Unterwegs nach Ochotsk

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Unterwegs nach Ochotsk
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Eleonore Frey

Unterwegs
nach Ochotsk

Engeler

Eleonore Frey

bei Urs Engeler

Eleonore Frey

Unterwegs nach Ochotsk

ICH VERLIERE MICH, sagt der Mann im Regenmantel. Niemand hat ihn nach seinem Befinden gefragt. Er leert sein Glas. Legt, was er schuldet, auf die Theke und geht. Einer, der an der Theke lehnt, fragt den, der hinter ihr steht und seine schwarze Schürze glatt streicht, ob er den Mann kenne? Er kommt jeden Tag, sagt der. Er trinkt ein Glas Wodka, sagt etwas oder auch nicht und geht weiter. Wohin? fragt eine noch junge Frau, die neben der Türe an einem Tisch sitzt und Zeitung liest. Das habe ich mich auch schon gefragt, sagt der mit der schwarzen Schürze. Und dann auch einmal, als er mir ungefragt anvertraute, dass er nicht trau­ rig sei oder vielleicht doch, ihn selber. Weiss nicht, sagte er da. Und ging. Hat er nichts zu tun? fragt der, der sich schon vorher bemüht hat, Ordnung zu schaffen in Verhältnissen, die seiner Ansicht nach dem ordentlichen Gang der Dinge zuwiderlaufen. Er ist unterwegs for the hell of it, sagt die noch junge Frau, die sich weniger für den Hüter der Ord­ nung interessiert, der sich jetzt an ihren Tisch setzt und sie ins Gespräch ziehen möchte, als für den andern, der, ohne sie auch nur anzuschauen, das Lokal verlassen hat und un­ schlüssig vor der Tür steht. Den Ausdruck for the hell of it hat sie in den USA gelernt; im Zug einer Erweiterung ihrer Welt, die nicht nur ins Unbegrenzte, sondern auch ins Unglück führte. Sich verlieren? fragt sie laut sich selber, und dass ihr die andern zuhören, ist ihr egal. Das ist wie denken oder wie Heimweh haben. Denken! Von wegen! sagt ihr Gegenüber, wie er jetzt ihre Zeitung beiseiteschiebt, um Platz zu machen für den Kaffee, den ihm der Kellner an den Tisch bringt. Mit dem Heimweh mögen Sie recht haben … Sie nimmt zur Kenntnis, was er gesagt hat, denkt nach und verliert sich. Ob sie dabei in sich geht oder ausser sich gerät, kann man ihr nicht ansehen. Sie ist in einem Film, der nur für sie gespielt wird. Der, der ihr gegenübersitzt, greift nach ihrer Zeitung und fängt an zu lesen. Sie zahlt und geht.

Der im Regenmantel bleibt einen Augenblick stehen vor der Bar, die er eben verlassen hat, schaut nach links und geht nach rechts. Dafür gibt es keinen Grund. Das Laub, das von den Bäumen fällt, geht mit dem Wind. Er geht, wo das mög­ lich ist, bergab. Wie das Wasser. Hier nimmt ihn kein Gefälle mit; auch nicht ein Strom von Passanten, die es alle in die gleiche Richtung zieht. Bleibt die Neigung, die ihn, weil ihm links ein beliebiger Umstand missfällt, nach rechts wendet. Geht er also nach rechts, wo er nicht hinwill. Da er nirgends hinwill, ist das egal. Es sei denn, Nirgends wäre ein Ort. Das fällt aber nicht ihm ein, der weitergeht, wie es kommt, sondern der noch jungen Frau, die bald nach ihm das Café verlassen hat und jetzt zur Arbeit geht. Sie heisst Sophie. Sie hilft in einer Buchhandlung aus. In deren Schaufens­ ter kann man ein Buch ausgestellt sehen, das seit Monaten Sensation macht. Der Verfasser nennt sich Mischa Perm. So heisst er nicht. Wer er ist, weiss nur der Verleger. Ob es der Titel ist, der die Leser lockt? Unterwegs nach Ochotsk: Wer will schon nach Ochotsk? Auf der Landkarte, die in blassen Farben auf den Umschlag des Buches gedruckt ist, und die das Gebiet von Wladiwostok bis zur Beringstrasse und vom Ural bis zum Pazifik zeigt, kann man den Ort nicht finden. Immerhin macht aber der Umschlag klar, dass Ochotsk in Sibirien liegt. Und da wollen alle hin. Fast alle. Solange min­ destens, als sie nicht müssen. Nach Sibirien for the hell of it: Es gibt von dort so viele Reportagen, Filme, Fotografi­ en, dass sich jede das Abenteuer aussuchen kann, das ihr gefällt. Zum Beispiel aus den Bildern, die eine Fotografin durch die trüben Fenster der transsibirischen Eisenbahn aufgenommen hat. Oder, ein ganz anderes, auf Grund der Reportage eines italienischen Journalisten, der sich nicht gescheut hat, gebückt, mit einer Lampe an der Stirn, die Zustände in einer sibirischen Kohlenmine zu erkunden. Wo viele von den Sträflingen gearbeitet haben, die dorthin ver­ schickt wurden; in den so oft beschriebenen und doch nach wie vor undenkbaren Gulag. Von ihm ist nicht die Rede in Unterwegs nach Ochotsk. Mit Ausnahme eines Hinweises auf Tschechows Bericht von der Insel Sachalin, der dem Autor, wie er sagt, zu seiner Reise den Anstoss gab. Auch die Hölle, mit der man so oft jene unsäglichen Zustände vergleicht, wird nicht ausdrücklich genannt. Nur da und dort inkogn­ ito ins Spiel gebracht in Ereignissen, die sich wie Lava auf die Erde ergossen zu haben scheinen: Zum Beispiel da ein Mann, der sich unter den Zug geworfen hat und jetzt zer­ stört neben dem Geleise liegt. Und dort ein Schwarm von Heringen, die, zerfetzt von der Schraube eines Motorboots, noch eine Weile als blutige Suppe auf den Wellen schwim­ men, bevor sie endlich untergehen in der allmählich wieder in ihr ursprüngliches Grau zurückfallenden See.

