt eine nur viertägige Reise nach Paris einem Wahnsinnsunternehmen gleich. Auf jeden Fall für die Menschen, die mit viel Beschaulichkeit und Intensität alles erleben möchten.

Wir beschlossen, diese kurze Zeit sinnvoll, so weit wie möglich, aufzuteilen. Einmal buchten wir bereits von Deutschland aus in unserem Reisebüro: eine Stadtrundfahrt bei Tag, eine Stadtrundfahrt bei Nacht, eine Bootsfahrt über die Seine mit Lunch im Restaurant auf dem Eiffelturm, Versailles und danach kurzfristig vor Ort in Paris bei der uns betreuenden Agentur: Moulin Rouge mit Abendprogramm. Die restliche Zeit, die uns vor und nach den Ausflügen blieb, gestalteten wir selbst: Arc de Triomphe, die Oper Garnier, Teile des Louvre Museums, die Kirche St. Trinité, in der Messiaen Organist war.

Viele, viele Wünsche blieben unerfüllt und ich fragte mich im Nachhinein, ob unsere Wahl sinnvoll gewesen war. Allzu gern hätte ich die Impressionisten gesehen, Rodin bewundert, Sacré Coeur nicht nur aus der Ferne gesehen, mich mit Montmartre beschäftigt und, und, und …

Die Stunden des Freiseins genossen wir ganz besonders. Ich weiß nicht mehr, wie viele Treppen es waren, bis wir auf die Aussichtsterrasse des Triumphtores gelangten. Mit Sicherheit gibt es im Völkerschlachtdenkmal in Leipzig wesentlich mehr. Dennoch haben beide Gebäude einen gemeinsamen Berührungspunkt: Napoleon den Ersten. Das Triumphtor als Auftakt unserer Besichtigungen, gleich am Ankunftstag, hätte nicht besser von uns ausgewählt werden können.

Auf der Aussichtsterrasse ganz oben empfing uns ein angenehmes Lüftchen. Die Stadt lag friedlich im Licht der Abendsonne. Ein Blick, den man nicht vergisst. Unverkennbar in unserem Blickfeld: Der Eiffelturm, Notre Dame, die weiße Kirche von Sacré Coeur. Jedoch muss ich gestehen, dass mich die Einmaligkeit der Straßenplanung nicht weniger berührte. Zwölf strahlenartige, bis zu unserem Tor mündende Straßen. Daher hieß auch der Platz, auf dem das Tor steht, früher „l’ Etoile“ (Sternplatz). General de Gaulle zog 1944 durch das Tor in das von der deutschen Besatzung befreite Paris ein und Victor Hugo wurde 1885 in diesem Gebäude aufgebahrt.

Die breiteste der zwölf Straßen, Champs-Élysées, zählt zu den prächtigsten Straßen der Welt. Hier treffen sich das mondäne Paris und die Touristen, denen es nichts auszumachen scheint, in den Bars horrende Summen auf den Tisch zu legen. Im ersten Abschnitt dieser Straße, in der Nähe des Rond Point, starb 1856 Heinrich Heine. Seitdem ich gelesen habe, wie unfreundlich er sich dem jungen sizilianischen Opernkomponisten Vincenzo Bellini (berühmteste Oper: „Norma“) gegenüber benommen haben soll, bin ich von Heinrich Heine, dem Menschen, enttäuscht. Wer weiß, ob sich die beiden nicht auch in dem damaligen berühmten Künstlercafé „Procope“ begegnet sind. Ein Café, das von einem Sizilianer, der aus Acitrezza stammte und den Namen Cultelli trug, eröffnet wurde. Mit dem Rezept seines Großvaters, dem Eiscremeerfinder, in der Tasche verließ er nach einem gewaltigen Ätnaausbruch sein zerstörtes Dorf und siedelte sich in Paris an. Wie im „Touring“ erwähnt wird, galt das Café zu jener Zeit als eines der wichtigsten Treffpunkte für Literaten und Künstler im Allgemeinen.

