Der Geschmack von Erleuchtung und Bratkartoffeln

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Der Geschmack von Erleuchtung und Bratkartoffeln
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EMA ENGERER

der geschmack von erleuchtung und bratkartoffeln

roman


Die Geschichte vom Holzpferd auf Seite 159 f. stammt aus: H. Spaemann, „Das Holzpferd oder Schritte zur Wirklichkeit“. Kösel, München 1982. Aus dem Kinderbuch ›The Velveteen Rabbit‹, Margery Williams, New York 1922.

Der Prolog auf den Seiten 9 bis 10 ist mit freundlicher Genehmigung von Chögyal Namkhai Norbu frei übersetzt aus: „Dream Yoga and the Practice of Natural Light“, 2002, Snow Lion, S. 95 ff.

Personen und Handlungen des Romans sind frei erfunden.

Dr. Ema Engerer studierte Diplom-Psychologie, Psychiatrie und Philosophie und befasst sich seit früher Jugend mit den Weltreligionen und Fragen zum Leben und seinem Sinn. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet sie als Psychotherapeutin mit Jugendlichen und Erwachsenen. In ihrer freien Zeit schreibt sie oder reist durch die Welt.

Windpferd Taschenbuch Originalausgabe

10083

1. Auflage 2014

© 2014 by Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagkonzeption: Guter Punkt, München

Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald

Covermotive © Foto Mexiko, Hintergrund © John Coletti/Getty Images; Ornament © juliasneg/Fotolia.com

Korrektorat: Liselotte Kafka

Layout: Marx Grafik & ArtWork

Gesetzt aus der Adobe Garamond

ISBN 978-3-86410-083-3

eISBN 978-3-86410-316-2

www.windpferd.de

Ein kleines Lied! Wie geht’s nur an,

Dass man so lieb es haben kann,

Was liegt darin? Erzähle!

Es liegt darin ein wenig Klang,

Ein wenig Wohllaut und Gesang

Und eine ganze Seele.

Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916)

Wer immer du bist! Bewegung und Licht sind eigens für dich,

Das göttliche Schiff segelt durch göttliche See für dich.

Wer immer du bist! Du bist er oder sie, für die die Erde flüssig und fest ist,

Du bist er oder sie, für die Sonne und Mond am Himmel hängt,

Denn kein andrer als du bist Gegenwart und Vergangenheit,

Denn kein andrer als du bist Unsterblichkeit.

Jeder Mann für sich selbst und jedes Weib für sich selbst ist

das Wort der Gegenwart und Vergangenheit und das wahre Wort der Unsterblichkeit,

Keiner kann für den andern etwas gewinnen, – nicht einer,

Keiner kann für den andern wachsen, – nicht einer.

Walt Whitman (1819-1892), ›Grashalme‹

Für Chögyal Namkhai Norbu

– Juwel des Himmels –

in Liebe

Inhalt

Prolog

Teil 1

Teil 2

Prolog

„Als ich acht Jahre alt war, im 12. Monat des Feuer-Hund-Jahres, 1946, wurde ich von meinem Onkel mütterlicherseits, Khyentrul Rinpoche Jigdral Thubten Chökyi Gyatso, auch bekannt als Jamyang Chökyi Wangchug und Pawo Heka Lingpa, eingeladen. So reiste ich nach Derge Sulkhog Galing …

Eines Nachts während dieser Zeit hatte ich folgenden Traum: Onkel Khyentrul Rinpoche war zusammen mit seinen Schülern Yogi Kunsang Rangdrol, Togden Champa Tendar und mir. Meister und Schüler kletterten einen dicht bewaldeten Hügel voller verschiedener Pflanzenarten hinauf; nach kurzer Zeit erreichten wir ein wunderschönes, ostwärts gerichtetes Landhaus. Wir standen vor dem prächtigen Haupteingang in Form eines leuchtenden Regenbogens. Onkel Khyentrul Rinpoche sagte zu uns: »Kunkhyen Longchen Rabjampa lebt im oberen Stockwerk dieses großen Hauses, lasst uns ihn besuchen.« Wir folgten Rinpoche zur Tür dieses Hauses … Ein Mädchen mit Knochenschmuck näherte sich uns. Auf seinem Herzen trug es einen klaren, polierten, daumengroßen silbernen Spiegel, in dessen Zentrum sich ca als ein goldener symbolischer Buchstabe befand. Sie bat Onkel Rinpoche, sich auf den Platz vor einem großen Thigle-Zelt zu setzen, und Onkel Rinpoche setzte sich. Ich begleitete ihn und setzte mich zu seiner Linken Glücklich lächelnd sang der Yogi die wirklich wunderbare Melodie des Vajra-Liedes e ma ki ri ki ri. Er sang langsam und mit einer feinen weichen Stimme und jeder im Raum stimmte mit melodiöser Stimme in den Gesang ein bis zum Ende: ra ra ra.