Irgendwo in diesem riesigen Gebiet finden die Ereignisse statt, die das Buch in Form von abrupt aus dem Zusammen­ hang herausgebrochenen Szenen aufscheinen und wieder verschwinden lässt, bevor sie sich in einen weiteren Zusam­ menhang haben einordnen lassen. Es sei denn, man sehe den Zusammenhang darin, dass sie alle von Unheimlich­ keit unterspült zu sein scheinen wie, und das wird einmal eingehend beschrieben, im Hinterland des ochotskischen Meers eine vulkanische Landschaft von einem brodelnden unterirdischen Gewässer. Warum sich ein Buch, das nichts anderes ist als eine zwischen zwei Buchdeckel gepresste Sammlung buntscheckiger Fragmente, so gut verkauft, ist Sophie ein Rätsel. Ist es vielleicht eine Sehnsucht nach Leere, die den Lesern das Buch empfiehlt? Solchen, die es in Gegenden zieht, in die noch kaum je jemand vorgedrun­ gen ist, und die darum auch noch nicht mit dem infiziert sind, was die Zivilisation unfehlbar zum Spriessen bringt, wo immer sie sich ins Recht setzt? Auf dem Umschlag des Buchs sind mit verschieden grossen roten Punkten die Orte bezeichnet, an denen sich Menschen niedergelassen haben. Die meisten, weil sie mussten, aus diesem oder jenem Grund. Die grossen Punkte liegen an der Linie der trans­ sibirischen Eisenbahn oder an einem der Flüsse, die sich träge durch die Ebene winden. Kleinere, wo sich irgend­ wo im Unwegsamen ein Flugplatz findet. Das ist meistens an Stellen, wo es etwas zu holen gibt. Fische zum Beispiel. Vor allem aber Uran oder Kohle oder Gold. Bei weitem das Eindrücklichste sind jedoch die riesigen Zwischenräume, in denen keine menschliche Präsenz markiert ist, obwohl da und dort durchaus kleinere Siedlungen anzutreffen wären. Wer möchte sich nicht in der Taiga eine Hütte bauen und ein Tschuktsche werden, wenn es ihm in seinem Alltag zu eng wird. Wenn nicht wirklich, was einige Unbequemlich­ keit mit sich brächte, dann in einem Buch.