Zurück zur Prachtstraße: Ich stelle immer wieder fest, wie taub und blind wir leben. Wir denken zu wenig. Mit einer Portion logischem Denken kämen wir auf manches selbst. Das Wort „Champs“ – auf Italienisch „campi“, „Felder“ auf Deutsch – erklärt uns den Ursprung dieser Straße. Bis zum 17. Jahrhundert gab es anstelle der Straße „Elsässische Felder“. Der Architekt Le Notre legte 1667 die erste von Bäumen gesäumte Straße an, die unter Napoleon dem Ersten und Dritten ihr heutiges neues Aussehen erhielt.

Als Pazifistin habe ich jedes Mal bei derartigen Gebäuden wie Triumphtoren meine Probleme, da ich dabei an blutige Schlachten denke. Schon die alten Griechen durchschlugen den heimkehrenden, siegreichen Feldherren zu Ehren ihre Stadtmauern. Tore, durch die kein Sterblicher je geschritten ist. Diese Tradition zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Daher auch immer wieder Skulpturen, Reliefs mit der sich wiederholenden Thematik über berühmte Schlachten und Siege wie auch hier auf diesem Bauwerk verewigt: „Die Schlacht von Abukir“, „Die Schlacht von Jemmapes“, „Die Einnahme von Alexandrien“, „Die Schlacht von Austerlitz“ und mehr. Wie viele Millionen Menschen mussten bei den Schlachten sterben! Haben wir gelernt, begriffen, wenn wir meinen, mit dem „Grabmal des unbekannten Soldaten“, der hier zur „letzten Ruhe“ gebettet ist, an den Menschen und seine Menschlichkeit zu appellieren? La „Flamme du Souvenir“, die „Flamme der Erinnerung“, wird jeden Abend entfacht. Wollen wir hoffen, dass uns das Tor als Mahnmal immer erhalten bleibt.

Unser Reisebüro befand sich in der Nähe der Oper Garnier, mitten im Zentrum der Stadt. Ein Glück, dass am zweiten Tag unser Ausflug, eine Stadtrundfahrt, gegen Mittag auf dem Programm stand. Nachdem unsere Taxiidee scheiterte, Busse wegen Sonntagsverkehr sehr selten fuhren, benutzten wir die Métro. Unser Orientierungspunkt (nicht nur an diesem Tag), Les Galeries Lafayette (Gebäude in reinem Jugendstil und mit 73 Meter hohem Saal), befindet sich unserem Reisebüro schräg gegenüber auf dem Boulevard Haussmann ein paar Schritte weiter das berühmte Warenhaus „Au Printemps“, wo wir täglich wegen der Ausflüge abgeholt wurden.

Die Vormittage schlenderten wir, wie schon erwähnt, in Eigeninitiative umher und so begannen wir vor der Stadtrundfahrt mit der Besichtigung der Oper Garnier.

Schon seit 1669 besteht der alte Teil des Gebäudes unter dem Namen „Académie Nationale de Musique“. Das heutige Theater schuf Charles Garnier mit seinem neuen Stil, dem „Style Napoléon III“. Ein typischer Repräsentationsbau mit klassizistischen Zügen und einer dem Bau angepassten Freitreppe, auf der sich müde Touristen treffen und zur Entspannung niederlassen. Im Jahr 2000 sind im Zentrum von Paris ein großer Teil der Monumente – ganze Straßenzüge – restauriert worden. So glänzt und strahlt die Oper heute mir ihrer polychromen Fassade und ihren vergoldeten Skulpturen. Das gigantische Treppenhaus mit seinen in großem Stil angelegten Treppen aus Marmor und seiner Deckenbemalung ist eindrucksvoll. Bei unserem Rundgang kamen wir aus dem Staunen nicht heraus. Allein die Museumsbibliothek, in der seit dreihundert Jahren die gesamte Vergangenheit der Oper aufbewahrt wird, wäre einen längeren Besuch wert gewesen. Das gesammelte Material befindet sich in der Rotunde des Kaisers, in einem westlich der Hauptfassade gelegenen Pavillon. Mit dem Niedergang des Kaiserreiches sind die Räume unvollendet geblieben. Ein Teil des Museums ist wechselnden Ausstellungen vorbehalten, wo Malereien, Zeichnungen, Fotografien und Bühnenbildmodelle sowie Kostüme berühmter Theaterleute gezeigt werden.

