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Zerrissen

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Elena Eckert

Zerrissen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zerrissen

Nachwort

Impressum

Zerrissen

Die bunten Lichter vor meinen Augen sind schön. Sie beruhigen mich, hinterlassen in mir ein sehr angenehmes Gefühl. Das Kribbeln in meinen Gliedern kann ich dadurch endlich ignorieren. Zwischenzeitlich habe ich das Gefühl, auf meinen geschundenen Körper hinab zu sehen – wie er da so in der Wildnis liegt. Mitten im Nirgendwo. Allein gelassen von dem Menschen, der mich zerstört hat. Kenne ich noch seinen Namen? Nein. Hab ich ihn überhaupt je gekannt? Ich glaube nicht.

Meine Lippen verziehen sich zu einem traurigen Lächeln, weil ich begreife, was geschehen ist. Weil ich begreife, was weiter passieren wird. Ich werde nicht reden können. Man wird mir Fragen stellen, nachhaken, möglicherweise auch geschockt nach meinen Eltern fragen. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob ich nicht schon längst von zu Hause ausgezogen bin. Meine Erinnerungen sind lückenhaft. Immer wieder tauchen die Bilder auf. Ich höre meine eigenen Schreie in den Ohren, presse dann die Hände fest darauf, in der Hoffnung, dass ich es so ausblenden kann. Meistens wird es nur schlimmer und ich rolle mich zusammen und versuche zu schlafen.

Wie lange liege ich hier schon? Wenn ich mich Eins mit meinem Körper fühle, merke ich, dass meine Glieder taub sind, meine Lippen blau und ein stetiges Zittern von meinem Körper Besitz ergriffen hat.

Wenn ich die Augen öffne, verursacht das helle Licht Schmerzen, die sich in meinem Kopf festsetzen.

Was hat mir der Kerl verabreicht? Es scheint etwas zu sein, das mein Gehirn manipuliert. Meine Gedanken rasen viel zu schnell von einem zum nächsten Thema. Ich habe das Gefühl, als wäre ich mit 200 km/h auf der Straße unterwegs. Die Bäume um mich herum verschwimmen zu einem Farbenmeer, nur der zentrale Punkt vor meinen Augen bleibt stetig scharf. Der zentrale Punkt ist ER!

Ich kann ihn nur als Silhouette wahrnehmen, als wären wir die ganze Zeit im Dunkeln gewesen. Wie lange hatte er mich in seiner Gewalt? Seit wann liege ich hier? Oder hat er mich hier gepackt? Mitten in der Nacht? Warum war ich überhaupt hier unterwegs? Kann es sein, dass ich geflohen bin? Vor ihm?

So viele Fragen, deren Antworten ich mir selbst schuldig bleibe. Ein Gedanke flammt auf und ich versuche danach zu greifen, einen Moment berühren meine Finger den Lichtschein, bevor er mir entgleitet. Woran ich auch immer gedacht habe, es ist mir entfallen.

Meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt. Ich möchte schreien, weil mir mit einem Mal wieder alles weh tut. Mein Unterleib brüllt förmlich vor Schmerz. Ich unterdrücke die Tränen, bevor ich eine Stimme höre. Alles verkrampft sich in mir. Diese Stimme …

Tief, beinahe beruhigend, aber davon hab ich mich schon einmal täuschen lassen. Eine Hand berührt mich an der Schulter, ich zucke zurück und möchte ihn schlagen, möchte ihn zwingen, mich sofort loszulassen.

Das tut er dann auch, ohne dass ich etwas sagen muss. Ich hätte vermutlich sowieso keinen Laut hervor gebracht.

„Hallo? Hören Sie mich?“

Was will er denn jetzt? Glaubt er wirklich, er kann jetzt so tun, als hätte er mich hier aus heiterem Himmel mit zerrissenen Klamotten im Dickicht gefunden, um dann den Helden spielen zu können?

Oh nein … nur über meine Leiche.

Bei dem Gedanken daran, dass mein Peiniger am Ende als Held da stehen könnte, werde ich so wütend und straffe innerlich meine Schultern.

„Lass …“, stammele ich hervor und schäme mich in Grund und Boden.