Auch Sophie hat von Zeit zu Zeit ein dringendes Verlan­ gen nach einem Nirgendwo, das leer gefegt ist von allem, was sonst ein Leben möbliert und ausmacht. Nirgendwo: Nicht nur in einer allfälligen andern Welt kann sie das zu finden hoffen, sondern jederzeit da, wo sie gerade ist; wenn es ihr nämlich gelingt, für eine kleine Weile alles, was sie um sich hat, verdämmern zu lassen, bis es so gut wie nicht mehr da ist. Bis es gar nicht mehr da ist … Das heisst, dass du in Ohnmacht fällst, hat Jeff zu dieser ihrer Idee gesagt, als er noch ihr Mann war. Oder, aber davon wirst du nicht mehr erzählen können, dass du am Sterben bist … Nein, das heisst es nicht, hat Sophie damals gesagt. Sagt sie dem Vater ihrer Kinder noch einmal, wie sie nun in einsamem Zwiegespräch wieder dorthin zurückgekehrt ist, wo sie vor drei Jahren noch war. Davon, dass mir in meinem Nir­ gendwo schwarz vor Augen wird, kann keine Rede sein. Im Gegenteil, sagt sie ihm. Und schweigt. Denkt nach. Vor ihren Augen steht … Nein, kein Traum. Gestalten, Land­ schaften, Städte schweben ihr vor wie echt. Wirklich echt, korrigiert sie sich. Wenn auch nicht wirklich … Die Farben strahlen wie … Sie weiss nicht, wie sie das sagen soll. So durchsichtig wie die Kerne des Granatapfels, fällt ihr dann ein. Erst gestern hat sie einen geöffnet und den Kindern den im Unscheinbaren verborgenen Schatz gezeigt. Aber es muss nicht rot sein, überlegt sie weiter. Laut, obwohl Jeff, das kann man ihm ansehen, nicht zuhört, sagt sie dann: Kennst du das nicht? Dieses Theater in deinem Kopf? Dass du dann … Ich gehe fischen, unterbricht sie Jeff. Wohin? fragt Sophie. Warum nicht nach Alaska? Oder dann halt nach Fish’s Eddy. Expect me when you see me, sagt er, packt seine Ausrüstung in den Wagen und fährt los.

Robert ist mein Name, sagt der Verfasser von Unterwegs nach Ochotsk, wenn man ihn in seinem Privatleben danach fragt. Dass er der ist, der, wenn nicht den Ort Ochotsk, so doch die immer wieder ins Leere auslaufenden Umwege dorthin erfunden hat, fällt ihm nur ein, wenn die Tantie­ men kommen. Bald weniger, bald mehr. Immer mehr, als er braucht. Es hat sich kaum etwas geändert, seit er arm war. Seine kleine Wohnung geht auf einen Innenhof. Sie hat viel Licht und einen Ausblick auf Dächer und Himmel. Die Tauben auf dem Blechdach nebenan geben jeden Tag, mit gewissen Varianten, das gleiche Schauspiel. So ist es auch, in unregelmässigen Rhythmen, mit den Wolken, mit dem Rauch, der aus den zahlreichen Schornsteinen in den Him­ mel steigt. Es geschieht nichts, was noch nie da war. Auch der Geruch, der aus der Wohnung der Nachbarin dringt, ist, soweit sich Robert erinnert, in wechselnder Intensität immer derselbe. Einen Versuch, ihn in seine Komponenten zu zerlegen, will er lieber bleiben lassen. Wenn ihm die Frau auf der Treppe begegnet, schaut sie weg. Sie sucht ebenso wenig das Gespräch wie er. Sie ist ein Schatten. Ein Schatten allerdings, der immer noch einen Schatten wirft: Geduckt wie sie geht der je nach Lichteinfall vor oder hinter ihr her über die blaue Wand hinweg, wenn sie die Treppe hinauf- oder hinabsteigt. Wenn sie Robert, der rascher ist als sie, hinter sich hergehen hört, bleibt sie stehen und lässt ihm den Vortritt. Auf keinen Fall will sie ihm Einblick in ihre Wohnung geben. Worauf er ohnehin nicht erpicht ist. Als einmal die Tür etwas länger als sonst offen blieb, sah er dort aufgetürmt bis zur Decke ein ausgedientes Klavier, zwei leere Schubladen und einen zerbrochenen Stuhl. Fer­ ner, drunter und drüber, Kleider, schmutzige Wäsche, welke Blumensträusse, und als er so weit gekommen war mit sei­ nem Inventar, war die Tür zu. Wie er sie, die, wie er von der Nachbarin im oberen Stock erfahren hat, Theres heisst, das nächste Mal sieht, fragt er: Wie geht’s? Sie versucht ein Ge­ sicht zu machen, ihm ins Gesicht zu blicken. Das bringt sie nicht zustande. Sie tippt sich mit zwei Fingern an die Stirn. Mehrmals. Er sagt: Das kenne ich. Verabschiedet sich. Geht in seine Wohnung. Sie in ihre. Auf dem Sofa ist neben der Katze, die dort schläft, und dem Telefon, das mit abgenom­ menem Hörer halb neben, halb auf ihr drauf liegt, knapp genug Raum für sie selber. Sie setzt sich. Die Katze wacht auf und will fressen. Theres steht auf. Die Katze eilt ihr vo­ raus in die Küche. Dort steht der Fressnapf. Er ist leer. Sein Rand ist schmutzig, verkrustet. Theres füllt ihn mit Milch. Robert schaut zum Fenster hinaus. Es regnet. Im Haus ge­ genüber sind die Vorhänge zu. Beim obersten Fenster sind sie rot. Dahinter brennt am hellen Tag ein Licht. Bei dem darunter – ohne Licht – sind die Vorhänge blau.

