Leo - Wismeldas Rache

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Aus der Reihe: Leo #2
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Leo - Wismeldas Rache
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Leo

Wismeldas Rache

Eva Haring-Kappel

Illustriert von Lisa Kappel


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage erschienen 2017

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN: 978-3-86196-725-5 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-301-9 - E-Book

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Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Personalien

Unser Buchtipp

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Danksagung:

Was wären wir ohne euch?

Darum gilt unser Dank all jenen, die uns tatkräftig unterstützt haben mit Rat, Lob und auch konstruktiver Kritik

sowie erhellenden Vorschlägen.

Danke an David, Paul, Markus und Roland!

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Prolog

Das kleine Mädchen läuft singend durch den Wald. Es trägt ein Körbchen über seinem Arm und stapft munter mit seinen kurzen, dicken Beinen durch das weiche Moos. Die blonden Zöpfe wackeln lustig im Takt der Schritte und des Liedes mit.

„Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ist des Müllers Lust, das Waaandern ...“ Die helle, klare Stimme des Kindes steigt empor zum Geäst der altehrwürdigen Buchen und Eichen, das Kathedralen gleich den Waldweg überspannt.

Hätte das Kind ein rotes Käppchen auf, könnte man glauben, es sei aus einem Märchenbuch herausgeklettert und so mitten in unsere Welt geplumpst. Aber das Mädchen trägt kein rotes Käppchen, dafür wäre es heute auch viel zu warm. Die Sonne lugt durch die Baumwipfel und malt zarte Schattenmuster auf den Waldboden.

Während sich das Mädchen immer wieder bückt, um ein paar Heidelbeeren abzupflücken und sie anschließend in das Körbchen zu legen, huscht hinter den Bäumen ein anderes Wesen hervor. Es ist recht klein, hat große dunkelgrüne Augen und hellbraunes, lockiges Haar. Es trägt ein zartes Kleidchen und auf seinem Rücken sirren zwei durchsichtige, blaugeäderte Flügel unablässig auf und ab, sodass es über dem Boden dahinschweben kann.

Das kleine Mädchen erstarrt mitten in seinen Bewegungen, das Lied verstummt, das Körbchen fällt zu Boden und die Heidelbeeren kullern über das Moos in alle Richtungen davon. „Wer ... wer bist du denn?“, ruft das Kind erschrocken.

„Ich bin Leonore Alba Rusnelda von Albenstein, aber du darfst mich Leo nennen.“

*

1. Kapitel

Hallo, mein Name ist Felix. Ich bin inzwischen zwölf Jahre alt geworden und einige von euch werden sich bestimmt an mich erinnern und daran, wie alles begann. Wir, meine Freunde Georg, Wendel, Benni und ich, trafen in den letzten Sommerferien bei einem Ausflug auf eine seltsame Erscheinung. Ein kleines, dickliches, schmutziges Wesen, das behauptete, eine Elfe zu sein, begegnete uns auf einer Lichtung im Wald und wir wurden es nicht mehr los. Zuerst hatten wir Angst vor dem Geschöpf, denn es hatte ständig Hunger und aß alle unsere mitgebrachten Vorräte auf, angeblich weil es sich in ein Menschenmädchen verwandeln wollte und darum viel essen musste. Irgendwann wurden wir beste Freunde. Wie das alles genau weiterging, könnt ihr ja in meinem ersten Buch nachlesen. Nun will ich lieber erzählen, was seither alles passiert ist.

Es war ein trüber, regnerischer Tag Anfang September. Leo stürmte zur Tür herein, wie es so ihre Art ist, und schrie: „Felix, stell dir vor, wir werden zusammen in die Schule gehen!“

Ich schaute sie ein wenig verwundert an, wie konnte jemand wie sie überhaupt noch etwas dazulernen? Leo, die in ihrem früheren Leben eine Elfe gewesen und mit unserer Hilfe ein Menschenmädchen geworden war, ist nämlich wirklich extrem weise und schlau.

