Generationenkonflikt und Gedächtnistradierung: Die Aufarbeitung des Holocaust in der polnischen Erzählprosa des 21. Jahrhunderts

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Generationenkonflikt und Gedächtnistradierung: Die Aufarbeitung des Holocaust in der polnischen Erzählprosa des 21. Jahrhunderts
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ibidem-Verlag, Stuttgart

Vorbemerkung des Reihenherausgebers

Mit Elisa-Maria Hiemers Studie über den Holocaust in Werken der aktuellen polnischen Erzählprosa startet unsere neue Buchreihe, die der gegenwärtigen Forschung zu den Literaturen und Kulturen Mittel- und Osteuropas Raum geben will. Neben Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstigen Monographien und thematischen Sammelbänden sollen – wie im vorliegenden Falle – auch hervorragende Masterarbeiten aufgenommen werden, da deren hohe fachliche Kompetenz der wissenschaftlichen Öffentlichkeit leider oft vorenthalten bleibt. Dem räumlich-regionalen Konzept wurde vor einem rein philologischen, z.B. slavistischen, der Vorrang gegeben, um den zahlreichen Verflechtungen, durch welche die Literaturen und Kulturen Ostmittel-, Südost- und Osteuropas sowie des deutschsprachigen Raums geprägt sind, besser entsprechen zu können. Gerade diese vielfältigen wechselseitigen Kontakte, Überschneidungen und Beeinflussungen sollen einen der wesentlichen Impulse für die Reihe bilden. Wie aus Elisa-Maria Hiemers Buch ersichtlich, wird der literarisch-kulturelle Umgang mit dem Holocaust einen wichtigen Themenschwerpunkt bilden, was nicht zuletzt mit unserem in den vergangenen Jahren erfolgreich entwickelten Gießener Projekt zur vergleichenden Erforschung der polnischen, tschechischen und deutschen Holocaustliteratur und -kultur zu tun hat, aus dem diverse Teilvorhaben erwachsen sind. Zu den weiteren Themengebieten, die der Reihe Profil verleihen sollen, gehören die Moderneproblematik, die Gattungsforschung sowie auch Fragen der Ästhetik und Methodologie. In diesem Sinne sind alle Interessierten herzlich eingeladen, mit innovativen und spannenden Projekten zum Erfolg der Reihe beizutragen.

Gießen, im August 2012

Reinhard Ibler

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Aufarbeitung des Holocaust in der polnischen Literatur. Ein literaturgeschichtlicher Überblick

2.1 Literatur der unmittelbaren Nachkriegsjahre

2.2Literatur und Politik: Tauwetter und der März 1968 als Zäsur

2.3 Wiederentdeckung des Themas in den 1980er Jahren

2.4 Neudefinition und ‚postmemory‘. Die Zeit nach 1989 bis zur Gegenwart

3. Zusammenfassungen der Werke und Biogramme der Autoren

3.1 Piotr Paziński – Pensjonat

3.2 Zyta Rudzka – Ślicznotka doktora Josefa

4. Analyse der Texte

4.1 Forschungsgegenstand ‚Erzählprosa‘ und Analysemuster

4.2 Pensjonat

4.2.1 Untersuchungen auf makrostilistischer Ebene

4.2.2 Untersuchungen auf mikrostilistischer Ebene

4.2.3 Autofiktionale Erzählstrategien

4.3. Ślicznotka doktora Josefa

4.3.1 Untersuchungen auf makrostilistischer Ebene

4.3.2Posttraumatische Erzählstrategien

4.4 Zwischenfazit

5. Diskurs: Antijüdische Ressentiments in Gesellschaft und Literatur

5.1 Jüdisches Leben und jüdische Kultur heute

5.2 Zur Dichotomie des jüdischen und polnischen Opfers

5.3 Geschichtsdarstellung und Erinnerungen an den Holocaust

5.4 Spiel mit Vorurteilen und antisemitischen Äußerungen

6. Forschungsthesen und Ausblick

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Holocaust als Zäsur in der Menschheitsgeschichte hat auch weit über 65 Jahre nach seiner Beendigung nichts an seinem Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen verloren: Durch die Erinnerung und die Auslegung der damaligen Ereignisse werden uns in der Gegenwart die Grundlagen für menschliches Handeln wieder verdeutlicht. Die Sicht auf die Vergangenheit fungiert also als Maßstab für gegenwärtige Entscheidungen.

