Jungen die übrigblieben

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Jungen die übrigblieben
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Erich Loest







Jungen







die übrigblieben





mitteldeutscher verlag







Erich Loest

, 1926 in Mittweida (Sachsen) geboren, war 1944/​45 Soldat, 1947 bis 1950 Redakteur bei der „Leipziger Volkszeitung“ und ist seit 1950 als freischaffender Schriftsteller tätig (Debüt „Jungen die übrig blieben“, 1950). 1957 aus der SED ausgeschlossen und aus politischen Gründen zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, tritt er 1979 aus Protest gegen Zensur aus dem Schriftstellerverband aus und erzwingt 1981 seine Ausreise in die Bundesrepublik. Er war von 1994 bis 1997 Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller.



Loest bekam unter anderem den Hans-Fallada-Preis, den Marburger Literaturpreis, zweimal den Jakob-Kaiser-Preis, 2009 den Deutschen Nationalpreis sowie den Kulturgroschen 2010 des Deutschen Kulturrates zuerkannt, einige seiner Bücher wurden verfilmt. Loest lebt in Leipzig. Er ist Ehrenbürger seiner Heimatstadt Mittweida (1992) und von Leipzig (1996).







Editorische Notiz



Die vorliegende Ausgabe basiert auf dem Band 1 der Werkausgabe, der 1991 im Linden-Verlag, Künzelsau und Leipzig, erschien. Grundlage für diese Werkausgabe war die Originalausgabe von 1950, die im Verlag Volk und Buch, Leipzig, veröffentlicht wurde.



2013



©

mdv

 Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)





www.mitteldeutscherverlag.de





Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung



des Linden-Verlags, Leipzig



© Linden-Verlag, Leipzig 1991



Alle Rechte vorbehalten.



Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)



1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016



Umschlagabbildung: Deutsche Stellung an einer Landstraße,



März 1945 (ullstein bild – Heinrich Hoffmann)



ISBN 978-3-95462-726-4







Wo sich die sächsischen Hügel unmerklich in das norddeutsche Flachland hinabsenken, wo sich die ersten Kiefern auf den sandigen Dünen erheben, streckt sich die weite Ebene von Zeithain. Ein Dorf, das den Namen gab, und eine endlose Heide, die zum Begriff wurde: Zeithain, Truppenübungsplatz Zeithain. Das waren Baracken, Übungsanlagen, Schießstände, Unterkünfte, Ställe, Küchen, Werkstätten, Scheunen, Depots für alles, was der Krieg verschlang, waren Lazarette, Munitionsfabrik, Gefangenenlager. Zeithain hieß das Wort, das die Männer und Jungen Sachsens mit ernstem Gesicht aussprachen und dem sie eine kleine, bedeutungsvolle Pause folgen ließen. In dieser Pause lagen Sand, Heide und Ginster, lagen Ebene, Staub und Durst, lagen Schweiß und Schmerz. In ihr lagen Befehlen und Gehorchen.




Inhalt





Cover







Titel







Über den Autor







Impressum







Vorwort







I.







II.






I.



Vor drei Tagen hatten Uhlig und Gietzel die Worte »Zeithain, Hauptlager« zum ersten Mal gelesen. Sie standen auf dem lange und nicht gerade sehnsüchtig erwarteten Einziehungsbefehl: »Sie haben sich am 3. Juni 44, bis 18 Uhr, in Zeithain über Riesa, Hauptlager einzufinden …!« Diese Zettel waren eines Tages dagewesen und hatten eine jähe Änderung im täglichen Einerlei hervorgerufen. Telefonanruf in der Schule, überstürzter Abschied von den Lehrern und den letzten wenigen Schülern der Klasse. Gespielte Schadenfreude der Väter (»Zeithain, da könnt ihr was erleben!«), durch die Besorgnis hindurchklang, zwei Tage wilden Trubels, ausgefüllt mit wichtigen Verrichtungen, Abschied hier und da. Schließlich eine Bahnfahrt mit unklaren, gemischten Gefühlen.



Dort war also Zeithain. Im Schatten schirmförmiger Kiefern glänzten die Teerdächer nackter Ziegelbauten. Sie waren niedrig, dunkelrot und unfreundlich. Nur wo die Straße den geflickten Lattenzaun traf, boten ein weißes Haus und eine Säule dem Auge einige Abwechslung.