„Man kann immer etwas dazulernen, niemand weiß alles, nicht einmal ich, obwohl ich sicher viel mehr weiß als ihr und all eure Bücher und diese Computerlexika. Vielleicht weiß ich sogar mehr als eure Lehrer“, antwortete sie auf meine Gedanken hin, die sie meistens errät, wenn sie mir nur lange genug in die Augen guckt.

„Du bist bescheiden wie immer“, stänkerte ich.

„Na ja, Ehre, wem Ehre gebührt! Agnes hat mich heute in der Schule angemeldet. Ich wäre ja viel lieber mit Anna in einer Klasse gewesen, aber die Frau Direktor hat gemeint, ich wäre viel zu klug für die erste Klasse, deshalb probieren wir es gleich mal mit der zweiten.“

Ich setzte eine gleichgültige Miene auf, denn ich wollte auf keinen Fall, dass Leo herausfand, was ich dachte. Mir war die Vorstellung, mit ihr in einer Klasse zu sitzen, nämlich eher unangenehm.

Ich bin kein besonders guter Schüler. Meine Freunde wissen das und Georg zum Beispiel kämpft auch dauernd mit schlechten Noten, obwohl er immer angibt, was das Zeug hält, und so tut, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Aber Leo hätte ich gerne im Unklaren gelassen, was meine schulischen Fähigkeiten betrifft.

„Du freust dich offenbar nicht besonders“, stellte sie denn auch sofort fest.

„Doch, doch, aber ich muss diese Information erst einmal verarbeiten“, log ich. „Schließlich brauchst du wirklich keinen Schulunterricht.“

„Ich bin gespannt, was die anderen dazu sagen, wenn sie erfahren, dass ich in eure Klasse gehen werde.“

Oh ja, darauf war ich auch gespannt.

Die Nachricht schlug erwartungsgemäß ein wie eine Bombe. Wendel, Benni und Georg machten lange Gesichter, als Leo ihnen die Neuigkeit präsentierte. Sie dachten wohl ähnlich wie ich. Ich weiß nicht, ob unserer Freundin die trübe Stimmung auffiel, die sie mit ihrer Nachricht ausgelöst hatte, jedenfalls ließ sie sich nichts anmerken. Ganz im Gegenteil, sie schmiedete bereits Zukunftspläne und erklärte uns, wie sie sich unseren gemeinsamen Schulalltag vorstellte.

Bestimmt war die Situation für Leo nicht einfach, denn sie war nun zwar ein Menschenmädchen und hatte sich damit einen lang gehegten Traum erfüllt, gleichzeitig war sie jedoch für immer abgeschnitten von ihrem alten Leben, von ihrer Familie, ihrer Welt, dem Vertrauten, das früher alles für sie bedeutet hatte. Ich merkte oft, dass sie traurig in die Ferne blickte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Wahrscheinlich dachte sie in solchen Momenten an ihre kleine Schwester Gwendolyn und an ihre Eltern, die sie nie mehr wiedersehen würde.

 

In unsere Welt hatte sie nur Prinz Edmund, ihren Beschützer, mitgenommen. Er hatte wie sie selbst seine Unsterblichkeit aufgegeben, um einen kleinen Fuchs zu retten und unsere Welt betreten zu können, und er ist von einem namenlosen Tier zu einer wunderschönen, riesigen schwarzen Dogge geworden. Er wich nicht von Leos Seite und es würde sicher ein Problem werden, ihn davon zu überzeugen, dass er nicht mit ins Klassenzimmer durfte und zumindest während der Schulstunden seine Herrin nicht bewachen konnte. Er habe die Fähigkeit zu sprechen zusammen mit der Unsterblichkeit verloren, das behauptet zumindest Leo, obwohl ich manchmal glaube, dass das nicht ganz stimmen kann. Ich denke, er spricht mit Leo, nur uns schweigt er an. Ich mag ihn trotzdem sehr gerne, auch wenn ich ihn manchmal immer noch ein wenig unheimlich finde.