Während dieser Zeit war ich frei von Gedanken wie ein neugeborenes Kind, wie ein Stummer, der nicht sprechen kann. Mein Körper zitterte und pulsierte etwas. Ich befand mich in einem Zustand von hadewa – unmittelbarem Gewahrsein – und es war unmöglich, meine Gefühle zu beschreiben. Jedes folgende ra des ra ra ra am Ende des Liedes wurde von der ganzen Versammlung einstimmig immer lauter und lauter gesungen, und das letzte ra wurde kraftvoller gesungen als das Röhren von 1000 Donnerschlägen. Mit diesem Eindruck erwachte ich. Das war das erste Mal, dass ich das Vajra-Lied hörte. Seither erinnerte ich es klar. Das Lied entsteht immer wieder klar in meinem Geist und manchmal höre ich spontan seine wunderschöne Melodie.“

Chögyal Namkhai Norbu

Teil 1

In der Neumondnacht saß Amai auf dem sonnengetränkten Sand, lauschte dem Rauschen des Meeres und zählte die Sternschnuppen. Zog eine Sternschnuppe ihren leuchtenden Weg durch den weiten Himmel, wünschte sie sich etwas. Der größte Wunsch kam aus der Tiefe ihres Herzens und galt der Erfüllung vollkommener Liebe. Der zweite Wunsch war der Großmutter, den unbekannten Eltern und Ahnen gewidmet, der dritte ein stummes Gebet, das alle noch ungedachten Wünsche in sich vereinte. Doch gab es Nächte wie diese, in denen der Himmel ein Fest zu feiern schien und sich Sternschnuppen wie flüssiges Gold in das Dunkel des Himmels ergossen. Als abermals eine Sternschnuppe ihren Lichtschweif in den Himmel malte, bat Amai darum, ihren Weg in der Welt zu finden, und bei der fünften um den Einklang ihres Lebens mit der Natur und der darin verborgenen Kraft, so wie es die Großmutter vorgelebt hatte. Der nächste Wunsch galt einem Gefährten und einer gemeinsamen Liebe. Den siebten schließlich widmete sie der ganzen Welt, damit die Kriege, von denen sie gehört hatte, ein Ende fänden und Friede einzöge in die Herzen der Menschen.

Unter diesem herbstlichen Himmel voller Glück verheißender Sternschnuppen fühlte sich Amai getröstet und beschützt, obwohl sie wusste, dass der regenreiche Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ. Unzählige Male war sie mit der Großmutter in der versteckten Bucht gewesen.

Amai seufzte und sog tief die salzige Luft ein. Seit Großmutters Tod überfiel sie immer wieder eine unaussprechliche Einsamkeit. Sie war unschlüssig, was sie machen und wohin sie gehen sollte. Großmutter war der Mensch gewesen, der ihrem Leben Halt und Sinn gegeben hatte. Mit ihr hatte sie tagein tagaus Kräuter, Beeren und Pilze gesammelt, im Wald und auf Wiesen, von Baumrinden und am Flussufer. Elia hatte sie auch gelehrt, mit den schweigsamen Bäumen zu sprechen. Viele Jahre hatte sie mit Großmutter die Kranken besucht und zugesehen, wie sie aus sorgsam ausgewählten Pflanzen einen heilenden Tee oder Wurzelsud kochte, ihnen gute Worte zusprach, sie tröstete. Amai war auch dabei gewesen, wenn sich Menschenleben ihrem Ende zuneigten. Dann wohnte sie den Ritualen bei, die die Großmutter ausführte, um ihnen den Übergang zu erleichtern. Alle vertrauten der alten Kräuterfrau mit dem gütigen, zerfurchten Gesicht, die den Menschen zuhörte und für sie so da war, als gäbe es keinen anderen Menschen auf der Welt.