Die Wiederaufnahme und Weiterführung des Themas scheint auch dem polnischen Literaturwissenschaftler Przemysław Czapliński zufolge unabdingbar, da sich die Identität einer Gesellschaft in Friedenszeiten maßgeblich daran ausmache, wie sie den Krieg deute und somit Konflikten unserer Zeit gegenüber trete.1 Daher sei gerade jetzt eine erneute, natürlich rein metaphorische, ‚Kriegserklärung‘ der jungen Werke und Autoren notwendig. Aber um Authentizität zu wahren, müssten diese nun auf die übliche, an der Kriegsrealität orientierte Darstellung verzichten und eine symbolische Front erschaffen. Czapliński formuliert es plakativ: „Już bez armat, czołgów, żółnierzy“ .2 3

Einer ähnlichen Metaphorik bedient sich der Herausgeber des erst kürzlich erschienenen Sammelbandes Wojna i postpamięć, Zygmunt Majchrowski. Zur Situation der aktuellen polnischen Literatur über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg erklärt er:

Toczy się „wojna o pamięć“, wojna o kształt obrazu wojny, ale bardziej chyba o sposób funkcjonowania pamięci, tej „niechcianej“, stabuizowanej i tej „politycznie niepoprawnej“, dyskryminacyjnej, a wreszcie – pamięci swoiście sfolkloryzowanej. W PRL-u był to glównie „swojski“ folklor zbowidowski (ZBOWiD, czyli Związek Bojowników o Wolność i Demokracje)[…] Dzisiejsze folkloryzowanie wojennej pamięci ma już charakter popkulturowy lub hobbystyczny, a to oznacza, że ślad funkcjonuje bądź jako gadżet, bądź jako kolekcjonerski fetysz.4

Die hier angedeutete Popkultur – gesellschaftliche Erscheinungen, die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen niederschlagen – kann anhand eines Auszugs aus der 2010 erschienenen Erzählung Lata walk ulicznych von Michał Zygmunt spezifiziert werden:

W podstawówce bawiliśmy się z kolegami podobnie. Rysowało się kredkami baraki, w tych barakach były kółka, które sybolizowały więźniów, gumką się to wymazywało i rysowało następnych, jak przychodziły nowe transporty. Nie było w tym żadnej agresji czy nienawiści. Nasza popkultura miała właśnie taki kształt […] Jako dzieciaki mieliśmy do dyspozycji całą wojenną mitologię. Rodzinne historie i PRL-owską rzeczywistość, żeby wymyślać zabawy. Nie ma się co dziwić, że wymyśliśmy obóz koncentracyjny.5

Die polnischen Schriftsteller stellen sich seit dem politischen Umbruch 1989 die Frage, worin die neue Realität in der künstlerischen Welt bestehe. Die Antwort scheint zum einen in den sich verändernden Marktgesetzen, zum anderen in der politischen Beteiligung der Menschen und vor allem in den sich ändernden moralischen Normen zu liegen.6 Die daran anknüpfende Frage lautetet demnach: Welche Folgen haben diese Veränderungen auf die gesamte künstlerische Landschaft Polens? Am zuletzt genannten Zitat zeigt sich, dass der Umgang mit dem Holocaust selbst Eingang in das kindliche Spiel gefunden hat und es zeichnet sich ebenso ab, dass die Tradierung des Erlebten nicht ganz frei von politischem Einfluss war. In der Tat stellt aber die in beiden Zitaten erwähnte ‚Unkorrektheit‘ ein Charakteristikum der Vergangenheitsbewältigung der jüngsten Zeit dar.

Die neue politische Freiheit gibt auch Mythendekonstruktionen und Enttabuisierungen neuen Raum. Die bewusste Auslotung der Grenzen der Zumutbarkeit kann an einem Beispiel aus der plastischen Kunst aufgezeigt werden: Zbigniew Liberas LEGO-Konzentrationslager aus dem Jahre 1996. Der Ikonoklasmus,7 also die Zerstörung und Demontage von (heiligen) Bildern, funktioniert hier im Sinne einer Fragestellung an den Rezipienten: Darf man den Holocaust mit einer derartigen Banalität darstellen? Hat das Ungewollte, Tabuisierte und politisch Unkorrekte in dieser Debatte einen Platz?