Trotzdem war die Vorstellung, so ein naseweises Ding wie Leo in der Schule ständig um uns herum zu haben, für uns Jungen natürlich ziemlich unangenehm. Ich hatte ja selbst keine Ahnung, wie es mir mit den anderen in der Klasse ergehen würde, denn ich war nur aufgrund der verlängerten Forschungsreise meiner Eltern gezwungen, in die Dorfschule zu gehen. Hier war bestimmt alles ganz anders als in der Großstadt, wo ich sonst zur Schule ging. Ich hatte zwar meine Freunde Benni, Wendel und Georg, aber es gab schließlich noch eine Menge anderer Kinder, die ich gar nicht kannte. Zu diesen Sorgen gesellte sich nun auch noch die Sache mit Leo. So blickte ich dem ersten Schultag in der neuen Klasse eher skeptisch entgegen.

Obwohl es die letzte Ferienwoche über nahezu ständig geregnet hatte, schien an diesem besonderen Tag die Sonne warm und freundlich vom Himmel, der so tiefblau wie frisch gewaschen leuchtete. Ich überlegte kurz, ob meine ausgeleierten Jeans und die alten Turnschuhe zu wenig feierlich für den Anlass sein könnten, ließ dann aber mein Outfit unverändert, was sofort eine tadelnde Bemerkung meiner Großmutter nach sich zog.

„Ein wenig feiner hättest du dich heute aber schon herausputzen können, Felix“, meinte sie.

Ich reagierte gar nicht darauf, weil ich viel zu nervös war. Das dürfte sie wohl auch bemerkt haben, denn sie sagte nichts weiter. Sogar als ich das Frühstück unberührt stehen ließ, schwieg sie. Beim Hinauslaufen strich sie mir sanft über den Kopf und wünschte mir viel Glück für den Start ins neue Schuljahr.

Georg wartete bereits vor dem Haus auf mich, und als wir uns auf den Weg machten, gesellten sich nach und nach die anderen zu uns. Wendel hatte natürlich seine jüngere Schwester Anna dabei, nur Leo fehlte noch.

„Sicher ist sie jetzt beleidigt, ihr habt schließlich kein Geheimnis daraus gemacht, dass ihr euch nicht gerade freut, sie bei euch in der Klasse zu haben“, versuchte uns Anna ein schlechtes Gewissen einzureden. Sie ist immer sehr drastisch, wenn es darum geht, uns ein wenig fertigzumachen.

Gemeinsam erreichten wir das Schulgebäude, das etwas außerhalb des Dorfes liegt. Es ist ein großes graues Haus mit einem verwitterten Ziegeldach. Die großen Fenster blickten mich dunkel und bedrohlich an, so schien es mir zumindest, und ich hatte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Viele Mädchen und Jungen tummelten sich im Schulhof und der Lärmpegel war ziemlich hoch. Ich hielt mich dicht bei meinen Freunden und bemerkte die neugierigen Blicke einiger Kinder, die mich von oben bis unten musterten. Ich war unverkennbar der Neue hier.

Am Schwarzen Brett in der Aula waren die Klasseneinteilungen angeschlagen, und da es aufgrund der geringen Schülerzahl nur eine zweite Klasse gab, war ich erleichtert zu lesen, dass ich wirklich mit meinen Freunden gemeinsam die Schulbank drücken würde. Anna, die ein Jahr jünger ist als wir, verließ uns an dieser Stelle, denn ihre neue Klasse befand sich im Parterre den Gang hinunter.

Unser Klassenzimmer lag im ersten Stock und wir stiegen gemeinsam die breite Treppe hinauf. Ganz oben auf der letzten Stufe stand Leo und blickte uns finster entgegen. Unwillkürlich musste ich an unsere erste Begegnung mit ihr denken, als sie uns so geheimnisvoll und unheimlich erschienen war.