Die Foyers: großzügig angelegte Säle, reich geschmückt, Mosaiken mit schillernden Farben auf goldenem Grund. Alles hat einen sehr schlossartigen Charakter. Und immer wieder Schönblick, Sehenswertes aus allen Fenstern.

Von der Fläche her zählt das Opernhaus in seiner Gesamtheit zu den größten Theatern der Welt. Daher waren wir über den Zuschauerraum erstaunt, der mit seinen nur 1.900 Plätzen (Mailänder Scala: 2.800, Wiener Staatsoper: 2.209) für ein elitäres Publikum konzipiert gewesen sein dürfte. Ein kleiner Raum – ein Schmuckstück in diesem grandiosen Gebäudekomplex.

Ich glaube, dass Chagall nach seiner Rückkehr aus Amerika nach Europa eine seiner fruchtbarsten Perioden bis zu seinem Tod 1985 erleben durfte. Die Vermählung mit seiner zweiten Frau Valentina Brodsky, sein Bewusstsein, weltberühmt und gefragt zu sein, mögen hier als Hintergründe seine gesteigerte Schaffenskraft erklären. Er wohnte in Saint-Paul-de-Vence im meridionalen Teil Frankreichs. Hier verband und verarbeitete er symbiotisch das Vergangene mit der Gegenwart: Russland – Paris. De Gaulle rief Chagall 1963 nach Paris und beauftragte ihn mit der Ausmalung des Deckengewölbes der Oper.

Als ich hinauf, Richtung Deckengewölbe, blickte, war ich zunächst schockiert. Ein dominierendes Rot, großflächig angelegt, das wohl und am nächsten liegend mit den roten und samtenen Sitzplätzen des Zuschauerraumes im Einklang harmoniert, doch neben dieser Feststellung auch vage Gedanken von Blut in mir wachriefen. Schade, ich hätte Chagall gerne gefragt. Am Ende waren es meine ganz eigenen Fantasiegespinste, die mich in die Irre führten und nichts anderes bedeuten als Liebe im Überschwang und konzentriert.

So wie Chagall mit seinen „roten Decken“ einen ganzen Zyklus „Hommage an Paris“ schuf, so dürfte auch diese Arbeit zu diesem Zyklus gehören.

Die Komposition der Szenen, die in ihren Allegorien einen hymnischen Lobgesang an die Kunst übermitteln, umschweben das immer heller bis zum Weiß werdende Zentrum des Kreises: schwebende, tanzende, sich umarmende Gestalten mit Blumensträußen oder Instrumenten. Liebespaare, eine Gruppe von anmutigen Tänzerinnen auf gelb-goldenem Grund. Der Eiffelturm inmitten der Szenerie des roten Untergrundes mit seiner Spitze, die in den Himmel ragt. Der in der Mitte immer heller bis weiß werdende, in seinen subtilen Ornamenten an Kristalle erinnernde Kreis, ist das der Himmel, das Licht, um das sich alles dreht, in das wir alle einmal blicken werden? Ein Karussell des Lebens, der Freude, der Liebe, so empfand ich diese Arbeit.

Paris zeigt, durch die Vielfalt der Landschaft bedingt, verschiedene Aspekte. Als Orientierung spielt die Seine eine nicht unbedeutende Rolle. Sie durchfließt die Stadt mit einem erheblichen Bogen und teilt sie dadurch in zwei ungleiche Gebiete: das rechte Ufer mit dem nördlichen Stadtgebiet, „Rive droite“ genannt, das linke Ufer mit seinem dahinterliegenden südlichen Stadtteil, „Rive gauche“, und im Zentrum die vom Fluss gebildeten zwei Inseln „Île de la Cité“ und „Île Saint-Louis“. Bei dieser Vielfalt konnten zwanzig Bezirke entstehen, die jeweils einen eigenen Bürgermeister haben und von einem Präfekten, dem Vertreter der Staatsregierung, als oberste Instanz regiert werden. Die „großen Boulevards“ konzentrieren sich an den Ufern des Flusses entlang und gehören zum ältesten Stadtkern. Die Bezeichnung „Boulevard“ stammt aus der deutschen Sprache und ist mit Bollwerk zu übersetzen.