 

Mit Nirgendwo meint Sophie auch und vor allem den Ort, an dem sie ist, wenn sie liest. Wo sich dort, wo eben noch ein Zimmer war, ein Raum auftut für alles, was sich mit Buch­ staben nennen, verfluchen oder verneinen lässt: So zum Beispiel in Unterwegs nach Ochotsk eine Welt, die nicht nur Mischa Perms Sibirien ist, sondern auch das, was Sophie aus ihren eigenen Einöden entgegenkommt. Beinahe leib­haftig. Wort für Wort. Sie sitzt in der Buchhandlung. Über das Sibirienbuch gebeugt. Hört nichts. Sieht nichts. Bis sich einer vor sie hinstellt und fragt: Wo ist Ochotsk? Es ist der, mit dem sie im Café nicht ins Gespräch kommen wollte. Seither hat sie ihn dort noch ein paar Mal angetroffen und erfahren, dass er Otto heisst. Und dass er Arzt ist. Hat er sie also aufgespürt. Sie klappt das Buch zu: Hier, sagt sie und zeigt ihm auf der dem Umschlag aufgedruckten Landkarte ein vom Pazifik durch die Halbinsel Kamtschatka und die durchbrochene Kette der Kurilen abgetrenntes Randmeer. Das ist das Ochotskische Meer. Der Ort selber ist nicht an­ gegeben. Der nächste rote Punkt ist Magadan. Dort war doch, was man das Tor zur Hölle nannte, sagt Otto. Der Gulag … Ja, sagt sie. Dort sind die gelandet, die nach Koly­ ma kamen. Oder in ein anderes der Straflager, die dort … Sagt sie. Bricht ab. Aber im Buch steht davon nichts, fährt sie weiter. Nur dass Magadan mit ungefähr hunderttausend Einwohnern für die in Ochotsk der nächste grössere Ort ist … Nun, wenn vom Gulag nichts drin steht, was dann? fragt Otto. Lesen Sie selber, sagt sie. Er blättert drin herum. Fin­ det vor allem Natur. Aber auf dem Papier zählt die nicht. Dann schon lieber hinfahren und selber sehen, riechen, was dort wächst, sagt er und geht. Zuhause findet er her­ aus, dass die in Ochotsk jetzt Ende November eine Durch­ schnittstemperatur von -14 Grad haben. Ferner, dass es von dort keinen Landweg zum übrigen Russland gibt und dass das Meer monatelang zugefroren und für alles ausser einem regelrechten Eisbrecher unpassierbar ist. Vom Charme des alten Russlands ist ferner die Rede und dass der Ort mit seinen ungefähr viertausend Einwohnern um 1647 von Kosaken gegründet wurde. Dass auf einem kleinen Flug­ hafen in der Nähe im Sommer Flugzeuge landen, die aus aller Welt Lachsfischer dorthin bringen, ist ausserdem noch zu erfahren. Auch von Bären ist die Rede. Das ist nichts für mich, sagt sich Otto und geht schlafen. Mitten in der Nacht wacht er auf und sagt: Ich will nach Ochotsk. Das hat Zeit bis morgen, sagt er sich dann und bleibt wach, bis der Tag anfängt. Beschäftigt mit dem Reiseziel Ochotsk.