Ich klinge wie ein kleines Mäuschen! Dabei möchte ich Stärke beweisen, zeigen, dass er mich nicht gebrochen hat. Aber meine Stimme versagt jedes Mal, wenn ich von Neuem ansetzen will. Verflucht noch mal, was soll das jetzt?

Ich merke, wie ich anfange zu weinen und höre dann aus einer gewissen Entfernung, wie der Mann telefoniert. Mit der Notrufzentrale? Das wäre die vernünftigste Erklärung. Ich hoffe einfach, dass ich meine Stimme wieder im Griff habe, wenn jemand dazu kommt.

Wo bin ich eigentlich genau?

Erneut versuche ich meine Augen zu öffnen, vorsichtig, damit ich nicht wieder geblendet werde und mein Kopf zu zerspringen droht. Ich liege mit dem Rücken in einem Gebüsch. Meine Beine sind zerkratzt von den Ästen, meine Arme geziert von blauen Flecken und ich kann sehen, dass meine intimsten Stellen freigelegt sind. Ich möchte einen Arm um meine Brüste schlingen, aber er ist steif vor Kälte. Bewegungslos.

Aber den Kopf – den kann ich noch bewegen. Ich drehe ihn zur Seite und starre den Mann aus meinen blauen Augen heraus an. Dabei versuche ich die aufkeimenden Erinnerungen zu verdrängen, die tief in meiner Seele schmerzen.

Sein Stöhnen hallt in meinem Kopf wider und ich presse die Zähne fest aufeinander. Ich zittere. Ist es Angst?

Meine eigenen Empfindungen sind mir so fremd. Wie kann man verstehen, was passiert ist, wenn man sich nur an die schlimmsten Momente erinnert, aber nicht, wie es dazu kam – wo man hingehört und welches Leben man sonst genießt? Vielleicht ist es aber auch ein Segen? Ich kann mich an keinen Freund erinnern, der sonst an meiner Seite ist und dessen Berührungen ich vielleicht nicht mehr ertragen würde. Es gibt keine Familienmitglieder, die mich mit sorgenvollen Blicken ansehen können. So bleibt mir das Leid anderer zumindest erspart. Es reicht, dass ich selbst an nichts anderes mehr denken kann.

Ich erinnere mich an die Blicke, die er mir zuwarf, während er mich vergewaltigte. Diese Gier, die seine Augen funkeln ließ. Immer wieder höre ich das Echo: „Du bist so schön.“

„Du fühlst dich gut an.“

Mir kommt ein Schrei über die Lippen. Ich zucke unter den Berührungen zusammen, keuche heftig vor Schmerz, weil ich das Gefühl habe, das er jetzt gerade wieder über mir liegt. Ängstlich beiße ich auf meiner Lippe herum, bemerke erst im letzten Augenblick, dass der Kerl neben mir auf die Knie gegangen ist.

„Ganz ruhig.“, sagt er.

In meinem Kopf setzt sich ‚… ich bin ganz vorsichtig …‘ hinzu. Ich schreie noch einmal und schlage nach ihm, habe nun tatsächlich die Kraft dazu, meine schmerzenden Arme zu bewegen. Ich hole aus, aber er reagiert zu schnell und blockt den Schlag ab. Auch den zweiten Versuch wehrt er ab. Beim dritten Mal geht der Schlag ins Leere.

Er ist aufgestanden und weicht zurück. Langsam hebt er die Arme, ich durchbohre ihn mit meinem finsteren Blick. Dass ich in Wirklichkeit wie ein ängstliches Reh aussehe, ahne ich bereits im selben Augenblick. Meine Panik kann ich nicht ausreichend unterdrücken.

Ich flehe. Ohne es wirklich zu wollen.

„Geh …“

Ich will das nicht. Er soll bleiben und bestraft werden für all die Grausamkeiten!

Heftig beginne ich zu würgen und wende mich zur Seite ab, übergebe mich geräuschvoll und beobachte danach, wie die helle Flüssigkeit langsam in den Erdboden sickert. Meine letzte Mahlzeit muss schon eine ganze Weile her sein, denn ich sehe nur die Magensäure, aber keine halbverdauten Essensreste.