„Da seid ihr ja endlich, wo wart ihr denn so lange?“, begrüßte sie uns. Im selben Augenblick bimmelte die Schulglocke und wir rannten die letzten paar Meter.

Als wir zu fünft durch die Tür stürmten, starrten uns alle neugierig entgegen. Anscheinend waren wir wirklich die Letzten. So blieb uns nur noch die erste Reihe zum Sitzen übrig, was ich eigentlich gar nicht leiden kann. Man befindet sich immer im Blickfeld der Lehrer und kann weder tratschen noch schummeln. Auch wird man ständig mit Bankfragen gemartert. Aber ich hatte keine Zeit zu grübeln, denn unsere Klassenlehrerin, die die ersten Schulstunden am ersten Schultag hält, kam schon zur Tür herein.

Helga Kleinschuster, so heißt sie, ist eine schon etwas in die Jahre gekommene, rundliche Dame mit einer großen Brille. Sie unterrichtet die Schulfächer Deutsch und Englisch und ist sehr nett und freundlich.

Sie begrüßte uns und schrieb ihren Namen an die Tafel, ich bemerkte gleich, wie nett sie war, und so begann sich auch mein rebellierender Magen etwas zu beruhigen.

Die erste Stunde verging mit administrativen Dingen. Frau Kleinschuster kontrollierte unsere Namen und Geburtsdaten. Natürlich tauchten dabei die ersten Schwierigkeiten bezüglich Leos Angaben auf, wie es eigentlich nicht anders zu erwarten gewesen war. Frau Kleinschuster prüfte anhand einer Liste, die sie von der Direktion bekommen haben musste, ob alle Kinder, die darauf standen, auch wirklich anwesend waren und ob Name und Geburtsdatum übereinstimmten.

„Alvenstein, Leonora?“, fragte die Lehrerin und blickte in die Runde.

Leos Miene verfinsterte sich und mit ihrer lauten, schrillen Stimme rief sie: „Falls ich damit gemeint bin, Leonore Alba Rusnelda von Albenstein ist mein voller Name und ich bitte, ihn richtig auszusprechen.“

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Lehrerin, als sie entgegnete: „Oh, das tut mir leid, da hat sich wohl in unsere Computerdaten ein Fehler eingeschlichen. Dein Name ist wunderschön, liebe Leonore, und ich werde mich bemühen, ihn in Zukunft richtig auszusprechen.“

„Sie können Leo zu mir sagen“, tönte es neben mir.

Lautes vielstimmiges Gelächter war die Folge und das Eis war gebrochen.

„Leo, also, du bist am 21.12.2004 geboren, ist das richtig?“

Ich erstarrte, denn ich konnte spüren, wie Leo auf dem Stuhl neben mir heftig zuckte und dann aufsprang, sodass der Tisch erzitterte. „Nein, so ein Blödsinn, ich bin am Tag der Wintersonnwende im Zenit des Mondzeitalters geboren, nach Menschenzeitrechnung ist das ungefähr das Zeitalter der Romantik, also etwa um 1700.“

In der Klasse war es mucksmäuschenstill geworden und man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Alle blickten gebannt auf das Gesicht der Lehrerin, das sich für einen kurzen Augenblick verfinsterte.

Frau Kleinschuster runzelte die Stirn. „So, so, also noch vor dem guten alten Goethe bist du geboren, das ist ja interessant. Wann hatte der noch gleich Geburtstag? Lass mich überlegen ...“

„Johann Wolfgang von Goethe, geboren am 28. August 1748 in der Stadt Frankfurt am Main im Sternzeichen der Jungfrau, ein recht langweiliger, alter Kerl“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Leo.

„Oh, aha. Ja, das ist wohl Ansichtssache. Demnach bist du, liebe Leo, also wie alt? Hilf mir doch beim Rechnen“, erwiderte Frau Kleinschuster.