Die Großmutter saß in ihrem Lehnstuhl, als sie an einem kühlen Winterabend im Juli vor fast zwei Jahren mit leiser Stimme davon sprach, dass sie sich bald von dieser Erde verabschieden werde. Amai war erschrocken von ihrem Stuhl aufgesprungen und hatte Elias zerbrechliche Hand ergriffen. Mit aller Kraft hatte sie versucht, ihr diese Gedanken auszureden. Elia jedoch hatte ihre Enkelin mit grenzenlosem Mitgefühl betrachtet und sie dann nahe zu sich herangezogen.

»Mein Kind, Leben und Sterben gehören zusammen wie der Tag und die Nacht. Wenn die Zeit gekommen ist, beginnt eine neue Seinsweise. Es gibt viele Welten, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen können, die aber trotzdem existieren. Ich freue mich, bald in eine andere Wirklichkeit einzutreten. Ich war gerne auf dieser Erde und habe glücklich gelebt. Ich bin dankbar, dass ich so lange mit dir zusammen sein und dir mein Wissen weitergeben durfte. Du weißt noch nicht, was du alles in deinen Händen trägst, doch hab keine Sorge, du wirst auf deinem Weg behütet sein. Nimm dich nur in Acht vor Gleichgültigkeit und Gier, sowohl in deinem eigenen Herzen als auch bei anderen. Und, mein geliebtes Kind, lass niemals zu, dass dein Herz von Furcht und Sorge verschlossen wird. Lausche, wann immer möglich, seiner Stimme. Wenn sie doch einmal verstummen sollte, forsche beharrlich nach dem Grund.«

 

Elia hielt inne und öffnete den Deckel eines silbernen Kästchens, das sie aus den Falten ihres Gewandes gezogen hatte.

»Ich möchte dir das Zeichen geben, das mich mein Leben lang begleitet hat und die Verbindung zu unserer Ahnenfamilie in sich trägt. Amai, Liebstes, bewahre dieses Zeichen als Symbol unserer fortwährenden Verbindung. Auch wenn du mich nicht mehr mit deinen menschlichen Augen siehst, werde ich dir dadurch immer nahe sein. Unter dem Schutz des Zeichens stehst du in der Ahnenreihe unserer Vorfahren, die sich auf den Weg gemacht haben und ihrem Stern gefolgt sind. Deine Suche wird nicht immer leicht sein, da sie für jeden anders ist und ausgetretene Pfade verlassen werden müssen. Auch Zweifel und Ängste werden dir begegnen. Wachse daran, lass neue Fragen zu und gehe immer weiter. Amai, du bist ein Mädchen voller Kraft und Hoffnungen. Du wirst zu einer Frau heranwachsen, die die Liebe zwischen Mann und Frau kennenlernt, und du wirst daran reifen. Mögest du aus deiner Stärke heraus der Welt und ihren immer neuen Gesichtern begegnen. Doch auch du trägst die Sehnsucht nach dem Größeren in dir, wie ich in den vergangenen Jahren bemerkt habe. Dies hat mir unermessliche Freude bereitet, da du eine von uns bist. Sie wird dir keine Ruhe lassen, die große Frage. Sie wird dich suchen und treiben und deinen inneren Frieden erschüttern, um dich zu formen und zu dem zu machen, wozu du geboren wurdest. Jeder Mensch hat seine besondere Aufgabe auf diese Erde mitgebracht und du musst die deine finden und dich ihr ganz anheim geben. Trage das Symbol auf deiner Brust, nahe deinem Herzen, es wird dich führen. Es vereint das Wissen unserer Vorfahren in sich.

Jeder Mensch hat seine eigene Ahnenlinie und wird in eine Reihe von Menschen hineingeboren, die ähnliche Aufgaben erfüllen. Von nun an trägst du unser Wissen weiter, auch wenn du dafür erst deinen eigenen Ausdruck finden musst. Dem persönlichen Weg wirklich zu folgen bedeutet leider manchmal auch, von anderen nicht verstanden zu werden und sich einsam zu fühlen. Dennoch wird da ein Drängen in dir sein, das sich durch die Gewohnheiten des alltäglichen Lebens hindurch unermüdlich einen Weg bahnen wird und dich weitertreibt, hinein in deine tiefste Mitte.