Umgetrieben von der Idee Ochotsk geht Otto am nächs­ ten Tag von neuem in die Buchhandlung und blättert im Buch, von dem er gestern noch nichts wissen wollte, und jetzt ist es mit einem Mal zum dringenden Anliegen ge­ worden. Rückwärts, dann wieder vorwärts, wobei er dieses und jenes findet. Laut liest er vor, woran er aneckt. Und noch lieber das, was ihm, wie die folgende Passage, gefällt: Links und rechts öffnet sich ein Ausblick, der blosslegt, dass Ochotsk (…) keine Ortschaft ist, sondern kaum mehr als ein schon bald ins offene Gelände auslaufendes Netz aus wenigen, wenig belebten Strassen. Auf der Kreuzung schläft ein Hund … Hunde haben es dort vielleicht ganz gut, ist sein Kommentar. Und dann noch: Ochotsk liegt in der Land­ schaft, als wäre es ein ausgefranster Teppich, vom Himmel gefallen. Was ist, wo der Teppich aufhört? will er wissen. Ein Stück weit gehen wohl die Strassen weiter, als Spuren durch den Sumpf, schlägt Sophie vor. Wohin denn? fragt er. In den Wald, sagt sie. Die Holzfäller … Richtig, es gibt dort Birken, Lärchen, Zedern, sagt er. Woher er das wisse, will Sophie wissen. Aus einem Film, sagt er. Wunderbare Wälder gab es da … Mit Bären drin? fragt Alex, der eben hereingekommen war, um seiner Mutter das Taschengeld abzuluchsen, das sie ihm zwar erst morgen schuldig ist, aber da er schon seit vorgestern mit seinem Cash am Ende ist … Ja, sagt Otto. Da war einer, den hatten die Jäger eben erlegt. Er hing mit zusammengebundenen Füssen an einem jungen Baum, den zwei Männer auf den Schultern trugen … Alex schweigt eine Weile und sagt dann: Ist das auch wirklich wahr? Weiss nicht, sagt Otto. Bei einem Film weiss man nie, sagt er und blättert weiter. Schade, dass hier keine Bilder drin sind, sagt er dann. Kein Wunder, wo es dort so neblig ist, sagt Sophie und öffnet das Buch, wie es sich gibt: Es kommt ein Nebel auf, steht auf Seite 37, sagt sie. Die Ufer des Flusses verschwinden im Grau. Vom Himmel ist nichts mehr zu sehen. Neben dem Boot taucht der Kopf einer Robbe aus dem Wasser auf. Ein zweiter, ein dritter. Ein Boot mit zwei Männern drin ist mit einem Mal zum Erschrecken nah und auch schon wieder weg. Und dann ist nichts mehr da als die Fremden, die durchgerüttelt vom harten Seegang eng zusammengedrängt durch die Wellen taumeln … Wer sind die Fremden? fragt Alex. Wenn man das wüsste, wären sie nicht fremd, sagt Otto. Finden sie je wieder aus dem Nebel heraus? fragt Alex weiter. Weiss nicht. Der Text bricht hier ab, sagt Sophie. Ein Riss im Teppich, sagt Otto. Man müsste über ihn hinwegfliegen, das Muster sehen können. Die Far­ ben der Taiga, der Seen; die Linien der Flüsse … Ich muss gehen, sagt Alex. Sophie gibt ihm das Geld. Otto kauft das Buch. Wann soll er es bloss lesen? Er hat keine Zeit. Er ist Arzt. Man schreit nach ihm, beschimpft ihn, wenn er keine Wunder tut: Gestern das Kind, das überfahren wurde, und als man es endlich zu ihm brachte, war es zu spät … Nichts wie weg, sagt er, wobei er nicht die Buchhandlung im Sinn hat, sondern alles. Warum nicht nach Ochotsk.

Wie Sophie wieder allein ist, liest sie weiter. Blickt auf, blickt ins Leere und wundert sich darüber, dass Otto das Buch gekauft hat, wo er doch bis anhin für nichts einen Sinn zu haben schien als für das, was offensichtlich einen Sinn hat und einen Zweck … Dass er es ihretwegen getan haben könnte, geht ihr durch den Kopf. Dass er wieder­ kommen würde, um über das Buch zu sprechen; um ihr zu sagen, dass es ihm gefalle oder missfalle und was daran nicht richtig sei oder vielleicht doch … Du bist nicht fertig mit deiner Arbeit. Nicht einmal angefangen hast du, sagt ihr Chef und Onkel und mustert die Bücherregale, die rundum an den Wänden stehen. Er ist durch den Hinter­ eingang hereingekommen, lautlos. Sie lässt das Buch fallen. Dreht sich um. Was sie hätte tun sollen und noch nicht ein­ mal angefangen hat, ist Folgendes: Ordnung ins Chaos und damit auch gleich wieder Chaos in die Ordnung bringen. Genauer: In der alphabetischen Reihenfolge der Bücher die Bücher so umstellen, dass sie wieder dort stehen, wo sie hingehören, und dass bei jedem Buchstaben wieder ein paar Bücher Platz haben, falls neue dazu kommen sollten. Unter P zum Beispiel ein neues von Mischa Perm … Nach P wie Puschkin kommt gleich R. Ohne Zwischenraum. Einen Autor, dessen Namen mit Q anfängt, gibt es nicht. Oder doch? Richtig, Queneaus Heiliger Bimbam ist nach hinten gerutscht. Ein seltsamer Heiliger. Wenn sie nicht den Chef und Onkel im Rücken hätte, würde Sophie gleich zu lesen anfangen. So ordnet sie halt die Bücher, wie er es haben will. Er hat sich inzwischen gebückt, das Buch auf­ gehoben und dort, wo Sophie aufgehört hat, in Unterwegs nach Ochotsk zu lesen angefangen. Dass der Verfasser ver­ loren gegangen ist, ist Gold wert, sagt er. Wer würde sonst lesen wollen: Nebel. Langsame Wellen gehen unter dem Schiff hinweg. Die Luft ist feucht. In Schwaden kommt sie entgegen, streicht sie vorbei … Oder doch? fragt er sich laut. Sieht vor sich, als Schattenriss im Nebel, eine Gestalt, die langsam näher kommt, kenntlich wird. Ich habe nicht gewusst, dass Olga nach Sibirien zurückgekehrt ist, sagt er vor sich hin. Schliesst die Augen, damit sie, die er gern zur Frau gehabt hätte, nicht geblendet wird vom Licht dieser andern Welt … Wenn du fertig bist, kannst du den Laden zumachen, sagt er zu Sophie. Klemmt das Buch unter den Arm und geht.