Leises Gekicher aus der letzten Bank, dann wieder Grabesstille und gespanntes Lauschen.

Ich boxte Leo kräftig in die Seite und es war, als erwache sie aus einem Traum. „Nach Menschenzeitrechnung bin ich im Hier und Jetzt zwölf Jahre alt“, murmelte Leonore kleinlaut.

Die Klasse tobte. Vor allem die letzte Reihe war nicht zu halten.

„Nach Menschenzeitrechnung“, echote Franz, einer der wildesten Kerle der ganzen Schule, wie mir Georg und die anderen schon erklärt hatten.

„So, nun beruhigt euch wieder, es war lustig, das gebe ich zu, Leo scheint ein Spaßvogel zu sein, aber habt ihr auch bemerkt, wie schlau sie ist? Hättet ihr das über Johann Wolfgang von Goethe gewusst?“ Die Lehrerin hatte offenbar den Bogen raus. Geschickt hatte sie unserer Freundin aus der Verlegenheit geholfen, das hoffte ich jedenfalls. „Du hast viel Fantasie, Leonore, und das finde ich ganz wunderbar, aber hier in der Schule müssen wir bei den Fakten bleiben, also belassen wir es dabei: Du bist für uns die Leo aus Amerika, die zu ihrer Oma Agnes gekommen ist, um eine Zeit lang bei uns im Dorf zu leben, und du bist zwölf Jahre alt. Ist das okay so?“

Leo nickte mit ernster Miene und ich hatte das Gefühl, dieser kleine Auftritt würde nicht ohne Folgen für sie bleiben. Unsere Bedenken waren also nicht unberechtigt gewesen, es würde Schwierigkeiten geben, und das nicht zu knapp. So kam es denn auch.

Bereits in der Pause nach der ersten Unterrichtsstunde schlenderte der böse Franz wie zufällig an Leo vorbei. Er umrundete unseren Tisch einmal, zweimal, stellte sich dann vor mich hin, schaute mich an, sagte aber kein Wort. Als ich schon unruhig wurde von dem Gestarre, erhob er plötzlich seine Stimme und es wurde blitzartig ruhig in der Klasse.

„Dieses Paar hier vorne, die beiden Neuen, die passen so gut zueinander, weil sie so deppert sind, dass der Krampus sie net besser in seiner Kraxen zusammentragen hätte können.“

„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte ich mich. Natürlich wusste ich, wer der Krampus war, wahrscheinlich weiß das fast jedes Kind, aber der Rest? Ich schielte zu Leo hinüber, die immer noch sehr nachdenklich wirkte.

Was sollte man da tun, es sich gefallen lassen, still bleiben und sich weiter beleidigen lassen oder was Freches antworten, es auf einen gröberen Streit ankommen lassen, auf den Franz offenbar aus war?

Während ich noch fieberhaft hin und her überlegte, brach neben mir ein Vulkan aus. Leonore lief zur Hochform auf. Sie war aufgesprungen, ihre ohnehin schon sehr großen dunkelgrünen Augen funkelten Franz finster an. Ihre Stimme war so laut und schrill wie die Trillerpfeife eines Schiedsrichters auf dem Fußballplatz.

„Was soll das, warum beleidigst du uns? Haben wir dir etwas zuleide getan? Wir sind neu in dieser Schule, es wäre deine Aufgabe, uns freundlich zu begegnen und uns willkommen zu heißen.“

„Warum redest du so blöd und geschwollen daher, glaubst du, weil du aus Amerika kommst, bist du was Besseres als wir? Spielst dich vor der Lehrerin auf mit deiner angeblichen Schlauheit“, konterte Franz.