Die Sonne brannte über die graugelbe Landschaft. Links vor dem Hauptlager dehnte sich eine Fläche, besetzt mit allerlei Dingen, die wohl mit dem Militärdienst zusammenhingen. Künstliche Hecken, zerbrochene Mauern und niedrige Zäune, hölzerne Giebel imaginärer Häuschen, buntbemalte quadratische Scheiben mit Soldatenköpfen in der Mitte, Figuren aus Pappe und kleine Flugzeuge auf hohen Stangen gaben der Ebene ein eigenartiges Aussehen. Aber man würde ja wohl noch lernen, wozu das alles da war.



Uhlig kam, zwei Eisenbahnstunden weit, aus Chemnitz. Er trug die kurze schwarze Hose der Hitlerjugend mit dem dazugehörigen Koppel, ein blaukariertes Hemd und breitgetretene Halbschuhe ohne Strümpfe. Die Haare hatte er sich am Tage vorher noch etwas kürzer schneiden lassen, als er sie ohnehin schon getragen hatte. »Nur nicht auffallen«, hatte ihm sein Vater immer wieder gesagt. »Immer schön in der Mitte, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Wenn du am ersten Tage auffällst, hängst du die ganze Zeit!« Und so war auch sein immerhin noch etwas ziviler Haarschnitt gefallen.



Neben ihm ging Harry Gietzel. Untersetzt, blond, mit einer großen, leicht nach oben gewölbten Nase und kantigem Schädel. Die beiden hatten sich auf dem Bahnhof in Riesa getroffen. »Auch nach Zeithain?« hatte Uhlig gefragt. Seitdem waren sie zusammen gegangen, über die Elbbrücke, durch Röderau hindurch, nahe am Dorf Zeithain vorbei und auf die flache Höhe vor dem Lager.



»Es ist erst um vier«, sagte Gietzel im harten Dialekt seiner Egerländer Heimat. »Ich bin dafür, wir bleiben noch ein bißchen hier sitzen. Nur keine Eile, wir haben noch zwei Stunden Zeit. Oder willst du dem Kommiß zwei Stunden schenken?«



Uhlig wollte nicht. Gietzel setzte den großen Koffer ab und hockte sich nieder. Vorsichtig legte er den Koffer um, öffnete den Deckel und begann nach einigem Suchen zu essen. Uhlig streckte sich in das verdorrte Gras, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blinzelte in die Sonne, die manchmal hinter den Sommerwölkchen verschwand und dann blaue Schatten über die Ebene huschen ließ. Sommer, dachte Uhlig, Sommer. Und gähnte.



Wenn der mir nichts zu essen gibt, brauche ich ihm auch nichts zu rauchen anzubieten, dachte Uhlig nach einer Weile. Er nahm eine Packung Zigaretten aus seiner Aktentasche, schlitzte sie mit dem Nagel auf und begann zu rauchen, nachdem ihm der Wind drei Streichhölzer ausgelöscht hatte. Er legte sich wieder lang auf den Rücken.



»Was hast du denn bloß alles in dem Koffer?«



Gietzel schluckte den halbgekauten Bissen hinunter. »Alles, was man so braucht«, sagte er. »Bißchen Wäsche, Waschzeug, Putzzeug, paar Bücher, Schreibpapier. Und was zu essen und meine Hausschuhe und so weiter.« Er biß in seinen Kuchen.



»Hast du bloß deine Aktentasche?« fragte er nach einer Weile.



»Brauch’ nicht mehr«, sagte Uhlig. Er stieß den Rauch durch die Nasenlöcher. »Meine Laufschuhe, damit ich bißchen Sport treiben kann, Waschlappen, Seife, Zahnbürste. Mehr braucht man nicht, alles andere kriegst du vom Kommiß. Da brauchst du dir mit Wäsche zum Beispiel gar keine Sorgen zu machen. Und zum Lesen kommst du sowieso nicht. Wenn du dauernd den Spind voll Klamotten hast, kannst du darin keine Ordnung halten. Und dann fällst du auf. Noch unbequemer wird die Sache, wenn du mal mit umziehen mußt. Da kannst du schön schleppen. Heeresfluchtgepäck mein Lieber, Heeresfluchtgepäck! Das ist das Richtige!«



Gietzel fiel nichts zu erwidern ein. Er suchte nach einem Trumpf. »Hast du wenigstens ein Eßbesteck mit?«



»Klar.«



Sie lagen eine lange Zeit und sagten kein Wort. Nachdem Uhlig ausgeraucht hatte, zog er das Hemd aus und ließ sich die immer noch hochstehende Sonne auf die Brust brennen. Schön braun ist der, dachte Gietzel, und sehr mager. Er kramte etwas in seinem Koffer und stellte fest, daß die Butter weich geworden war. Er mußte sie dann gleich in kaltes Wasser stellen.