Immer, wenn du das Lied singen wirst, das ich dich gelehrt habe, wirst du nicht alleine sein. Unsichtbare Welten werden sich auftun; und eines Tages, wenn du in der Lage bist, deinen Blick in diese Welten zu richten, wirst du erkennen, dass du die ganze Zeit über begleitet worden bist. Amai, zuletzt möchte ich dir noch sagen, wie wichtig es ist, Vertrauen zu bewahren, auch wenn die Welt über dir zusammenstürzen sollte, denn Vertrauen wird deine Seele aufs Neue den Weg finden lassen, wenn du ihn vielleicht einmal aus den Augen verloren haben solltest. Das Geheimnis des Vertrauens ist es, das dir im Leben immer wieder eine Tür öffnen wird, denn es macht dein Herz weit und führt dich unmittelbar in das innerste Wesen wirklichen Seins.«

Elia nahm eine kristallene Kette mit einem daumennagelgroßen, runden Anhänger aus der Schatulle und legte sie ihrer Enkelin um den Hals. Die blauen Steine schimmerten wie klares Wasser.

Wenige Tage, nachdem die Großmutter so zu ihr gesprochen hatte, hatte sie ihre Augen für immer geschlossen. An jenem Spätnachmittag saß sie, gestützt von mehreren Kissen, aufrecht im Bett und bewegte lautlos ihre Lippen. Das milchige Winterlicht wärmte ihr liebes Gesicht.

»Nun singe du weiter, Amai«, flüsterte sie nach einer langen Zeit des Schweigens. Ihr Blick ruhte auf der Enkelin, die es sich auf der Bank am Kamin bequem gemacht hatte: »Trage unser Lied in die Welt. Ich verlasse meinen Körper, doch meine Liebe wird immer bei dir sein.«

Von einer unbekannten Kraft ergriffen stimmte Amai das Lied an, das die Großmutter sie schon vor vielen Jahren gelehrt hatte, in den Worten, die sie nicht verstand, doch mit der Melodie, die ihr so vertraut war. Sie konnte ihre Augen nicht von der alten Frau abwenden, die förmlich leuchtete. Tränen liefen über ihr junges Gesicht, trotzdem sang sie mit klarer Stimme unablässig weiter. Frieden und Ehrfurcht erfüllten das Zimmer. Nach einer langen Weile hatte die Großmutter aufgehört zu atmen. In Achtsamkeit war sie aus dem Leben gegangen und hatte still ihren Körper verlassen. Das Angesicht des Todes hatte sich milde gezeigt und voller Liebe.

Seither schien Amais Leben eine neue, unbekannte Richtung einschlagen zu wollen. Nachts schlief sie unruhig, erwachte häufig und erinnerte sich bruchstückhaft an Träume von fremden Menschen und Ländern. Tagsüber sammelte sie fleißig Kräuter, legte sie zum Trocknen aus und verkaufte sie auf dem Markt. Aber wenn sie abends heimkehrte und allein über ihrem Abendessen saß, spürte sie einen zunehmenden Mangel in ihrem Leben. Da war oft ein Drängen in ihrer Brust, das sie zu rufen schien …

Vor wenigen Tagen war ihr in der nahen Stadt Concepción eine ältere Frau in bunten Röcken begegnet, von der die Stadtmenschen zu erzählen wussten, sie käme aus einem fernen Land, ziehe herum und heile viele Menschen. Diese Frau war zu ihren Körben gekommen, hatte die reiche Auswahl gelobt und einige seltene Heilpflanzen ausgewählt. Als Amai scheu fragte, ob sie ihr einen Rat geben könne, lächelte die Frau unergründlich, und zahllose Fältchen umspielten dabei wie kleine Sonnen ihre braunen Augen. Mit einem fremden, weichen Klang in ihrer Stimme erwiderte sie, für einen Ratschlag sei es noch zu früh, zuerst müsse sie in die Welt hinausgehen, und alles, was sie dafür zu wissen benötige, trage sie schon in ihrem Herzen. Und gäbe es dann noch etwas, was bedeutsam wäre, würde sie es ihr gerne weitergeben.

Amai war erstaunt bei ihren Körben zurückgeblieben, als sich die fremde Frau freundlich grüßend wieder entfernte.

Unter dem funkelnden Sternenhimmel schaute Amai aufs Meer hinaus und strich nachdenklich ein paar Locken aus dem Gesicht, die sich aus ihrem dicken Zopf gelöst hatten. Ihre schlanke, wohlgeformte Gestalt erregte zwar die Aufmerksamkeit der jungen Männer, doch im nahen Dorf war sie trotzdem eine Außenseiterin geblieben, die mit der Großmutter am Waldrand lebte und sich bislang eher selten dem Treiben der Dorfjugend angeschlossen hatte. Ungewollt wirkte sie auf das andere Geschlecht unnahbar, wenngleich ihr Blick offen war und das Lachen ihrer Augen zuweilen mehr verriet als ihr fein geschwungener Mund, den manchmal eine für ihr Alter unerwartete Ernsthaftigkeit überzog.