In der Klasse war es wieder absolut still, alle verfolgten gespannt den Streit. Ich hoffte, die Pause wäre bald zu Ende, aber immer wenn etwas unangenehm ist, dehnt sich die Zeit wie Kaugummi. Sollte ich eingreifen, sollte ich mich einmischen? Ja, wahrscheinlich, aber wie? Was konnte ich sagen oder tun, um die Situation zu entspannen? Mir fiel nichts ein.

Dafür Leo umso mehr. „Ich glaube, du hast Angst vor mir“, behauptete sie und ich fand, sie sah in diesem Augenblick wirklich Furcht einflößend aus. Mit dem wilden Blick und ihrer lauten Stimme und irgendwie wirkte sie plötzlich auch viel größer. Aber sicher bildete ich mir das alles nur ein, weil ich selber so ein Feigling war.

Franz war jedenfalls für eine gefühlte Ewigkeit sprachlos. Da wollte jemand aufmucken. Das hatte es noch nie gegeben, er war schließlich der Raufbold und Streithansel, der Schrecken aller Lehrer und Kinder sowieso. Eine handverlesene Gruppe aus Burschen und Gleichgesinnten, die alle durchwegs älter waren als er und die sich ihm angeschlossen hatten, duldete er und natürlich seinen Busenfreund Jo, der mit uns in dieselbe Klasse ging. Alle anderen hatten ihn zu fürchten und genau das wollte er spüren. Darum wohl auch dieser Auftritt, wir waren neu hier und er wollte uns gleich zu Anfang den Schneid abkaufen.

Mit einem Mal packte er zu. Seine Hand schoss nach vorne und griff nach Leo. Er bekam aber nur ihre Jacke zu fassen, aus der sie offenbar blitzschnell herausgeschlüpft war, und schon stand sie neben Franz und streckte ihm die Zunge heraus.

„Bähh, das hättest du wohl gerne, fang mich doch, wenn du kannst, aber da musst du früher aufstehen.“

 

Er stand da und hielt ihre Jacke hoch, es sah zu dämlich aus. Er musste reagieren, denn es ging um seinen guten Ruf.

Und dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Es läutete und mit dem Läuten betrat Frau Kleinschuster die Klasse. Leo saß schon wieder auf ihrem Platz, lammfromm und mit Unschuldsmiene, aber nicht, ohne zuvor Franz kräftig an seiner Nase gezogen zu haben. Das alles war so schnell passiert, dass die Lehrerin nur noch sah, wie Franz sich wehleidig mit der linken Hand die Nase hielt und mit der rechten ausholte, um Leo die Jacke um die Ohren zu schlagen.

„Franz“, schimpfte die Lehrerin, „so fängst du dieses Schuljahr an? Wirst du denn nie gescheiter?“

„Ach, lassen Sie nur“, warf Leo zu meinem größten Erstaunen dazwischen, „es ist auch meine Schuld, ich habe ihn ein wenig provoziert. Ich werde schon mit ihm fertig, nur keine Angst.“

Das war sicher die größte Demütigung, die Franz jemals erlebt hatte. So etwas von einem naseweisen Mädchen. Ich sah ihm an, dass es in ihm brodelte, als er zu seinem Platz schlich.

Ich schätze, alle anderen waren ähnlich unkonzentriert wie ich in der folgenden Schulstunde, allerdings aus anderen Gründen. Man musste sich ab jetzt wohl Sorgen um Leo machen, denn Franz verstand in diesen Dingen bestimmt keinen Spaß. Aber ich machte mir auch Sorgen um mich, denn so bin ich nun mal.

***

Der alte Dachs saß im flackernden Licht einer Kerze an einem altmodischen Schreibtisch und war tief über eine Pergamentrolle gebeugt, auf die er unablässig Noten kritzelte. Das geschah in solch einer Geschwindigkeit, als schriebe er einen Brief.

Ab und zu hob er seinen Kopf, legte ihn ein wenig schief und schien einer Melodie zu lauschen, die es aber nur in seinem Inneren geben konnte, denn in seiner Höhle tief unter der Erde war es totenstill.