Uhlig fühlte das Besondere seiner Lage. Jetzt bist du noch Zivilist, dachte er. Jetzt kannst du noch machen, was du willst. Nein, auch nicht mehr. Jetzt mußt du hier warten, und dann geht’s los. Dann bist du Soldat, Rekrut, Spund. Nicht, daß er nicht gern Soldat geworden wäre, das wurden im Grunde genommen die meisten Jungen gern in dieser Zeit. Aber die Rekrutenzeit, die Rekrutenzeit … vor ihr hatte Uhlig, wenn er ehrlich sein sollte, ein bißchen Angst. An der Front, da würde alles anders aussehen, meinte Uhlig, aber der Schliff, der jetzt kommen würde! Dicke Uniformen, lange Hosen, Stiefel, Stahlhelm, womöglich noch die Gasmaske – und diese Hitze. Diese viehische Hitze, die man außerhalb des Wassers kaum aushalten könnte. Baden gehen, schwimmen? Würde er dazu noch Gelegenheit haben? Schwitzen würde er müssen, schwitzen! Und wer weiß, ob es genug zu essen gab …



Uhlig dachte auch ein bißchen zurück. Schule, die Freunde, die Eltern. Das war gestern gewesen und lag schon in einem leichten Nebel. Zwischen zwei Nebeln, dachte Uhlig, einer vorn, einer hinten. − Langsam und mechanisch griff er zu einer neuen Zigarette.

 



Gietzel hatte den Koffer geschlossen und schrieb auf dem Deckel schnell noch eine Postkarte:



Vor Zeithain, 3. Juni, 17.30 Uhr





Liebe Eltern!







Bin gut in Riesa angekommen und jetzt auf dem Weg nach Zeithain. Jetzt bin ich gerade vor dem Tore und warte noch ein bißchen, bis ich hineingehe. Ich schreibe Euch gleich wieder, wenn ich meine neue Adresse habe. – Der Kuchen ist prima! Viele Küsse! Euer Harry





Fünf Minuten vor 18 Uhr gingen Gietzel und Uhlig an dem kleinen Häuschen der Omnibushaltestelle vorbei durch das Tor. Sie zeigten ihre Papiere vor, erhielten im Wachzimmer einen Stempel und wurden dann weitergeschickt: »Melden Sie sich in Baracke 22!«



*



Das rote Gesicht hob sich aus den Akten. Die kurzsichtigen Augen mit den schweren Tränensäcken richteten sich auf die elektrische Uhr, trübten sich, wurden klar, erkannten. Die Uhr zeigte zehn Minuten vor vier, sie blinkte in glänzendem Schwarz und Weiß. Das Spinnenbein des Sekundenzeigers umlief lautlos das glitzernde Rund. Das Gesicht senkte sich wieder, das füllige Kinn legte sich in Falten über den Kragen mit dem blinkenden Kreuz. Eine wurstfingerige Hand fuhr kratzend in das rote, glänzende Genick.



Es war lastende Stille im Raum, die nur bisweilen durch das Kratzen einer Feder oder das Rascheln von Papier unterbrochen wurde. Trotz der heruntergelassenen Jalousien, die das grelle Sonnenlicht dämpften, lag brütende Hitze zwischen den Aktenschränken und dem Schreibtisch, den Blattpflanzen, den kartenbespannten Wänden mit dem großen Bild des finsteren Mannes in der braunen Uniform.



Das rote Gesicht mit dem glatten braunen Haar darüber verriet Unlust und Abgespanntheit. Irgendwo an einer hitzegeplagten Stelle des Hirns rechnete es: »Achtundsiebzig plus dreiundzwanzig sind … sind … sind … einund … sind hundertundeins, sind, ja doch, sind drei Abteilungen. Sind drei Abteilungen. Sind drei Abteilungen Rekruten.«



Eine schwarze Fliege stieß mit dunklem Gebrumm wieder und wieder gegen das Fenster.