Amai war verzagt. So allein wie in den vergangenen Monaten hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt, auch wenn sich bisweilen ein junger Mann vorsichtig um sie bemühte. Bisher hatte keiner vermocht, ihre Liebe zu gewinnen. Nach vereinzelten Tanzabenden mit fragenden Küssen und zögerlichen Zärtlichkeiten hatte sich Amai immer wieder zurückgezogen. Doch manchmal sehnte sie sich so sehr nach einem vertrauten Menschen, mit dem sie ihre Gefühle teilen konnte, dass es fast schmerzte.

Trotzdem war ihr Leben voller Ereignisse. Die Menschen hatten begonnen, Rat und Hilfe bei ihr zu suchen, ahnten sie doch, dass Amai von der klugen alten Kräuterfrau viele Geheimnisse des Heilens gelernt hatte. So hatten sie auch Zutrauen zu ihrer Enkelin gefasst und Amai gab ihr reiches Pflanzenwissen gerne weiter. Die Großmutter hatte sie gelehrt, Heilkräuter nur zur rechten Zeit und am richtigen Ort zu sammeln und sie immer mit Achtung und Respekt aus der Erde zu bergen. So hatte sie es sich angewöhnt, ein kurzes Zwiegespräch mit den Pflanzen zu führen, ehe sie diese brach oder vorsichtig die knolligen Wurzeln ausgrub, und nie versäumte sie, Mutter Erde für ihre überfließenden Gaben zu danken. Elia betonte immer, alles in der Welt habe seinen eigenen Lebensrhythmus und werde von der gleichermaßen schwingenden Bewegung des Gegenübers entweder angezogen oder abgestoßen. Wenn sie fühle, dass die Kraft einer Pflanze zu einem Körper hingezogen werde, so sei dies die richtige Pflanze für seine Heilung und könne einen aufgetretenen Mangel ausgleichen. Das Leben sei ein Tanz, alles sei in fortwährender Bewegung miteinander verbunden. Wenn irgendwo eine Verbindung abreiße, werde der Fluss der Bewegungen unterbrochen und nach längerem Stillstand könne sich dort eine Krankheit festsetzen.

Der Baum, in dessen Nähe Amai in dieser Nacht saß, war ihr ein treuer Freund geworden. Hier in der Bucht konnte sie bei ihm sitzen und lesen, mit ihm sprechen, an ihm weinen und seine Nähe spüren. Beschützend wie eine Mutter breitete die Araukarie ihre ausladenden Zweige über sie und schenkte ihr seltsamen Trost und Frieden. Zärtlich zeichnete Amai mit ihren Fingern die Furchen nach, die die harte Rinde durchzogen. In dieser Nacht saß sie noch lange unter dem alten Baum und ließ ihren Blick über das Meer schweifen.

›Es ist schon merkwürdig‹, überlegte sie, ›dass ich Gedanken und Empfindungen habe, die wahrscheinlich Tausende, ja Millionen anderer Menschen ähnlich denken und fühlen, dass ich dieselben Worte spreche, die gleichen Wünsche und Ängste habe wie sie. Was wollen wir hier auf dieser Erde zusammen lernen? Und was bedeutet es, wirklich zu sein?‹

So lauschte sie noch lange in die Stille der Nacht hinein. Als der Morgen dämmerte und nur noch wenige Sterne am Himmel funkelten, hatte sie den Entschluss gefasst, in die Welt hinauszugehen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergäbe.

Behutsam tastete sie nach dem Anhänger der Großmutter an ihrem Hals, in den ein winziges Zeichen wie eine Art Hieroglyphe eingeritzt war. Wenn sie morgens die hellblau schimmernde Kette um den Hals legte, war ihr, als ob sie einer lieb gewonnenen Freundin begegnete. Die Kette war eine treue Begleiterin in ihrem manchmal so einsamen Leben geworden, auch wenn sich ihr das Geheimnis der kristallenen Steine und des rätselhaften Anhängers erst sehr viel später erschließen sollte.