Seit der letzten umfassenden Studie zum Thema – dem von Michał Głowiński herausgegebenen Sammelband Literatura wobec wojny i okupacji aus dem Jahre 1976 – haben sich nicht nur die Forschungsfelder erweitert, sondern auch die Bewertung der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges unterlag verschiedensten Veränderungen. Diese waren meist auf die breite Wahrnehmung medialer Ereignisse zurückzuführen: Jan Błońskis Essay Biedni Polacy patrzą na getto (1987) oder Jan Tomasz Gross’ Sąsiedzi (2000) sollen hier nur als folgenreichste literarische Veröffentlichungen genannt werden.8

 

Auch im kinematographischen Bereich wurde in den letzten Jahren verstärkt historischen Stoffen Platz eingeräumt. Dabei fällt jedoch auf, dass Filme, in denen das polnisch-jüdische Verhältnis thematisiert wurde (wie Andrzej Wajdas Wielki Tydzień von 1995), weitaus weniger Resonanz fanden, als die Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus, wie im Jahr 2007 mit Katyń geschehen. Im Gegensatz zu allen anderen historischen Sujets „war die Rede über die Verbrechen des Stalinismus sowie die sowjetischen Verbrechen an Polen im Zweiten Weltkrieg sehr starker Ideologisierung unterworfen“9, sodass deren Aufarbeitung mit besonderer Aufmerksamkeit erwartet und verfolgt wurde.

Maren Röger spricht zu Recht von einer „Überfülle an Geschichte nach 1989“10, die sich in allen Bereichen künstlerischen Schaffens wieder findet: Nach einer sich zu Beginn abzeichnenden Enthistorisierung der Literatur fand das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg wieder Eingang in verschiedenste Werke, aber auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung sind in den letzten Jahren interessante Entwicklungen festzustellen. So kommt der Kindperspektive ein neuer Stellenwert im Zusammenhang mit den erfahrenen Kriegstraumata zu. Hiervon zeugen beispielsweise die Veröffentlichungen von Katarzyna Sokołowska (I dziś jestem widzem. Narracje dzieci Holokaustu, 2010) oder Justyna Kowalska-Leder (Doświadczenie zagłady z perspektywy dziecka w polskiej literaturze dokomentu, 2009). In diesen Monographien wird insbesondere der Schuldkomplex der Überlebenden thematisiert. Dem gegenüber stehen Sichtweisen jener Kinder, die den Holocaust nur aus Erzählungen der Eltern und Großeltern kennen und dann als Erwachsene – wie auch im zuvor genannten Zitat aus Lata walk ulicznych – Geschichte mit naiv-kindlicher Sicht umdeuten. In dem bereits zitierten Sammelband Wojna i postpamięć von Majchrowski aus dem Jahr 2011 liegt der Fokus der Forschung vor allem auf der Enthüllung dessen, was entweder im Sinne der Propaganda politisch vereinnahmt oder von der Erlebnisgeneration (un)bewusst verschwiegen wurde.

Nachdem der Zerfall des Ostblockes nun zwei Dekaden zurück liegt, sehen viele Literaturwissenschaftler die Zeit für ein erstes Resümee gekommen. Mit Publikationen wie Przemysław Czaplińskis Polska do wymiany. Późna nowoczesność i nasze wielkie narracje (2009) oder Kinga Dunins Czytając Polskę. Literatura polska po roku 1989 wobec dylematów nowoczesności (2004) wird aber auch der Frage auf den Grund gegangen, ob man überhaupt von einer neuen Literaturepoche sprechen kann. Beide Beispiele gehen von einer direkten Wechselwirkung zwischen Literatur und Gesellschaft aus und sprechen dabei der Literatur eine gesellschaftsgestaltende Rolle zu, gestehen aber auch ein, dass es aus literaturgeschichtlicher Sicht noch nie so schwierig war die Entwicklungen in der polnischen Literaturlandschaft zu erfassen – zu fragmentarisch, zu zerrissen und oftmals brutal in der Darstellungsweise scheint diese Phase zu sein. Das wirft auch die Frage auf, ob manche Werke aufgrund ihrer Fiktionalität nicht Gefahr laufen, ein Zerrbild der Vergangenheit darzustellen und gleichzeitig keine Worte finden, die Gegenwart zu erfassen. Diesen Sachverhalt drückt Tomasz Kunz mit seinem Aufsatztitel Rzeczywistość nieprzedstawiona albo o przeszłości pewnego złudzenia11 treffend aus.