Deutsche Namen tauchen immer wieder auf. Als ich die Stadtführerin nach der Herkunft des Baron Haussmann, dem von Napoleon III. ernannten Präfekten, befragte, sagte sie: „Nein, nein, er ist nicht Deutscher, Elsässer ist er – ja, ja, Elsässer! Er sorgte für die großzügige Neugestaltung der Stadt.“

Kein Wunder, dass hier, in diesem Stadtstaat wie Paris, patriotische Gefühle erwachen. Wir sehen vorwiegend französische Autos in den Straßen, so bleiben die Devisen im Land. In jedem Fall dürfen sie stolz auf ihre Kunst, auf ihre Wissenschaften, auf ihren tonangebenden Geschmack auf dem Gebiet der Modebranche sein. Ihre Bereitschaft, in welcher Art und Weise sie politischen Spannungen entgegenwirken, lassen wir dahingestellt sein.

Während unserer Stadtrundfahrt staune ich über die Vielfalt der Monumente, die an uns vorüberziehen und im Gesamteindruck mit den Plätzen, Brunnen und Boulevards einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dazu gehören die prunkvollen Paläste der Kaiser und Könige, romanische und gotische Kirchen, Renaissancebauten und das barocke Kleid des Louvre, des Schlosses von Versailles, des Invalidendoms. Die im Grünen versteckten Villen sprechen für sich.

Dass sich viele Künstler in Paris niederlassen, kann ich gut verstehen. Dabei kommt mir unter den vielen Maria Callas in den Sinn, die bis zu ihrem Tod, wenngleich auch in großer Einsamkeit, hier lebte.

Über die Ludwig-Könige habe ich einiges entdeckt, so auch über Ludwig IX., „Der Heilige“ genannt, den Gründer geistlicher Schulen, der berühmten Sorbonne.

Ich werde an Carl von Anjou erinnert, der bis zu den „Sizilianischen Vespern“ (1282) in Sizilien als König regierte. Er übergab die Reliquie (Herz und Innereien) des Heiligen Ludwig dem Dom von Monreale (Sizilien) zur Aufbewahrung. Der Heilige Ludwig starb während des achten Kreuzzuges in Tunis an Pest. Er wurde wegen der Ansteckungsgefahr sofort verbrüht. Es sind die einzigen Reliquien, die nach der Plünderung der Basilika von Saint-Denis während der Französischen Revolution erhalten blieben. Und die Sizilianer haben den Heiligen nicht nur mit der Aufbewahrung seiner Reliquie verewigt. Sie schufen ihm zu Ehren einen Altar mit seiner Skulptur in Monreale, einer der schönsten von Goldmosaiken strahlenden Kirchen.

 

Bis zur Zeit Napoleon Bonapartes regierten Ludwig XIII., XIV., XV. und XVI.

Wie viel Geschichte, wie viele Turbulenzen durchziehen die Jahrhunderte. Frauen wie Jeanne d’Arc und Katharina von Medici stehen im Blickpunkt dieser unruhigen Zeit. Es folgte am 13. August 1792 die Französische Revolution.

Die Aura, die Heiligtümer verbreiten können, habe ich besonders stark bei Notre Dame empfunden. Sicher ist, dass der Mensch zu allen Zeiten bis zurück in das Mittelalter und darüber hinaus vor dem Bau eines wichtigen Gebäudes Methoden der Analyse angewendet hat. Dabei muss ich an die Worte eines Radiästhesisten denken (früher: Wünschelrutensucher), den ich auf einer Reise einmal kennenlernte. „Der Weg, der zum Mysterium heiliger Stätten führt, gehört zu unserem Aufgabengebiet“, wurde mir erklärt. „Auf der Suche nach positiven und vor allem negativen Kräften, aus denen wir unsere Schlüsse ziehen. So entstanden und entstehen auch heute noch besonders Tempel und Kirchen an ganz bestimmten, positiven Orten.“ Ein nach vielen Seiten hin umstrittenes Thema.