In den folgenden Wochen nahm sich Amai öfters freie Zeit zum Nachsinnen und Kräftesammeln, zumal es in diesem Herbst mehr als üblich regnete. Sie verstand sich aufs Heilen und gewann darin zunehmend an Sicherheit, trotzdem fühlte sie sich nach ihrem Tagwerk häufig kraftlos und leer. Dann fragte sie sich, ob dies die normale Befindlichkeit einer Heilerin sei oder ob es wohl möglich wäre, sich nach getaner Arbeit trotzdem frisch zu fühlen. Auch gab es Menschen, die ihr ihre Gabe neideten, sich über sie lustig machten oder sie herabwürdigten. So hatte sie gelernt, sich nicht zur Schau zu stellen. Die Zeit verging und sie fühlte sich immer verlorener.

Drei Monate später, als sich langsam das Ende des feuchten Winters im September abzeichnete, entschloss sich Amai endlich, die Hinterlassenschaften der Großmutter zu ordnen, eine unangenehme Aufgabe, die sie vor sich hergeschoben hatte. Schürzen und Kleider in Elias Schrank schnürte sie zu einem Bündel, die Wäsche legte sie sorgsam in eine Schachtel. Sie arbeitete zügig, die Brust schwer von Trauer, als sie plötzlich in einer Schrankecke auf ein Holzkästchen stieß. Unschlüssig drehte sie es in den Händen, bis sie sich endlich entschloss, es zu öffnen. Unter dem mit bunten Intarsien verzierten Deckel entdeckte sie ein gutes Dutzend Briefe. Einen nach dem anderen zog sie aus den verblichenen Umschlägen und erkannte ungläubig die fein geschwungenen, sorgfältig gesetzten Schriftzeichen auf dem vergilbten Briefpapier. Eine Welle vergessener Kindheitserinnerungen überschwemmte sie und Wehmut ergriff ihr Herz. Was sie so unverhofft gefunden hatte, waren die Briefe eines engen Vertrauten ihrer Großmutter, der sie vor vielen Jahren gelegentlich besucht hatte: Meister Dorje. Er hatte Elia geduldig auf Fragen zu Krankheiten und Heilpflanzen geantwortet und sie zu manchen persönlichen Angelegenheiten und Sorgen beraten, mit denen sie sich vertrauensvoll an ihn gewandt hatte. Ein tiefes Verständnis der Welt sprach aus seinen Worten. Ob er wohl noch lebte?

Als sich Amai wenig später die Gelegenheit bot, in den bergigen Süden des Landes zu reisen, zögerte sie nicht lange. Sie verabschiedete sich von den Menschen mit dem Versprechen, wiederzukommen, obwohl sie nicht wusste, wann dies sein würde. Am Morgen der Abreise flocht sie ihre braunen Haare und packte einige Reiseutensilien wie einen regenfesten Mantel in einen ledernen Beutel. Ein letztes Mal sah sie sich in dem Haus ihrer Kindheit um und zog dann hinter sich die Tür zu. Die längste Wegstrecke fuhr sie in einem mit Menschen und Gepäck überladenen Bus. Sie betrachtete die vorbeiziehenden Landschaften. Chile war ein prächtiges Land mit hohen Bergen und Tälern und dem Meer, das sie so liebte. Das Land ihrer Mütter und Väter, in dem unterschiedliche Kulturen gelernt hatten, friedlich miteinander zu leben. Nachdem sie das letzte Stück des Weges im Gefährt eines Bauern zurückgelegt hatte, erreichte sie am frühen Abend das vergessene Dorf, umgeben von Wald und Bergen. Als Kind hatte sie mit der Großmutter ab und zu die beschwerliche Reise unternommen, um Meister Dorje zu besuchen. Hinter einem zerfallenen Kirchlein entdeckte sie den kurvenreichen, steil ansteigenden Pfad und nach einer Stunde zügigen Gehens endete der Weg auf einer Lichtung. Dort stand vor ihr das ehemalige Klostergebäude, das sie früher scherzhaft »die Burg« genannt hatte.

 

Ein Löwengesicht aus Messing war an der Holzpforte des wuchtigen Gemäuers angebracht; Amai hob den Ring und ließ ihn gegen das Klopfschild fallen.

»Guten Abend! Gewährt mir bitte eine Bleibe zur Nacht! Ich heiße Amai und komme, um Vater Dorje zu besuchen«, antwortete sie auf die Frage einer weiblichen Stimme innerhalb der Mauern.