Wo sie nur so lang bleibt? fragt Alex, der mit seiner Zwil­ lingsschwester Alice am Tisch sitzt und Schulaufgaben ma­ chen sollte. In der Buchhandlung, sagt Alice. Oder in der Bar, sagt Alex. Dort kennt sie einen. Und dann: Sie war viel grösser als die in Chicago. Was meinst du? fragt Alice. Die Ratte, was sonst; die auf dem Heimweg. Hast du sie schon vergessen? Grösser nicht, aber dicker, sagt Alice. Die Bur­ schen, die mit den Stiefeln, traten sie mit Füssen, sagt Alex und ist froh, dass er noch kein solcher Bursche ist. Ihm ge­ fallen die Ratten. Als sie noch in Chicago wohnten, hatten sie eine, die gelegentlich durch ein Loch im Küchenboden zu Besuch kam. Fast zahm war die. Alice, überzeugt, dass die Ratte ein Er war, hatte sie auf den Namen Fitzwilliam getauft, während Sophie das Tier ein Mistvieh nannte. Sie frass, was sie fand. Wenn sie Jeff vor die Füsse kam, gab er ihr einen Tritt. Wie die Burschen in den Stiefeln. Wobei er aber meistens in Socken war. Das tat Fitzwilliam nicht weh. Wenn er ihn nur einmal beissen würde, sagte Sophie, als Jeff, verärgert über das Tier und überhaupt, zur Küchen­ tür hinausstürzte und bis spät in die Nacht hinein nicht mehr zurückkam. Das geschah aber nie. Fitzwilliam zog es vor, sich zu verziehen, wenn er sich unerwünscht fühlte. Als Sophie Jeff verliess und mit Alex und Alice dorthin zu­ rückkehrte, wo sie hergekommen war, blieb die Ratte bei Jeff, der sich, einsam, wie er nun eine Zeit lang war, alsbald an das Tier anschloss und ihm jeden Tag Futter hinstellte. Das hatte er den Kindern einmal geschrieben. Er schrieb nur, wenn es etwas zu erzählen gab. Die letzte Botschaft war, dass er im nächsten Sommer wirklich nach Alaska fah­ ren würde. Auf Lachsfang. Wenn ich grösser wäre, würde er mich mitnehmen, sagt Alex, wie er nun mit seiner Schwester die Vor- und Nachteile des früheren Lebens verhandelt. Sophie würde dich nicht gehen lassen, sagt Alice. Die hat da gar nichts zu sagen, sagt Alex und möchte, sie wären in Chicago geblieben. Ohne die Mutter? fragt Alice. Das dann lieber doch nicht. Wenn Sophie nur endlich käme, sagt Alex. Ich habe Hunger. Koch dir doch was, sagt Alice. Keine Lust, sagt Alex. Dann halt nicht, sagt Alice. Ich habe Hunger, sagt Alex, schiebt die Schulsachen weg und holt ein Stück Käse aus dem Kühlschrank. Ein paar Äpfel sind auch noch da. Leider kein Brot. Wo sie nur so lang bleibt? fragt Alex. Alice gibt keine Antwort. Und sagt dann: Hast du die Frau gesehen, die mit einer Falle in der Hand der Ratte nachlief? Hör auf mit den Ratten, sagt Alex. Es reicht.