»Herr Krüger!«



Eine Tür ging. Ein wenig, zu wenig frische Luft ging durch den Raum, Hacken knallten: »Herr Hauptmann?«



»Krüger, sagen Sie, ist die Baracke 17 belegt?«



Der Adjutant überlegte einen Augenblick: »Nein, Herr Hauptmann.«



»Dann wollen wir doch die 3. Kompanie in die Baracke 17 legen, und die neue 5. Kompanie kommt in die Baracke 22.«



»In Baracke 22 liegen vorläufig die neuen Rekruten, die gestern gekommen sind, Herr Hauptmann.«



»Eben, das ist ja die neue Fünfte. Das sind drei Abteilungen, zu denen nehmen wir noch die Abteilung Fahrenfeld von der Dritten hinzu. Gut. Telefonieren Sie sofort an die Dritte: Morgen früh umziehen in Baracke 17, Abteilung Fahrenfeld in Baracke 22!«



»Jawohl, Herr Hauptmann!«



Die Tür ging, wieder strich ein Hauch frischer Luft durch den Raum. Gedämpft drang die Stimme des Adjutanten durch das trennende Holz. Er sah auf die Uhr. So, das war nun das Letzte gewesen für heute.



Das rote Gesicht des Bataillonskommandeurs Hauptmann Klempner nickte zufrieden.



*



Das war keine Stube, in die die Rekruten hier gekommen waren, das war, wie sie meinten, ein unmöglicher Saustall. Die Landser, die sie zuletzt bewohnt hatten, waren über Nacht abgezogen worden und hatten weder Zeit noch Lust gehabt, den Raum sauber zu übergeben. Papier lag überall herum, Stroh, Abfälle, Asche, Dreck, Dreck und nochmals Dreck. Die Bretter in den Betten fehlten, eine Scheibe war zerschlagen, das Verdunkelungsrollo hing zerrissen vor dem Fenster. Strohsäcke waren zerfetzt, der Schalter abmontiert, Dielenbretter durchgetreten. Elf Mann besaßen zehn Betten, acht Spinde, fünf Schemel und einen zerbrochenen Tisch.



Zuerst hatten die elf auf ihren Koffern gehockt, geflucht, vor sich hingestiert. Uhlig hatte einen löchrigen Eimer knallend gegen die Wand getreten. Sie hatten sich gefragt, wo sie herkamen und ob sie beim Arbeitsdienst gewesen waren. Vorgestellt hatte sich keiner.



Gietzel hatte nach einer Weile mit Aufräumen angefangen. Er hatte den Tisch abgewischt, aus einer anderen Stube einen beinahe borstenlosen Besen geklaut und wenigstens in der Mitte des Raumes den Dreck weggekehrt. Dann hatten sie wieder gehockt, erzählt, geflucht. Drei hatten Skat gespielt. Als es gegen zehn war, hatte sie ein Obergefreiter genötigt, sich auf die dreckigen Strohsäcke zu legen, und hatte die Glühbirne lockergedreht.



Uhlig schlief unruhig in dieser Nacht. Wenn er munter wurde, dachte er: Jetzt bist du beim Kommiß. Es war dies unendlich neu und sonderbar. Vor sich spürte er eine unbekannte Leere, einen Raum voller Neuigkeiten und dunkler Gefahren.



Einmal stand er auf und suchte den Abort. Es roch darin unangenehm, und trotz der matten blauen Birne und seiner Verschlafenheit nahm er die Unsauberkeit wahr. Ehe er sich wieder hinlegte, rauchte er. Er verspürte keinen Genuß.



Am Morgen erschien ein Unteroffizier und schrie Uhlig an, weil er hinter seinem Rücken gefeixt hatte. Seitdem mußten sie die Bude aufräumen. Aus dem Spind, der vor Uhligs Bett stand, stank es bestialisch. Es war der Geruch, der für Soldatenstuben so typisch ist: eine Mischung von Tabak, Kunsthonig, Mottenpulver, Schimmel, Öl, Brot, Leder, nasser Kleidung, Schweiß, Leberwurst und Urin.



Uhlig kehrte zuerst mit einem Stück Papier Dreck und Brotkrumen, Wurstschalen und Zigarettenkippen aus den Fächern. Er hob die Glasplatte des Eßfaches hoch, Sirupfäden zwischen Holz und Glas emporziehend. Er riß das fettige Papier von den Seitenwänden des Faches und warf es mitten in die Stube. Mit der Kehrschaufel hob er schließlich den Müll aus Stofffasern, Staub, Papier und Speiseresten, in dem sich auch ein paar Patronenhülsen und ein gebrauchter Gummischutz befanden, von der Bodenplatte des Spindes.



Ein Obergefreiter kam und schrieb ihre Namen auf. »Komm du mal mit!« sagte er zu Uhlig. Er ging mit ihm ein Stück durch das Lager über sandige Wege. Er sprach ein paar Worte mit einem alten Landser, grüßte vorbeikommende Vorgesetzte. Als Uhlig ihn fragte, wo sie hingingen, muffelte er: »Das wirst du schon sehen!« Soldaten waren überall. Eine Abteilung marschierte singend vorbei.