Das Tor schwang ächzend auf und eine Frau lud sie ein: »Tritt ein, Mädchen, und sei willkommen. Auch vom Abendbrot ist noch etwas übrig.«

Später, unter der Bettdecke des Gastzimmers, dachte Amai an Meister Dorje, der auch ihre eigenen Kinderfragen stets voller Güte beantwortet hatte. Hatte er sie aber mit seinen dunklen Augen nur lange und durchdringend angeschaut, war er ihr bisweilen auch etwas unheimlich gewesen. Dann schien sein Blick durch sie hindurch in weite Ferne zu gleiten. Während der seltenen Besuche hatte er ihr vieles erklärt; sie wiederum hatte begierig zugehört, wenn er und die Großmutter über die Heilkräfte von Pflanzen und Bäumen sprachen. Auch zu Meister Dorje kamen Menschen mit ihren Anliegen und baten um Heilung. Von den Dorfbewohnern am Fuß des Berges waren über ihn wundersame Geschichten erzählt worden, denen sie als Kind staunend gelauscht hatte. Amais Herz war voller Freude, dem einzigen Vertrauten ihrer Vergangenheit wieder zu begegnen.

Die Frau, die ihr bereits am Vorabend die Pforte geöffnet hatte, brachte sie nach dem Frühstück zu Meister Dorjes Arbeitszimmer. Als er auf ihr vorsichtiges Klopfen hin öffnete, stand Amai mit leuchtenden Augen vor ihm.

Dorje betrachtete das Mädchen, das da so erwartungsvoll vor ihm im Morgenlicht stand.

»Meine kleine Amai, wie schön, dass dich dein Weg wieder einmal zu mir führt! Komm herein und nimm mit mir Platz am Kamin. Wie verlief dein Leben in den letzten Jahren?«

Amai setzte sich in einen der großen, abgewetzten Ledersessel am Holzofen, in dem das Feuer warm und freundlich knisterte, und legte sich die Kissen zurecht. Ihre Blicke trafen sich und ruhten einen Moment ineinander. Der weise Mann, der einst aus dem fernen Himalaja in ihr Land gekommen war, hatte sich über die Jahre kaum verändert, schien ohne Alter, das wache Gesicht mit den ausgeprägten Wangenknochen und der hohen Stirn, das weiße Haar zu einem langen, dünnen Zopf gebunden, die braunen Augen voll tiefer Ruhe; und doch konnten sie unvermutet aufblitzen und förmlich in ihre Seele eintauchen. Manchmal erinnerte er sie an eine reglose Echse auf einem von der Sonne gewärmten Stein.

›Väterchen, wie habe ich dich vermisst!‹, dachte Amai bei sich und berichtete ausführlich vom friedvollen Tod Elias, ihrem Leben mit den Pflanzen, dem merkwürdigen Gespräch mit der Kräuterfrau in der Stadt und von dem Drängen und Ziehen in ihrer Brust, das in den vergangenen Wochen zu einer beständigen inneren Empfindung geworden war, und von den alten Briefen des Meisters in Elias Schrank.

»Und nun bin ich hier!«, schloss sie und fühlte sich nach langer Zeit nicht mehr ganz alleine auf der Welt.

Dorje versank in Schweigen und rieb sich das Kinn. Dann erhob er sich und legte einige Holzscheite ins Feuer.

»Amai«, begann er ernst, »du bist nun kein Kind mehr und hast seit Elias Tod mutig deinen Weg gesucht. Du hast angefangen, die Zeichen zu lesen. Und du bist zu einer jungen Frau herangewachsen, deren Herz ein tiefes Sehnen in sich trägt.«

Er hielt inne und betrachtete das Mädchen im Sessel.

»Ich möchte dir etwas erzählen, was das sorgsam gehütete Geheimnis deiner Großmutter gewesen ist. Bist du dafür bereit?«

Amai nickte überrascht.

»Hast du dich nie gefragt, wo deine Großmutter Elia all ihr Wissen über die Heilkunst erlernt hat? Warum sie den Lauf der Sterne beobachten, die Eigenarten der Pflanzen unterscheiden und auf die Bäume hören konnte? Und vor allem, warum sie die Herzen der Menschen verstehen konnte? All das Ungesagte, Verborgene, zu dem sie Zugang fand, weil die Menschen ihr vertrauten?«

Als Amai ihn so über die Großmutter sprechen hörte, wurde es warm in ihrer Brust. Natürlich hatte sie sich früher manchmal gefragt, warum die Großmutter so vieles wusste, von dem die meisten Menschen noch nicht einmal gehört hatten. Elia hatte auf ihre Fragen zumeist ausweichend geantwortet. Und irgendwann waren das Wissen und die besondere Welt, in der sie mit Elia lebte, für Amai so selbstverständlich geworden, dass sie aufhörte, sich darüber Gedanken zu machen.