Zur Klärung dieser und anderer Fragen werden im Rahmen dieser Studie Piotr Pazińskis Pensjonat, sein Debütwerk aus dem Jahre 2010, sowie Zyta Rudzkas 2006 erschienenes Buch Ślicznotka doktora Josefa behandelt. Es soll diskutiert werden, inwiefern diese Darstellungen es vermögen, die Realität der Gegenwart und die Fiktion der Vergangenheit miteinander zu verbinden.

Zur besseren Einordnung der Werke erfolgt zunächst ein literaturgeschichtlicher Überblick über die Perioden der Aufarbeitung des Themenkomplexes Holocaust und Zweiter Weltkrieg. Dabei sollen vor allem narratologische Veränderungen aufgezeigt werden. Aufgrund des geringen Bekanntheitsgrades der Autoren und Werke schließt sich hier eine Vorstellung der Biogramme und Zusammenfassung der Texte an. Durch ergänzende Informationen aus Rezensionen soll auf erste kontroverse Punkte in den Werken hingewiesen werden. Im Kernstück der Untersuchung, der Analyse der Texte, wird im ersten Schritt eine Untersuchung angestrebt, die textimmanente Erscheinungen fokussiert. Beide Werke verfügen jedoch über besondere, textimmanent nicht erfassbare Erzählstrategien, weshalb diesen ein Unterpunkt gewidmet wird.

Daneben bringen Ślicznotka doktora Josefa und Pensjonat in hohem Maße das Problem der antijüdischen Ressentiments zur Sprache. Im Hinblick auf die jüngsten Diskussionen um das belastete polnisch-jüdische Verhältnis erscheint es daher zur Ergänzung sinnvoll, wichtige Aspekte des Diskurses anhand literarischer Beispiele aufzuzeigen.

Zusammenfassend hat die vorliegende Studie das Ziel, eine Antwort auf die Frage zu finden wie die literarische Erinnerung an den Holocaust von der zweiten und dritten Generation weitergeführt wurde. Hierbei wird der Fokus besonders auf die Wahl der literarischen Mittel gelegt. Ebenso soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich beide Werke in die hier skizzierte Debatte um Tabubrüche und Erinnerungstradierungen einordnen lassen.

1 Czapliński, Przemysław: Polska do wymiany. Późna nowoczesność i nasze wielkie narracje. Warszawa 2009, S. 65.

2 „ohne Geschütze, Panzer, Soldaten.“ Czapliński 2009: S. 63.

3 Übersetzungen aus dem Polnischen hier und im Folgenden wo nicht anders gekenn-zeichnet: E.-M. H.

4 „Man liefert sich einen ‚Krieg über die Erinnerung‘, einen Krieg über das Bild des Krieges, aber vielleicht noch eher über die Art des Funktionierens von Erinnerung, dieser ‚ungewollten‘, tabuisierten und der ‚politisch unkorrekten‘ und letztendlich – der eigenartig folklorisierten. In der Polnischen Volksrepublik war das vor allem die ‚spezifische‘ ZBOWiD-Folklore (ZBOWiD, d.h. die Vereinigung der Kämpfer um Freiheit und Demokratie) […] Die heutige Folklorisierung der Kriegserinnerung besitzt bereits einen popkulturellen oder hobbyistischen Charakter und das bedeutet, dass deren Überbleibsel entweder als Gadget oder als Sammelfetisch funktionieren.“ Majchrowski, Zbigniew: „Ante portas.“ In: Zbigniew Majchrowski und Wojciech Owczarski (Hg.): Wojna i postpamięć. Gdańsk 2011, S. 9–13, hier S. 12.

5 „In der Grundschule spielten wir mit Freunden ähnlich. Man malte mit Kreide Baracken, in diesen Baracken waren Kreise, die die Gefangenen symbolisierten, mit Kaugummi wurde das wegradiert und die nächsten gezeichnet, wenn neue Transporte ankamen. Darin lag keinerlei Aggression oder Hass. Unsere Popkultur hatte eben genau diese Gestalt. […] Als Kinder hatten wir die ganze Kriegsmythologie zur Verfügung. Familiengeschichten und die Wirklichkeit der Polnischen Volksrepublik, um uns Späße auszudenken. Man muss sich nicht wundern, dass wir uns ein Konzentrationslager ausgedacht haben.“ Majchrowski 2011: S. 10.