Uhlig schämte sich ein wenig seines Zivils.



In einem hohen, hellen Raum stapelte ihm ein Unteroffizier blau and weiß Karierte Wäschestücke auf die Arme.



»Verteil das in deiner Stube!« sagte der Obergefreite zu Uhlig.



Er sagte das so, daß Uhlig ein zackiges »Jawohl« entfuhr, über das er sich später sehr ärgerte.



*



Oberfeldwebel Reith zog in seine neue Behausung ein. Während seiner ersten Tage in Zeithain hatte er in einer übervollen Unteroffiziersstube schlafen müssen, heute früh endlich war ihm seine eigene Stube zugewiesen worden. Sie war verhältnismäßig groß, es war eigentlich ein Wunder, daß er allein darin wohnen durfte.



»So. Jetzt holen Sie noch Wasser und dann können Sie gehen«, befahl Reith dem Jungen, den er sich zu seiner Hilfe aus den Rekrutenstuben der Kompaniebaracke geholt hatte. Die Spunde saßen dort in Scharen herum, seit zwei Tagen nun schon, und hatten, wie Reith meinte, absolut nichts zu tun. Der Junge hier trug noch Zivil, war aber flink und willig. Er versuchte sogar zackig zu sein, was Reith in dieser Unbeholfenheit und Krampfigkeit nicht wenig erheiterte.



Reith begann sich zu rasieren. Er goß etwas von dem heißen Kaffee in ein Schälchen, feuchtete sich mit dem Pinsel das Gesicht an und rieb mit dem Seifenstück den Bart. Es war dies so seine Methode, und er sparte ungemein viel Seife dabei.



Gietzel mühte sich mit dem Wasserkrug hinter Reiths Rücken vorbei. »Hier ist das Wasser«, sagte er. Gut, sagte Reith, »stellen Sie es dort in die Ecke und hauen Sie ab. Und morgen früh kommen Sie noch mal her, wenn Sie bis dahin noch keinen Dienst haben. So gegen zehn.«



»Jawohl«, sagte Gietzel. Er stand stramm und machte eine Kehrtwendung. Nicht übel der Junge, dachte Reith. Er würde sich ihn als Putzer nehmen, wenn er wirklich als Ausbilder zu diesen Spunden kam.



Reith wischte den Rasierapparat ab. Dann nahm er ein Salbenbüchschen und ein sauberes, weiches Stück Stoff aus dem Spind und hängte den Handspiegel an den Fensterwirbel. Er mußte ein wenig in die Knie gehen, um hineinsehen zu können. Seine Hände lösten den Knoten am Hinterkopf, tasteten sich nach vorn und nahmen behutsam die schwarze Klappe von der Stelle, hinter der Gietzel das linke Auge vermutet hatte. Mit dem Läppchen und etwas Salbe säuberte sich Reith sorgfältig die brandrote, blaugeäderte, an den Rändern zuckende Höhle.



Reith legte sich nach der umständlichen Prozedur lang auf sein Bett und breitete nicht einmal eine Zeitung unter die Stiefel, wie es sonst seine Gewohnheit war. Er ließ auch Läppchen und Salbe auf dem Fensterbrett liegen und den Spiegel am Wirbel hängen.



Ob diese furchtbaren Schmerzen einmal aufhören werden? dachte er.



Harry Gietzel kam in die Baracke 22 zurück. Er holte sich ein Stück Kuchen aus dem Spind und setzte sich kauend auf die Bettkante.



»Wo warst du denn?« fragte Uhlig von seinem Strohsack herunter.



»Bei einem Oberfeldwebel. Weißt du, bei dem mit der silbernen Nahkampfspange, der das Auge verbunden hat. Drüben in Baracke 18.«



»Hab’ ich noch nicht gesehen. – Was hast du denn bei ihm gemacht?«



»Die Bude eingeräumt«, sagte Gietzel, und Uhlig ärgerte sich über die gewollte Gleichgültigkeit, mit der Gietzel das sagte. Dabei war es Uhlig schon nach den wenigen Stunden ihrer Bekanntschaft klar, welche Vorteile sich Gietzel von einer derartigen Kleinigkeit erhoffte.



»Ich gehe morgen wieder hin«, sagte Gietzel, »prima Kerl, der Oberfeldwebel. Reith heißt er. Mensch, der hat Auszeichnungen, sag’ ich dir! EK I, goldenes Verwundetenabzeichen, Sturmabzeichen …«



Uhlig blies den Rauch gelangweilt an die Decke.