Dorje fuhr mit seiner tiefen, bedächtigen Stimme fort: »Ich kannte Elia mehr als dreißig Jahre. Genau wie du kam sie eines Tages zu uns, mit dem Hunger nach Wissen, aber auch, um mehr als die äußere Welt kennenzulernen. Du musst wissen, dies ist kein gewöhnliches Kloster, sondern eine Schule für das wirkliche Leben. Hier leben Frauen und Männer zusammen, was allein schon ungewöhnlich ist. Sie lernen und studieren gemeinsam und widmen sich der Erforschung ihres inneren Wesenskerns. Wir suchen mehr als den äußeren Schein. Wir sind auf der Suche nach dem verborgenen Sinn des Lebens auf dieser Erde. Jeder trägt eine Flamme in seinem Herzen, die es zu bewahren und zu nähren gilt. Obwohl wir eine Zeitlang hier leben und arbeiten, gehen die meisten von uns irgendwann wieder in die Welt hinaus, um dort ihrem persönlichen Weg zu folgen.«

Des Meisters Blick ruhte lange auf dem Mädchen und Amai hielt ihm fragend stand. Im Kamin prasselte das Feuer. Sie ahnte, dass sich ihr Leben bald von Grund auf verändern würde – und es fühlte sich richtig an.

»Möchtest du für eine Weile bei uns bleiben und mit uns lernen?«

Ihr Herz lächelte.

»Ja, Vater Dorje, das möchte ich mit all meiner Kraft. Dies wäre auch Großmutters Wunsch gewesen, aber den Weg hierher musste ich wohl selber finden. Ich wusste nicht, dass auch sie einst auf diesem Berg gelebt hat. Nun ergibt vieles einen Sinn.«

»Dann fühle dich willkommen, Amai. Folge mir jetzt, ich zeige dir dein neues Zuhause.«

Dorje stand auf und Amai staunte, wie mühelos sich der alte Mann aus dem Sessel erhob.

Durch lange Gänge führte sie der Meister ins Innere des Gebäudes. Unterwegs begegneten ihnen Menschen, die sie mit einem freundlichen Nicken grüßten. In einem Hof unter zwei uralten Bäumen befand sich eine Gruppe von Frauen und Männern in weiten, fließenden Gewändern, die Amais Aufmerksamkeit erregte. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Jeder in der Gruppe bewegte sich in gleichmäßigem Rhythmus, ohne dass sie einander berührten. Alles geschah in absoluter Stille. Es waren schlichte, gesammelte Bewegungen, auch wenn Arme, Beine und Kopf manchmal etwas gänzlich Entgegengesetztes ausführten, ein lautloser, anmutiger Tanz. Die Tanzenden schienen ganz bei sich und gleichzeitig in völliger Harmonie mit den übrigen Tänzern. Als Amai sich an Vater Dorje erinnerte und sich zu ihm wandte, lächelte er.

»Der Körper ist die Wohnstatt für Gefühl, Geist und Bewusstsein. Fließt die Energie in unserem Körper harmonisch, dann gelingen auch innere Sammlung und Konzentration leichter.«

Amai bemerkte andere Menschen im Hof, die, jeder für sich, besondere Haltungen eingenommen hatten. In der Mitte des Platzes sprudelte Wasser aus einem mit Efeu überwucherten Brunnen. Mit einer sachten Handbewegung bedeutete ihr Vater Dorje, ihm zu folgen, und sie betraten durch eine bogenförmige, hohe Tür eine Bibliothek, in der Frauen und Männer über Büchern saßen.

Eine der Frauen sprang auf, als sie die Eintretenden erkannte, und näherte sich ihnen voller Erstaunen mit offenen Armen.

»Wie ich mich freue, dich endlich wiederzusehen, Amai! Wir sind uns begegnet, als du acht Jahre alt warst. Ich war eine Zeitlang Gast in eurem Haus. Erinnerst du dich? Mein Name ist Raquel.«

Amais Augen weiteten sich vor Überraschung. Natürlich erinnerte sie sich an die jüngere Freundin der Großmutter, der sich Elia zeitlebens so herzlich verbunden gefühlt hatte! Also lebte auch sie in dieser Gemeinschaft von Suchenden! Raquel schloss Amai in die Arme.