Robert steht am Fenster. Hinter dem blauen Vorhang brennt ein Licht. Er ist nur halb zugezogen. Durch die Lücke zwischen Blau und Blau kann Robert die Personen, die sich hinter dem Vorhang als Schattenbilder zeigen, leib­ haftig vor sich sehen: die farbigen Kleider, die Gebärden, die Haare, die Haut. Es sind Afrikaner. Die Fenster drüben sind ebenso undicht wie seine eigenen, so dass er nur allzu gut, aber heute gefällt es ihm, ihre Musik hören kann. Die bringt ihn weit weg von hier. Nicht nach Afrika, wo sie her­ kommt. Sondern durch den Vorhang hindurch ins Blaue. In ein Land, in dem er einmal ein paar Monate lang war. So sieht er sich jetzt, gespiegelt in einer trüben Scheibe, wie er in der transsibirischen Eisenbahn am Fenster stand und ein Gewässer, eine Bergkette und einen bewölkten Him­ mel, eins über das andere geschichtet, an sich vorüberzie­ hen sah; alles in Blautönen, und auf dem Wasser konnte man die Schatten der Wolken ausmachen. Er sieht sich, aber damals war er ein anderer, wie er am Fenster steht und dieses blau in blau gestreifte Muster fotografiert. Weil es ihm etwas sagt, dem er dann zuhause nachgehen will. Wie auch das Bild, das in seiner Küche hängt und, wenn auch nur in Sachen Blau, dem andern ähnlich sieht: Links und rechts vom Bildrand abgeschnitten kann man zwei Zelte sehen. Dazwischen grün die Steppe, grau den Himmel und im Vordergrund, auf trockenem Sand, eine blaue Bank. Leer. Gleich daneben, auf dem Boden liegend, drei Bretter in einem helleren Blau, jedes anders als das andere. Und ferner, im Hintergrund, einer über den andern geworfen, zwei Baumstämme, noch nicht entrindet: Er weiss, dass diese seltsame Örtlichkeit eine Bedeutung hatte für ihn.

 

Und dass er die Sprache jener Blautöne verlernt, dass er damit das Bild verloren hat, auch wenn es nach wie vor in seiner Küche hängt und gelegentlich einen der seltenen Besucher dazu bringt zu sagen: Wie schön das ist. Oder: Wo war das nur? Da möchte ich auch einmal hin … Als ob nicht längst die Zelte abgebrochen, das Holz verheizt, die Bank gestohlen und die Bretter an einen Gartenzaun gena­ gelt worden wären. Oder auch alles weggeblasen von einem Sturm, der keine Ruhe gab, bis alles weggefegt war, was in dieser entlegenen Gegend die Erde bewohnbar machte. Bis nichts mehr da war als Trümmer, die in den Himmel flogen und dann wieder herabfielen. Irgendwo. Eine Staubwolke, die sich langsam lichtete. Weit weg.

Ich verliere mich, sagt er vor sich hin. Was er oft sagt, aber bisher hat er sich noch nicht ein für alle Mal verloren, hat er sich immer noch im Griff gehabt, irgendwie. So wie er sich auch jetzt immer noch daran halten kann, dass er in seiner Wohnung am Fenster steht. Dass er, wie er es jeden Abend tut, seine Nachbarn beobachtet: Wie der Vater den Sohn hochhebt, hoch über seinen Kopf, kann er sehen. Was nicht an jedem Abend zu sehen ist. Und dass der Sohn den Kopf an der Lampe anschlägt und lacht, sieht er jetzt, während die Lampe ins Taumeln gerät, die Schatten an den Wän­ den in Aufruhr geraten, die Mutter schreit und das kleinste Kind, von dem Robert nicht weiss, ob es ein Bub oder ein Mädchen ist, will auch; irgendetwas will es auch, wenn es nur wüsste, wenn er nur wüsste, was. Wenn er nur wüsste überhaupt: Zum Beispiel, ob das Haus, in das er hinüber­ blickt, tatsächlich dort drüben steht, beinahe in Reichweite.

Oder ob es so ist, dass ihm träumt, wie er früher einmal aus dem Fenster blickte. Wie er irgendwo, irgendwann aus dem Fenster blickte. Als ob er kaum je etwas anderes täte oder getan hätte, als aus dem Fenster blicken; vielleicht in Paris oder in New York, wo es zwar keine solchen Häuser und auch keine solchen Fenster gab. Aber doch Häuser und Fenster. Und hinter den Fenstern, ähnlich wie hier, eine Fa­ milie; beim Abendessen … In Brooklyn oder wer weiss wo, sagt er vor sich hin und ist froh, dass in diesem Augenblick jemand an seiner Tür klingelt und ihn aus seinem Dahin­ dämmern aufschreckt. Dass es die Nachbarin ist, die vor ihm steht, eine Mausefalle in der Hand, nimmt er gern in Kauf, wenn sie ihm nur bestätigt, dass er noch er ist. Dass er auf seinen Füssen steht. Sie ist kaputt, sagt sie. Ich habe die Ratte nicht fangen können. Ich muss die Ratte fangen. Haben Sie Ratten in der Wohnung? fragt er, einigermassen bestürzt über die Nähe der Bedrohung. Die aber auch ihren Reiz hat. Ja, auch, sagt sie. Aber die Ratten sind überall. Nicht nur bei mir. Zeigen Sie her, sagt er und untersucht die Mausefalle. Es ist kalt hier draussen, wollen Sie nicht her­ einkommen? Mit einer einladenden Handbewegung sagt er das, wenn auch ungern. Sie aber: Ich kann nicht, sagt sie. Ich habe keine Zeit. Ich muss … sagt sie. Und schon ist sie weg, durch den Türspalt in ihre Wohnung geschlüpft. Wo sie, noch bevor sie die Tür zuschlägt, über etwas stolpert, etwas umwirft, während er dasteht, die Mausefalle in der Hand, und schliesslich, denn es ist kalt hier draussen, seit Jahren fehlt hier eine Fensterscheibe, sich in seine Wohnung zurückzieht, die Mausefalle aufs Fenstersims stellt und von neuem hinausschaut.