Notre Dame bedarf keiner Erklärung. Die Wirkung, die von diesem Gebäude ausgeht, ist einmalig und kein Zufall. Von der Seine umspült – auf der Cité-Insel – steht dieses Bauwerk so, dass man es von vielen Seiten der Stadt her bewundern kann. Die Ehrfurcht, die im Ausruf des Betrachters mitschwingt, ist gewiss nicht und nur allein mit Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ in Verbindung zu bringen. Bereits in heidnischer Zeit stand hier ein Tempel – im 4. Jahrhundert eine dem Heiligen Stephanus und ab dem 6. Jahrhundert der heiligen Maria geweihte Kirche.

Mich beschlich ein undefinierbares Gefühl, als ich das Gebäude betrat. War es Einbildung, wenn ich behaupte, die gesamte und weit zurückliegende Vergangenheit wahrzunehmen? Selbst heftige Zerstörungen und Veränderungen bis in das 18. Jahrhundert hinein konnten diesem Phänomen nichts anhaben. Der dunkle Stein – das Baumaterial – mag als aufschlussreicher Hinweis auf die Dunkelheit auch seinen Teil beitragen – dennoch: Das Mystische wird mir ein Rätsel bleiben.

Die Tatsache, dass Notre Dame mit ihrer Doppelturmfassade, der waagerechten, dreigeschossigen Gliederung, dem waagerechten Turmschluss und den Strebebögen am Langhaus in die Zeit der frühgotischen Versuche gehört, und demzufolge weit von einem Höhepunkt der Hochgotik entfernt ist, muss ebenso als aufklärender Faktor in das Gesamtbild mit eingeordnet werden. Mein letzter Blick galt noch einmal den überdimensional großen Rosettenfenstern, die in ihrem Ausmaß dreizehn Meter im Durchmesser betragen.

Gern hätte ich mich mit Lorenzo auf einer Bank in der schattenreichen Baumallee in unmittelbarer Nähe mit dem Blick auf Notre Dame ausgeruht. Doch passt ein Anliegen dieser Art nicht in ein auf die Minute getimtes Tagesprogramm.

„Einsteigen bitte, die Fahrt geht weiter!“

Es ist gewiss immer schon ein Problem gewesen und wird es bleiben: Die Intoleranz gewisser Leute und ihre Einstellung modernen Bauwerken gegenüber. Nicht immer lassen sich die von Architekten realisierten Bauprojekte mit den Vorstellungen des Betrachters vereinen.

Die Mode, Konstruktionen in beachtlicher Höhe zu schaffen, gab es schon lange und entspricht der Zeitmode des 19. Jahrhunderts. Türme, bisher aus Mauerwerk, als Wahrzeichen in einer Stadt sind nichts Außergewöhnliches.

Außergewöhnlich hingegen ist der Eiffelturm.

Alexandre Gustave Eiffel, geboren 1832 in Dijon, der seine Ausbildung in der „Ecole Centrale des Arts et Manifactures“ erhielt, hatte mit seinen Metallkonstruktionen bereits im Jahre 1889 auf der Weltausstellung Aufsehen erregt. Er hatte bewiesen, dass Metall als Konstruktionsmaterial bei sinnvoller Anwendung durchaus neue Wege zu öffnen versprach. Seine Vorstellung und sein Prinzip, Metall als Baumaterial kunstvoll und sparsam anzuwenden, machte Schlagzeilen. So gewann er den ausgeschriebenen Wettbewerb für das geplante Wahrzeichen von Paris. Mit seinen 320 Metern Höhe und seinem nur 7.175 Tonnen schweren Gewicht gilt der Eiffelturm als eine der genialsten Ingenieursbauten der Welt. Und doch haben die Dichter Guy de Maupassant und Émile Zola sowie der Komponist Gounod die aus „Eisen zusammengeschraubten Säulen“ stark kritisiert. Ein für Eiffel nicht einfaches Unternehmen, da die Stadt und der Staat ihn für eventuelle Schäden – man befürchtete einen Einsturz – haftbar machten.

10.000 Menschen können den Turm gleichzeitig besuchen und er galt bis 1931 (danach vom New Yorker Empire State Building überflügelt) als das höchste Bauwerk der Erde. Es käme einer Lüge gleich, wenn ich von einer sofortigen und spontanen Begeisterung meinerseits spräche. Der Blick von oben über die Stadt versöhnte mich mit meinen anfänglichen Ängsten. Ein einmaliges Wahrzeichen, das in seiner Bedeutung von großer Wichtigkeit für das gesamte Funkwesen ist. 1916 konnte von diesem Turm aus die erste transozeanische Funkverbindung hergestellt werden.