*



Leutnant Pardow saß mit zwei anderen Herren zu Tisch. Man hatte wie stets weiß gedeckt, Blumen standen in einer Vase. Die Bestecke lagen sauber ausgerichtet, die oberen Ränder bildeten eine schnurgerade Linie. Kühle und Stille lagen in den gemütlichen Räumen des Offizierskasinos.



Als der vierte Herr kam, Herr Leutnant Fahrenfeld, erhob man sich leicht und reichte ihm die Hand. »Na, meine Herren, flotten Dienst gemacht?«



Fahrenfeld war bester Laune. Er bot einige Anekdoten und ließ die anderen über die dußlige Antwort lachen, die ihm ein Rekrut heute morgen gegeben hatte. Zum Schreien! Der Leutnant Brückner, der gewöhnlich Phase und Phrase nicht auseinanderhalten konnte und sie im Unterricht stets verwechselte, äußerte die Ansicht, die Rekruten würden mit jedem Jahrgang dümmer. In seiner Abteilung könne er das täglich feststellen.



Eine Ordonnanz in weißer Jacke bediente. Sie entfernte Blumen und Aschenbecher und stellte dann die Suppenteller ab. »Guten Appetit!« wünschte man sich gegenseitig. Plaudernd beugten sich die Herren über die Teller. »Aaah! Grießklößchen!« Pardow strahlte und begann mit dem Löffel die lockeren Bällchen zu zerhacken.



Zur selben Zeit schob sich die Schlange der 5. Kompanie an den Schaltern der Mannschaftsküche vorbei. Die Abteilung Fahrenfeld, die sich ob ihrer dreiwöchigen Dienstzeit den Spunden haushoch überlegen vorkam, war vor der übrigen Kompanie angetreten und empfing bereits ihr Essen. Die Soldaten trugen ihre von Schmutz und Öl gefleckten Drillichsachen, einige waren in Turnschuhen angetreten. Sie lagen über den Tischen, die vom verschütteten Essen der vierten Kompanie, die vorher gegessen hatte, verunreinigt waren. Kohlrüben gab es heute, Pellkartoffeln und – laut Aushang – neunzehn Gramm Schweinefleisch. Der Grenadier Kellig verzog das Gesicht, als ihm der süßlich-faule Kohlrübengeruch in die Nase stieg. »Elender Fraß«, meinte er, und der Grenadier Mückenberger stimmte ihm bei. »Will keine!« sagte Kellig. Er zog die Schüssel weg, als ihm der fette Koch, den sie die Qualle nannten, das graugelbe Gemüse zuteilen wollte. Er schimpfte noch immer, als er sich, Fleisch und Soße in der Schüssel, die schlechten, teilweise faulen Kartoffeln in der Feldmütze, einen Platz an den Tischen suchte.



Die Kartoffeln seien wirklich vorzüglich, äußerte sich Leutnant Pardow, als die Ordonnanz den Hauptgang aufgetragen hatte. Sie türmten sich dampfend und duftend als mehliger, kümmelgesprenkelter Berg. Das Fleisch sei ihm lieber, gab Leutnant Schmiedel zu verstehen, schallend lachend, und er erzählte darauf, daß er ebensolches Gemüse, Karotten und Erbsen, im Vorjahre in Sofia in unvergleichlicher Qualität gegessen habe. »Picobello, kann ich Ihnen sagen!«

 



»Geben Sie mir die Portion mit«, sagte Uhlig zur Qualle, als Gietzel, sein Vordermann in der Schlange, auf die Kohlrüben verzichtete. Er setzte sich mit an den Tisch, an dem die anderen aus seiner Stube saßen: Guhr, Steinbach, Öhme. Die Platte war noch schmutziger geworden, seit ein paar von der 3. Abteilung sich an ihr gelümmelt hatten. Kohlrübenstückchen, ringförmige Soßenspuren und ein Gemisch von Kartoffelschalen und -resten bedeckten den Tisch. Uhlig schob den Unrat, so gut es ging, beiseite und setzte sich. Ihm gegenüber saß ein ungeschlachter Kerl, groß und breit, mit vielen Pickeln im Gesicht. Er schmatzte laut beim Kauen. Die holzigen Teile des Gemüses spuckte er unter die Bank.



Nach einigen Bissen schnürte Uhlig der Ekel die Kehle zu. Der stickige Essensgeruch verschlug ihm den Atem. Raus, dachte er. Bloß schnell aus diesem Saustall raus! Er stand auf und kippte seine Portion draußen in den Abfallkasten. Das schwappende, klatschende Geräusch hätte ihn um ein Haar brechen gemacht. In der Baracke warf er sich in maßlosem Zorn auf sein Bett.