Das Schauspiel drüben ist zu Ende. Der Vorhang ist zu. Das Licht gelöscht, so wie es meistens war, als noch der alte Mann dort wohnte. Der noch dort wohnte, als er längst tot war, und niemand hatte ihn vermisst. Auch er nicht, wirft sich Robert vor; gegen alle Vernunft, wo doch das Haus ge­ genüber einen andern Ausgang hat, an einer anderen Strasse liegt. Wie hätte er dem alten Mann da je begegnen können, wie ihn nach seinem Befinden fragen? Wie hätte er sich um ihn kümmern sollen, wo ja ohnehin der alte Mann kaum je ans Fenster kam; ausser wenn gegen Abend die Sonne in sein Zimmer schien. In der Hoffnung, dort zur Ruhe zu kommen, setzt sich Robert in seinen Sessel. Steht noch einmal auf, um die Mausefalle zu holen, die, wie er gleich bemerkt, völlig intakt ist. Was die nur will, sagt er, womit er die Nachbarin meint. Was nicht als Frage gemeint ist, denn was soll die schon wollen, wo sie nichts zu wollen hat, nie etwas zu wollen hatte, immer nur ein Schatten war. So kommt er nicht zur Ruhe. Er gibt auf, nimmt seinen Regen­ mantel, geht scharf um die Ecke an der Türe der Nachbarin vorbei und die Treppe hinab, drei Stockwerke sind das bis unten, und dann vorbei an den Abfalleimern, die wieder einmal nicht geleert worden sind; die überquellen, nach Fisch stinken, nach noch Schlimmerem. Kein Wunder, dass wir hier Ratten haben, sagt er und sieht auch schon eine, die aufgeschreckt im Zickzack schräg über den Hof läuft. Und: Sehen Sie! schreit da die Nachbarin durchs offene Fenster hinab. Dort, die Ratte! Das ist ein Zeichen! schreit sie, zieht das Fenster zu und schaut, aber das ahnt er mehr, als dass er es sieht, durch die Lücke zwischen den Vorhän­ gen zu ihm herab. Ein Zeichen wofür? hätte er gern gefragt.

Dass die Pest im Anzug ist, dass die Welt untergeht oder noch schlimmer? So schnell er kann, läuft er dem Gedanken an das noch Schlimmere davon und geht den Weg, den er immer geht: Durch ein paar enge Strassen zum Fluss hinab und von dort zur nächsten Brücke; flussabwärts, denn das ist die Richtung, in der es ihn zieht. Ob er wohl unbeschadet hinüberkommt? Ob er wohl diesmal noch weiter … Ob er hinabgezogen wird ins Wasser, das nach all dem Regen in den letzten Tagen schmutzig und sehr rasch unter den Brü­ ckenbogen hindurchfliesst, Äste, ganze Baumstämme mit sich führt? Nicht dass er einen besonderen Grund hätte, sich umzubringen. Genau wie er auch keinen besonderen Grund hat, am Leben zu bleiben. Aber es ist da doch immer dieser Drang, und da bleibt er auch schon stehen, hält sich am Geländer fest, lehnt sich weit hinaus, blickt hinab und weiss: Heute nicht. Und wohl überhaupt nicht, wo, wie er gestern in der Zeitung las, der Weltuntergang bald kommt und ihm und allen seinesgleichen die Mühe, sich aus der Welt zu befördern, abnimmt. Aus Langeweile versucht er, sich den Weltuntergang vorzustellen; anders, als es in der Zei­ tung stand, auf seine Art: Dass der sich ereignen könnte als ein Loch im Boden, kommt ihm in den Sinn. Gerade hier, jetzt. Dass in dieses Loch er selbst, die Brücke, der Fluss, die Stadt, der Himmel hinabgesogen würde … Von einem Augenblick zum andern, und wie soll da einer noch den nächsten Schritt tun wollen, wenn er überall und jederzeit nichts anderes zu erwarten hat als einen solchen Abgang.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?