Auf einer der unteren Plattformen nahmen wir unseren Lunch ein. Touristisch voll ausgelastet ist dieses Restaurantunternehmen. Daher freute ich mich bereits auf den Fluss und die Bootsfahrt, die vorgesehen war, in der Hoffnung auf mehr Ruhe und Besinnlichkeit.

Mein Erstaunen war nicht gering, als ich von einer der Brücken hinunter zur Seine und der größten Anlegestelle für Schiffe blickte. Das rege Treiben und die Ansammlung der Menschenmassen, die in langen Schlangen auf ihre Einschiffung warteten, führten meine Gedanken wieder einmal zu den schon erwähnten Ameisenkolonnen. Abgesehen davon, dass Paris mit seinen zirka 2,7 Millionen Einwohnern als die am dichtesten besiedelte Stadt Europas angegeben wird, in der auf einem Quadratkilometer 33.000 Menschen leben, ist beachtlich. Im Zusammenspiel mit den aus aller Welt angereisten Touristen ist es erstaunlich, wie die Organisation im Allgemeinen gut durchdacht ist. Ein Schiff nach dem anderen kam an, legte ab, alles klappte wie gewünscht.

Die Lebendigkeit, die der Fluss (780 Kilometer lang) mit seinen Mäanderbögen, den vielen Brücken (ca. 30) und den Inseln hervorruft, ist einmalig. Die Abendsonne spiegelte sich im gläsernen Dach unseres Schiffes wider. Sie traf die vergoldeten Figuren der Brücke von Garnier und verlieh der über uns liegenden Seine-Stadt eine besondere Note.

Ich sah an den Ufern einzelne Menschen in meditativer Haltung, Gruppen von jungen Menschen, die beieinander saßen, aßen und tranken, und einen Trompetenbläser, der sicher keine Tabus zu befürchten hatte. Noch einmal erlebten wir einen Teil der eindrucksvollen Gebäude, dieses Mal vom Fluss her, aus einer anderen Perspektive. So auch den Justizpalast, der uns ähnlich, wie es mir bei Notre Dame ergangen war, an das Mittelalter erinnerte. Die runden Türme, der kontinuierliche, sich lang hinziehende Baukomplex des heutigen „Palais de Justice“ lässt vieles ahnen. So erfahre ich von römischen Stadthaltern, die hier bereits ihren Sitz hatten, und von Ludwig IX. aus dem 13. Jahrhundert, der sich hier einen Palastkomplex bauen ließ, von dem heute nur noch eine Kapelle erhalten blieb. Eine zusätzliche Erweiterung ist König Philipp IV. („Der Schöne“) zuzuschreiben und Karl V., der ebenso hier wohnte. Trotz Zerstörung und heftigen Bränden dominieren nicht die im 18. und 19. Jahrhundert letzten Veränderungen, sondern, wie schon erwähnt, das Mittelalter.

Nach unserer Bootsfahrt stiegen wir am Abend wieder in den Bus. Eine Fahrt durch das nächtliche Paris, die „Lichterfahrt“, wie das Programm lautete.

Der Obelisk von Luxor steht auf einen groß angelegten Platz (87.500 Quadratmeter), der „Place de la Concorde“, der auf Ludwig XV. zurückzuführen ist und nach zwanzigjähriger Bauzeit fertiggestellt werden konnte. Mit der Französischen Revolution erfolgte die Umbenennung in „Place de la Révolution“. Hier fiel am 21. Januar 1793 das Haupt von Ludwig XVI. unter der Guillotine, einem nach seinem Erfinder, Doktor Guillotin, benannten Apparat, der heute vor dem Eingang der Tuilerien zu finden ist. Marie Antoinette, Madame Dubarry, Charlotte Corday, Danton und Robespierre befanden sich unter den 1.343 hingerichteten Menschen. Erst unter Napoleon Bonaparte bekam dieser Platz seinen heutigen Namen.

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