*



Die 3. Abteilung der 5. Kompanie war zum ersten Mal angetreten. Leutnant Pardow hatte die zweiunddreißig Rekruten in »Linie zu einem Glied« antreten lassen, hatte sie der Größe nach aufgestellt und die ersten elf einen Schritt nach rechts, die letzten zehn einen Schritt nach links treten lassen.



»Unteroffizier Zing!«



»Herr Leutnant?«



»Sie übernehmen die erste Gruppe. Stellvertreter Obergefreiter Hofmann. Zwote Gruppe: Unteroffizier Köhler …«



»Zwote Gruppe, Herr Leutnant!«



»… Stellvertreter Obergefreiter Hafer. Dritte Gruppe: Unteroffizier Ackermann.«



»Jawohl, Herr Leutnant!«



»Stellvertreter Obergefreiter – wer ist da noch übrig? – ja, Sie, Schmidt. Die Gruppen bleiben so bestehen, schreiben Sie sich die Namen auf. Wir legen nun auch die Gruppen in den Stuben zusammen, damit wir bessere Übersicht haben. Falland, Sie organisieren die Sache!«



»Jawohl, Herr Leutnant!«



»So, das wäre das.« Leutnant Pardow sprach jetzt leiser, nur zu den Ausbildern gerichtet, die ihn im Halbkreis umstanden. »Wir fangen jetzt mit der Grundausbildung an. Erst zehn Minuten Anzugsdurchsicht; dann Wendungen. Genau auf die einzelnen Zeiten achten, die Leute einzeln vornehmen. Dazu die Gruppen teilen. Zeit: Fünfundvierzig Minuten. So, anfangen, Reith und Falland zu mir!«



Die Gruppenführer und Stellvertreter liefen zu ihren Leuten. Unteroffizier Köhler übergab die letzten fünf dem Obergefreiten Hafer. Er selbst wollte die Gelegenheit benutzen, seine Leute einmal kennenzulernen.



»Wenn ich vor einen von Ihnen hintrete, steht er still und nennt seinen Namen!« Köhler ging auf den Flügelmann zu, sah ihn scharf an, beobachtend, lauernd.



Zack! »Walther Uhlig.«



Köhler feixte ein bißchen. »Ihr Vorname interessiert beim Militär überhaupt nicht. Da können Sie Felix oder Fürchtegott oder sonstwie heißen, das ist völlig piepe. Wie heißen Sie?« »Uhlig.«



»Unteroffizier Uhlig? Major Uhlig? General Uhlig?« »Grenadier Uhlig.«



Köhler ließ eine kleine, drohende Pause entstehen. Dann schnauzte er wieder:



»Mit wem reden Sie eigentlich? Reden Sie vielleicht mit mir, was?«



»Jawohl, Herr Unteroffizier!«



»Aha, Sie lernen das wohl langsam! Wie heißen Sie?«



»Grenadier Uhlig, Herr Unteroffizier.«



»Na, also, warum nicht gleich.« Köhler kniff die Augen zusammen. Er sammelte etwas Speichel in der Mundhöhle und feuchtete mit der Zunge den vom ewigen Brüllen trockenen Gaumen an. Es war scheußlich, seit vier Monaten, seitdem er als Rekrutenausbilder tätig war, war er ununterbrochen heiser.



»Ihr Beruf?«



»Schüler.«



Köhler brüllte jetzt so laut er konnte und wurde rot vor Anstrengung: »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, was? Ich habe Sie gefragt, haben Sie das gar nicht gemerkt? Passen Sie auf, wenn ich Ihnen auf die Ohren trete, daß Sie rumlaufen wie’n Dackel! – Ihr Beruf?«



»Schüler, Herr Unteroffizier.«



Läßt sich nicht einschüchtern, dachte Köhler. Den Uhlig schien das Gebrüll gar nicht zu beeindrucken; und das war allerhand nach vier Tagen Kommiß. Köhler bildete sich manches darauf ein, sogar alte, unendlich sture Obergefreite schon aus der Ruhe gebracht zu haben.



»Schüler? Was für Schüler?«



»Oberschüler, Herr Unteroffizier.«



»So, Oberschüler. Wie man sich anzieht, haben Sie wohl auf Ihrer Schule nicht gelernt, was? Rücken Sie mal Ihr Koppel weiter nach links!«



Köhler ließ die Augen über Uhligs Uniform streifen. »Sie melden sich heute mittag mit geputzten Patronenröhrchen bei mir!«



»Jawohl, Herr Unteroffizier!«



Mit dem werde ich Arbeit haben, dachte Köhler. Wenn sie alle so sind, werde ich mich verdammt anstrengen müssen. – Er trat einen Schritt nach rechts.