6 Czapliński 2009: S. 21.

7 Feinstein, Stephen C.: „Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp: Iconoclasm in Conceptual Art About the Shoah.“ In: Other Voices 1/2000. Online verfügbar unter http://www.othervoices.org/2.1/feinstein/auschwitz.php.

8 Majchrowski 2011: S. 10.

9 Röger, Maren: „Zwischen nationaler Sinnstiftung, Mythendekonstruktion und Sprachlosigkeit: Geschichtsbilder im polnischen Spielfilm seit 1989.“ Erscheint in: Schamma Shahadat, Konrad Klejsa und Margarete Wach: Der polnische Film. Marburg 2012, 23 Seiten, hier S. 1. An dieser Stelle danke ich der Verfasserin für die Überlassung des Manuskripts.

10 Röger 2012: S. 1.

11 „Die nicht dargestellte Wirklichkeit oder über die Vergangenheit einer gewissen Täuschung.“

2. Zur Aufarbeitung des Holocaust in der polnischen Literatur. Ein literaturgeschichtlicher Überblick

Literarische Aufarbeitungen des Holocaust sind wahrscheinlich in keinem anderen Land derart präsent wie in Polen. Barbara Breysach behauptet gar, dass die polnische Literatur diejenige sei, die sich dem Thema am vielseitigsten und tiefgründigsten gewidmet habe.1 An dieser Stelle soll ein kurzer Überblick über die Phasen der Holocaustaufarbeitung vorgenommen werden, wobei der Fokus klar auf der Zeit nach 1989 liegt. Hierzu müssen allerdings folgende Tatsachen im Umgang mit diesem Thema berücksichtigt werden:

Jeder Versuch einer literaturgeschichtlichen Darstellung stellt durch die notwendige Auswahl der Werke eine Art Zerrbild dar und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Dem entgegenwirken zu wollen erweist sich im Falle der polnischen Holocaustliteratur als besonders schwierig, da hier lange Zeit aus zwei Opferperspektiven gesprochen wurde: Ohne an dieser Stelle bereits auf die Debatte um eine „Konkurrenz“ der Erinnerung polnischer und jüdischer Opfer näher eingehen zu wollen (vgl. hierzu Kapitel 5), sei bemerkt, dass in der Darstellung immer nur einer dieser Perspektiven eine Besonderheit in der polnischen Literatur besteht.2 Um diese These zu verifizieren, wurden daher Werke hinsichtlich interessanter Erzählperspektiven ausgewählt, um stilistische und narratologische Veränderungen nachzeichnen zu können. Ferner ist festzuhalten, dass (trotz aller Diskussionen um nationale Gedächtnisorte) der Holocaust eine persönliche und keine kollektive Erfahrung war.3 Das Individuum er- und überlebte dies allein, daher ist diese Literatur wie keine andere fragmentarisch, bruchstückhaft und in ihrer Form oft provisorisch und unvollkommen. Allein die schiere Masse an Werken, die dieses Thema zentral behandelt, vermag es dem Leser einen Eindruck von dieser Katastrophe zu vermitteln.4 Dass hierzu zunächst eine neue Sprache für den Umgang mit dem Trauma gefunden werden musste, diesen Zivilisationsbruch zu thematisieren, führt Leser wie Autoren zu einem neuen Problem: Wie sollte man schließlich künstlerischen Werken, die Ausdruck von Kultur sind, wieder vertrauen, wenn doch die Menschheit auf dem Höchststand von Bildung und Aufklärung derartiges zulassen konnte?