Zack! »Grenadier Guhr, Herr Unteroffizier.«



Ziehen Sie mal Ihren Stahlhelm weiter ins Gesicht! – Brust raus! Menschenskind, Sie stehen ja da wie eine schwangere Ente im neunten Monat!«



Zack! »Grenadier Gietzel, Herr Unteroffizier.«



»Wo sind Sie her?« Aus Brüx.«



Köhler schrie sofort los: »Passen Sie auf, wenn ich Ihnen den Arsch aufreiße bis zur Halskrause! Ich rede mit Ihnen! Sie schlafen wohl noch? Die ganze Gruppe rückwärts weggetreten, marsch, marsch! Volle Deckung! Sprung auf, marsch, marsch! Nennen Sie das vielleicht marsch, marsch? Achtung!«



Köhler ging mit selbstbewußten, kraftvollen Schritten auf die Gruppe zu. Er ließ seine genagelten Stiefel mit Wucht auf das Pflaster knallen. Wieder sammelte er Speichel, um dann zu dröhnen: »Ich will Ihnen mal gleich etwas sagen, meine Herrn! Nicht daß Sie denken, daß Sie jetzt gerannt sind! Das war überhaupt nichts. Wenn ich marsch, marsch sage« – er dehnte die Wörter und gab jedem einzelnen Gewicht –, »dann heißt das, dass Sie unverzüglich mit Lichtgeschwindigkeit dem Horizont zuzustreben haben! Dann sehe ich nur noch glühende Absätze und eine riesige Staubwolke. Dann steht der Brotbeutel waagerecht. So etwas Müdes wie jetzt erlebe ich nicht ein zweites Mal!«



Leutnant Pardow ging mit seinem Stellvertreter, Oberfeldwebel Reith, und dem ebenfalls seiner Abteilung zugeteilten Feldwebel Falland von einer Gruppe zur anderen. Sie waren eben bei dem kleinen Obergefreiten Schmidt gewesen und gingen nun zur zweiten Gruppe hinüber.



»Kennen Sie den Köhler?« fragte Pardow. »Nein? Der kommt von der 1. Kompanie, von Hauptmann Degen. Der Köhler hat dort aktive Offiziersbewerber ausgebildet, ist schon seit vier Monaten in Zeithain. Unheimlich zackig, große Waffenkenntnisse. Ein ganz ausgezeichneter Rekrutenausbilder. Einer der Besten vom ganzen Bataillon …«



*



Zeithain, 10. Juni 44





Liebe Eltern!







Wie bekannt, bin ich seit einer Woche Soldat. Ich habe schon einiges in dieser Zeit gelernt, vor allem warten. Gestern hat man uns geimpft, nun tut mir heute die ganze rechte Wanstseite weh. Oh Jauche! Zu essen gibt es nicht viel, aber es ist meistens nicht ganz schlecht. Nur die Bedingungen, unter denen man es zu sich nehmen muß, sind haarsträubend. Wenn es mehr zu essen gäbe, bliebe ich ganz gern hier. Dann würde ich auch noch die paar Wanzen mit in Kauf nehmen. Aber sonst macht mir die Sache ziemlich Spaß. Nur die Hitze stört ungemein.







Die Uniform ist entsetzlich. Nichts wie Flicken; ich werde mich damit niemals auf die Straße wagen können. Mein Ruf wäre dahin. In die Hemden, die man uns gegeben hat, kann ich einfach nicht rein. Ich habe immer noch mein Zivilhemd an, vor den anderen schüttelt es mich. Lauter Löcher und so schrecklich unsauber. Schickt mir bitte sofort Hemden und lange (bei der Hitze!) Unterhosen. Unter den rauhen Hosen muß man die tragen. Socken haben wir gar keine bekommen, nur sechs elende Fetzen, die Fußlappen heißen. Es ist sehr







übel um die Bekleidung bestellt; nach bald fünf Jahren Krieg wird eben alles langsam alle. Schickt Socken! Und Zigaretten!







Mein Obergefreiter ist ein blöder Hund: Ich muß zehnmal schreiben: »Ich bin ein unverschämter Kerl, weil, wenn mein Vorgesetzter neben mir geht, daß ich da laut scheiße.«







Herzliche Grüße!







Euer Walther





Uhlig legte den Bleistift weg und widmete s