Um diese Fragen herum kristallisierten sich Positionen heraus, die unterschiedlicher nicht sein könnten: So konstatiert Berel Lang, dass nur in einer Chronik der Fakten eine Annäherung an das Geschehene erreicht werden könne,5 durch die man die Welt der Vergangenheit kennen lernen und zu verstehen beginnen könne. Dem gegenüber stehen Positionen, welche die Literatur nicht im Dienste der Historiographie sehen wollen, sondern auf die Unabhängigkeit und die Freiheit der Form des Kunstwerks verweisen, dessen spezifische ‚Wahrheit‘ auch zum Großteil aus dem Bild der Wirklichkeit besteht, das der Leser sicht selbst macht.6 Es scheint selbst keine Einigkeit darüber zu bestehen, ob Schweigen oder Reden der bessere Weg zur Aufarbeitung ist. Einerseits kann nur das, was in den Grenzen unserer Vorstellungen und Sprache verbalisiert wird, überhaupt erst verstanden werden.7 Andererseits sind manche Vertreter der Erlebnisgeneration, wie der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der Auffassung, dass der Holocaust umso unverständlicher würde, je mehr über ihn geredet werde.8

 

Neben dem Verweis auf diese Streitpunkte ästhetischer Natur ist an dieser Stelle auch eine Definition des Forschungsgegenstandes angemessen. Im Folgenden stütze ich mich auf die von Sascha Feuchert ausgearbeitete Beschreibung des Terminus Holocaustliteratur:

,Holocaustliteratur‘ bezeichnet somit – in einer nahezu tautologischen Formulierung – alle dominant literarischen Texte über den Holocaust. Zugrundegelegt wird hierbei zunächst ein weites Verständnis der Metapher ,Holocaust‘: Dieses umfaßt alle Aspekte der nationalsozialistischen ,Rassen‘- und Vernichtungspolitik gegen alle Opfergruppen. […] Weiterhin wird ein spezifisches Verständnis von ,literarisch‘ vorausgesetzt: Es bezeichnet hier Texte, die Geschehen auf typisch literarische Weise darstellen, indem sie z. B. Tropen benutzen, auf Archetypen zurückgreifen u.v.m. ,Typisch literarisch‘ bedeutet hier auch, daß dabei diese mit der Bezeichnung ,Holocaustliteratur‘ erfaßten Werke explizit keinem wissenschaftlichen Anspruch unterliegen, sondern jeweils – im weiteren Sinne – ,subjektabhängige‘ Interpretationen des Holocaust sind und keine wissenschaftlichen ,Metatexte‘. Zu diesen Texten können neben Tagebüchern und Chroniken, die zur Zeit des Geschehens entstanden, auch Memoiren und Erinnerungen, die nach den Ereignissen von Betroffenen verfaßt wurden, wie auch fiktionale Bearbeitungen (Romane, Gedichte, Dramen) gehören, die den Holocaust zentral behandeln. ,Fiktional‘ wird hier verstanden als Bezeichnung für den imaginären beziehungsweise erfundenen Charakter von (einzelnen) Personen und/oder Ereignissen und/oder Orten. Die Verbindung des Autors zum Geschehen, sein Status als unmittelbar Betroffener oder Unbetroffener von den Geschehnissen des Holocaust, spielt eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der einzelnen Texte, doch ist diese Verbindung kein exklusives Kriterium für die Zugehörigkeit seines Textes zur ,Holocaustliteratur‘.9

Diese Definition stellt eine Synthese der zuvor angesprochenen Problemstellungen dar. Daneben vermag sie es, das Forschungsgebiet nicht nur inhaltlich, sondern auch unter äußeren, formalen Gesichtspunkten klar zu benennen. Ferner verdeutlicht Feuchert noch einmal die Eigenständigkeit literarischer Geschichtsbetrachtung von der historiographischen. Entsprechend den hier besprochenen Werken prosaischer Gattung konzentriert sich die nachfolgende literaturgeschichtliche Betrachtung ebenfalls ausschließlich auf Prosawerke.

Als Hauptthema der polnischen Nachkriegsliteratur wurde die literarische Aufarbeitung des Holocaust aufgrund der veränderten politischen Realität in den 1970er Jahren eher marginalisiert, um dann Mitte der 1980er wieder in das Bewusstsein und das Interesse der Leserschaft zurückzukehren. Daher lautet die Einteilung in literaturgeschichtliche Phasen wie folgt: Zuerst wird die Zeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre bis zum Einsetzen der Entstalinisierung betrachtet. Der zweite Abschnitt erläutert die Beschäftigung mit dem Thema vor und nach dem März 1968. Als dritten Zeitraum werden die 1980er Jahre gewertet, da sich in dieser Zeit auch klare Umbrüche in der Darstellung erkennen lassen. Der letzte Punkt, der zugleich den Schwerpunkt der Darstellung ausmacht, beschreibt die Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.